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Magazin Mitbestimmung

Irland: „Die irische Mittelschicht trifft es am schlimmsten“

Ausgabe 09/2012

James Wickham über den Sturz des marktliberalen Vorzeigemodelles und warum trotz Milliarden Steuergelder zur Bankenstützung kein Umdenken erfolgt.

Anders als die Wähler in den europäischen Ländern, in denen die Regierung den Sparkurs der Troika durchsetzt, haben die Iren ihre Regierung bei den Wahlen bisher nicht abgestraft. Was ist los in Irland?
Verglichen mit der Armut, die sie von früher kennen, sind die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen in der Wahrnehmung der Iren noch auf einem relativ hohen Niveau – trotz der Kürzungen beim Arbeitslosengeld und der Sozialhilfe. So haben die Iren den Rettungsschirm mit seinen Sparauflagen im Großen und Ganzen akzeptiert, wenn auch nicht gerade fröhlich. Allerdings mit deutlichen Klassenunterschieden: Beim Referendum über den Fiskalpakt stimmte die Mehrheit in den Arbeitervierteln mit Nein, die Mittelschichten stimmten mit Ja. Die Finanzhilfen der EU werden bei den Arbeitern und ärmeren Iren also sehr wohl mit Kürzungen im Staatssektor assoziiert.

Welche Folgen hat die Sparpolitik für die Bürger?
Nicht die Unternehmen, sondern die Bürger werden zur Kasse gebeten. Die Steuererhöhungen, gepaart mit den Lohnsenkungen im öffentlichen Dienst, bedeuten eine Nettosenkung von bis zu 25 Prozent seit 2009. Die Gutverdiener im öffentlichen Dienst sind davon am stärksten betroffen. Man hat sogar eine neue „Rentenabgabe“ erhoben, die selbst Beschäftigte mit befristeten Verträgen abführen müssen, die niemals Anspruch auf irgendeine Rente für Staatsbeschäftigte haben werden. Und der Abbau von Stellen im öffentlichen Dienst trifft vornehmlich Frauen, die im Bildungs- und Gesundheitsbereich arbeiten.

Welche Bevölkerungsschichten leiden am meisten unter der Krise?
Mein Eindruck ist, dass Teile der neuen Mittelschicht die Krise am schlimmsten erlebt haben. Die wichtigste irische Wohltätigkeitsorganisation, St. Vincent de Paul, berichtet von einem drastischen Anstieg von Hilfsgesuchen von Familien aus der Mittelklasse. Am härtesten hat es diejenigen getroffen, die vor 2008 Häuser zu 100 Prozent mit Hypotheken gekauft haben. Der Wert der Immobilien ist seit Ausbruch der Krise durchschnittlich um rund 40 Prozent gesunken. Besonders schlimm ist die Situation für Leute, die Immobilien gekauft hatten, die noch nicht fertiggestellt waren. Sie müssen jetzt eine Immobilie abbezahlen, die fast wertlos geworden ist. In Irland nennt man diese Wohnsiedlungen „Geisterimmobilie“. Das ist ein ganz neue Erfahrung für die Mittelschicht.

Für den Bauarbeiter ist das nichts wirklich Neues?
Für die Arbeiterschicht war die Möglichkeit, arbeitslos zu werden, immer gegeben. Und anders als in Griechenland wurde das Niveau des irischen Wohlfahrtsstaats nicht radikal heruntergefahren. Etwas brutal gesagt: Das ist „normale Armut“. Aber wir wissen nicht, wie breit sich die neue Armut in die Mittelschicht hineinfrisst und ob sie sich in bestimmten Regionen besonders hart auswirkt.

Bis 2008 sprach man mit Blick auf Irlands enormes Wirtschaftswachstum vom „keltischen Tiger“. War das eine Übertreibung?
Bis Mitte der 1980er Jahre erlebte Irland noch Massenarbeitslosigkeit und Massenauswanderung. 1985 lag die Arbeitslosigkeit innerhalb der EU nur in Spanien höher. Dann führte ein stetiges Wirtschaftswachstum dazu, dass die Zahl der Menschen in Arbeit stieg, die in den 1970ern geborenen Babyboomer drängten erfolgreich auf den Arbeitsmarkt. Zwei Jahrzehnte Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung verdanken sich vor allem ausländischen Investoren, die für den Export arbeiteten. Darunter Internetgiganten wie Google, PayPal und LinkedIn, die ihre Headquater in Irland haben, und Werke von Intel und Dell, die die niedrigen Unternehmenssteuersätze nutzen.

Wer hat von diesem Boom profitiert?
Am meisten die Reichen. Aber das Wirtschaftswachstum sorgte auch dafür, dass es allen besser ging. Wer einen Job hatte, profitierte von den Lohnerhöhungen. Und diejenigen, die nicht arbeiten konnten oder wollten, gewannen auch hinzu, weil die Sozialleistungen im europäischen Vergleich relativ hoch waren. Allerdings blieb die Einkommensungleichheit für weite Teile der Bevölkerung mehr oder weniger gleich.

Ist das starke Wirtschaftswachstum in Irland unterm Strich nicht doch eine Erfolgsgeschichte?

