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Betriebsräte Ralf Damde und Carola Schein Magazin Mitbestimmung

Gewalt: Die Frustableiter

Ausgabe 03/2023

Ihren Ärger lassen Fahrgäste immer öfter am Bahnpersonal aus – verbal und körperlich. Der Betriebsrat fordert mehr Personal und eine bessere Infrastruktur. Von Fabienne Melzer

Sie werden beschimpft, bespuckt, auf dem Heimweg verfolgt und manchmal sogar niedergeschlagen. Wer Fahrkarten kon­trolliert, Zugreisende auf Regeln hinweist, wer einfach nur seine Arbeit bei der Bahn macht, muss an manchen Tagen einiges aushalten. Dabei kann ein Angriff von überall kommen. Von dem älteren Herrn am Waggonende, von den drei Jugendlichen auf dem Vierersitz oder den jungen Eltern. Es gibt nichts, was Carola Schein, stellvertretende Betriebsratsvorsitzende der DB Regio Nordost-Bayern, noch nicht erlebt hat. „Jeder kann ausfallend werden, egal ob jung oder alt, ob Frau oder Mann“, sagt Carola Schein. Oft trifft es die Beschäftigten der Bahn überraschend, und es trifft sie immer öfter. Zählten sie bei DB Regio 2020 noch 7200 Übergriffe, waren es 2022 gut 14 700, darunter 1400 Körperverletzungen.

2022 war kein gewöhnliches Jahr. Viele Konflikte gingen auf das Konto der Coronamaßnahmen. So wurde im Frühjahr eine Zugbegleiterin in Trier von einem Kunden mit der Faust niedergeschlagen, nachdem sie ihn auf die Maskenpflicht hingewiesen hatte. Fast täglich standen die Beschäftigten in der Pandemie zwischen jenen Fahrgästen, die sich an die Regeln hielten, und denen, die es nicht taten. Gerieten beide Seiten aneinander, mussten sie eingreifen.

Rückzug der Polizei

Doch die Maskenpflicht war für Ralf Damde, Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei DB Regio, nur ein zusätzlicher Tropfen in ein Fass, das seit Jahren überläuft. „Wir haben immer weniger Zugbegleiter. Die meisten sind allein unterwegs. Die Bundespolizei hat sich aus den Bahnhöfen zurückgezogen. So hat der Staat erst die Freiräume geschaffen, in denen diese Übergriffe möglich werden“, sagt Damde. Im Sommer 2022 kam dann ein weiterer Tropfen hinzu. Mit dem Neun-Euro-Ticket füllten sich die Züge bis unters Dach, und der Frust stieg. „Irgendwann fielen die Fahrgäste übereinander und dann über die Bahnbeschäftigten her“, erzählt Ralf Damde.

Immerhin gibt es inzwischen mehr Hilfe. „Früher war eine Anzeige Privatsache“, sagt Carola Schein. „Heute übernimmt die Bahn die Kosten.“ Auch Deeskalationsschulungen gibt es mittlerweile. „Die Idee kam von der Gewerkschaft, und wir haben jahrelang darum gekämpft, sie in die Grundausbildung aufzunehmen“, sagt GBR-Vorsitzender Ralf Damde. Die Gewerkschaft EVG hat die Hilfe-Hotline „Ruf Robin“ für Mitglieder eingerichtet. Opfer von Gewalt finden hier rund um die Uhr ein offenes Ohr und Unterstützung.

Hilfen sind gut, aber sie verhindern keine Gewalt. Das könnte aus Sicht des Betriebsrats nur mehr Personal und eine Doppelbesetzung auf allen Zügen. Ralf Damde weiß, dass sich mehr Personal nicht aus dem Hut zaubern lässt. „Aber wir könnten Sicherheitskräfte von Zügen, die mittags fast leer fahren, umschichten auf Schwerpunktzüge.“ Schwerpunktzüge nennen die Bahnbeschäftigten jene Strecken, auf denen es besonders häufig kracht. Auf diesen Zügen müsse auch mehr Bundespolizei eingesetzt werden.

Technik könnte den Beschäftigten ebenfalls helfen, wie Carola Schein am Beispiel eines Vorfalls vor ein paar Wochen auf der Strecke zwischen Bamberg und Hirschaid erklärt. Nur wenige Fahrgäste verteilten sich an diesem frühen Morgen in den Waggons, als eine Kundenbetreuerin eine Familie mit einer 13-jährigen Tochter kontrollierte. Sie hatten keine Fahrscheine. Plötzlich riss die Mutter die Zugbegleiterin an den Haaren, die Tochter schlug ihr Handy und Fahrkartenzange aus der Hand und rannte davon. „Ohne ihr Handy kann sie keine Hilfe rufen“, sagt Carola Schein. „Deshalb fordern wir einen Notknopf an der Armbanduhr.“ Carola Schein hat selbst jahrelang Fahrkarten kontrolliert, Fragen beantwortet und immer wieder erlebt, wie sich die Wut eines Fahrgastes über sie ergoss. Seit 2022 ist sie im Gesamtbetriebsrat für die Kundenbetreuer zuständig. Beschäftigte, die von Fahrgästen bedroht, beleidigt oder attackiert wurden, kommen meist zu ihr. Dabei stellt sie auch fest: „Trotz allem machen die Leute ihren Job gern, sie brauchen nur wieder mehr Sicherheit. Es war einmal mein Traumberuf, aber das Berufsbild hat sich völlig geändert. Heute bin ich nach schlimmen Erlebnissen nicht mehr sicher, ob ich ihn noch einmal wählen würde.“

Mehr Personal nötig

Mehr Personal könnte die Sicherheit der Beschäftigten verbessern, pünktliche Züge mit ausreichendem Platz den Frust der Fahrgäste senken. Dabei hat sich die Politik für die Bahn viel vorgenommen. Ziele allein reichen nicht. Das Angebot muss stimmen. Das Neun-Euro-Ticket legte die Probleme eines Netzes offen, das jahrelang zurückgebaut wurde. „Wir müssten 80 Milliarden Euro investieren, um wieder eine Schieneninfrastruktur wie vor 30 Jahren zu bekommen“, sagt Ralf Damde. „Zwar wurde der Etat für den Nahverkehr auf 17,3 Milliarden Euro erhöht. Doch damit können wir angesichts der Energiepreise gerade mal den Stand halten.“

Auf etwas Entspannung hoffen die Eisenbahner durch das 49-Euro-Ticket. Angesichts der Erfahrungen mit dem Neun-Euro-Ticket erstaunlich. Die drei Monate erlebten die Beschäftigten wie in einem Albtraum. Quereinsteiger aus der Pflege kehrten anschließend in ihren alten Beruf zurück, erzählt der Betriebsrat. Doch diesmal werde es anders, hofft Damde: „Das 49-Euro-Ticket ist besser vorbereitet, und es mindert einen Konflikt, der am häufigsten zum Streit mit Fahrgästen führt: das Fahren ohne Fahrschein.“ Noch besser ließe sich dieser Konflikt aber mit einem Service aus der Vergangenheit lösen, denkt der Betriebsrat: „Wir sollten wieder Fahrkarten in den Zügen verkaufen.“

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