Mit Abstrichen: Vor allem Frauen und jungen, unqualifizierten Iren blieb der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt. Viele Iren verlassen bis heute die Schule, ohne lesen und schreiben zu können. Da die ausländischen Firmen ein unerschöpfliches Arbeitskräftereservoir vorfanden, übten sie keinen Druck auf die Politik aus, dass sich an diesen Verhältnissen etwas ändert. Und wenn es eng wurde, konnten sie auf die Einwanderer zurückgreifen. Die Beschäftigungszuwächse zwischen 2000 und 2008 wurden größtenteils durch Einwanderung vorangetrieben – vor allem aus Polen. 2008 lebte schätzungsweise eine Viertelmillion Polen in Irland, auf den Straßen Dublins wurde mehr Polnisch als Irisch gesprochen.

Was machte die Krise mit dem Einwanderungsland Irland?
Die Einwanderung ist 2009 drastisch eingebrochen. Immigranten waren von der Arbeitslosigkeit stärker betroffen als die Einheimischen. Dennoch gibt es immer noch 100 000 EU-Bürger, die in Irland arbeiten. Einige Politiker fordern zwar, die Sozialleistungen für die Eingewanderten zu kürzen. Dazu ist es bisher jedoch nicht gekommen, abgesehen von dem Zuschlag zum Familieneinkommen für Kinder, die nicht in Irland leben. Aber die Einwanderung qualifizierter Kräfte hat weiterhin eine Schlüsselbedeutung für die Exportindustrie.

Mit seinen niedrigen Unternehmenssteuern und flexiblen Arbeitsmärkten war Irland lange der neoliberale Musterschüler der EU. Wie kam es trotz dieser Standortvorteile zur Krise von 2008?

Die Krise von 2008, als die irischen Banken vor der Pleite standen, hat eine lange Vorgeschichte. Seit den frühen 1980er Jahren bemühten sich die Eliten, Irland als Standort für mobile, globale Finanzdienstleistungen attraktiv zu machen. Nicht nur mit niedrigen Unternehmenssteuern, sondern auch mit dem Angebot einer sehr laxen Regulierung des Finanzsektors. Dies führte zu einer großzügigen Ausdehnung der Kreditvergabe für Immobilien durch die Banken. Mit dem Beitritt zur Eurozone bekamen irische Banken zudem Zugang zu billigen Krediten, die sie nutzten, um immer verantwortungslosere Kredite zu vergeben.

Wie wurde daraus eine Finanzkrise des irischen Staates?
Das Platzen der Immobilienblase und die drohende Pleite der Banken führte zu der spektakulären Entscheidung des Staats, nicht nur für die Einlagen, sondern auch für sämtliche Kredite bei irischen Banken die Verantwortung zu übernehmen. Allein zehn Verbraucherbanken haben bis Ende 2011 rund 118 Milliarden Euro durch Kreditausfälle verloren, das entspricht zwei Dritteln der irischen Wirtschaftsleistung. Da der Staat diese Sozialisierung der Verluste nicht allein schultern konnte, beanspruchte Irland im November 2010 als erstes Euro-Land die Hilfe des Rettungspakets von IWF und EU.

Haben diese Erfahrungen zu einem Überdenken der bisherigen Wirtschaftspolitik geführt?
Davon kann überhaupt nicht die Rede sein. Nicht ansatzweise wird über ein alternatives, nachhaltigeres Wachstum nachgedacht – auch nicht aufseiten der Linken. Man wiegt sich schon wieder in Sicherheit – schließlich sind 2011 die irischen Exporte dank des ausländischen Sektors fast wieder auf dem Niveau vor der Krise, ebenso die Beschäftigung. Irland setzt weiterhin auf niedrige Unternehmenssteuern und einen schwachen Staat. Auch große Teile der Bevölkerung sind eher an höheren Löhnen interessiert als an einem Ausbau der Infrastruktur im Bereich Bildung, Soziales, Gesundheit und Verkehr. Das Staatsvermögen wird weiter verkauft, die Privatisierung der Renten, des Bildungs- und des Gesundheitssystems geht ungebremst weiter.

Irland hat seit seinem EU-Beitritt 1973 finanziell enorm profitiert. Wie wird sich das Verhältnis zur EU weiterentwickeln?
Das kleine Land wird sich künftig noch stärker an den USA orientieren. Das hat auch materielle Gründe. Die ausländischen Investitionen werden überwiegend durch amerikanische Unternehmen getätigt. Irland profitiert dabei von seinen früheren Auswanderern, die in den USA Wurzel geschlagen haben – eines der weltweit erfolgreichsten Beispiele für eine sich auf Diaspora-Eliten stützende Wirtschaftspolitik. Mit den anderen EU-Mitgliedern hingegen wird Irland wegen seiner Steuerdumpingpolitik und auch wegen der angestrebten europäischen Bankenaufsicht fast zwangsläufig in Konflikt geraten. Für viele ausländische Banken ist Irland gewissermaßen der Außenposten in Europa. Eine Finanztransaktionssteuer zum Beispiel würde ihre Geschäfte erheblich erschweren – und wird deshalb von Irland nicht unterstützt.

James Wickham, 65, ist Soziologe und Professor für europäische Arbeitsmarktstudien am Trinity College in Dublin, wo er die Entwicklung des irischen Arbeitsmarktes speziell in der elektronischen Industrie erforscht.

Mit James Wickham sprach Ingo Zander / Foto: privat

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