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Magazin Mitbestimmung

Von MICHAELA NAMUTH: Der neue Film von Ken Loach: Mitleidsloser Sozialstaat

Ausgabe 11/2016

Rezension „Ich, Daniel Blake“ läuft ab 24. November in den Kinos. Der Protagonist bewahrt seine Würde auch in einem maroden Gesundheitssystem.

Von MICHAELA NAMUTH

Wissen Sie, dass sich die Armen frühmorgens beerdigen lassen, weil es billiger ist? Und dass eine Mutter nachts weint, wenn die Tochter in der Schule gehänselt wird, weil ihre alten Turnschuhe nur durch Kleber zusammengehalten werden? Die Armutsstatistik und die Kennzahlen des Wohlfahrtsstaates sind abstrakt. Für alle, die das Elend nicht mit eigener Hand berühren, bleiben sie dürre Zahlen. Der Regisseur Ken Loach macht aus diesen Zahlen Menschen. Er haucht ihnen Leben ein.

In seinem neuen Film “Ich, Daniel Blake” erzählt er das Drama eines herzkranken Tischlers, der nach einem 40-jährigen Arbeitsleben in die erbarmungslosen Mühlen des abgehalfterten britischen Sozialstaats gerät. Um Arbeitslosengeld zu bekommen, muss er sich mit verständnislosen Bürokraten und undurchsichtigen Online-Formularen herumschlagen. Bei seinem grotesken Kreuzzug durch die Amtsstuben lernt Daniel (Dave Johns) die alleinerziehende Mutter Katie (Hayley Squires) und ihre beiden Kinder kennen. Daniel wird zum guten Geist der kleinen Solidargemeinschaft.

Doch die Gruppe ist fragil, der Druck von außen droht sie zu zersprengen. Es ist eine Szene der puren Verzweiflung, als sich Katie vor dem Warenregal der Fürsorge mit bloßen Fingern eine Dose Bohnen in den Mund schaufelt. “Ich, Daniel Blake” ist ein erbarmungsloser Film. Aber auch ein Film mit bissigem Humor. Als Zuschauer langweilt man sich keine Sekunde, denn Ken Loach ist ein Profi in seinem Metier. Dafür wurde er dieses Jahr beim Filmfestival in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.

Bei der Preisverleihung erklärte er  mit ungebrochener Verve: “Die Welt, in der wir leben, befindet sich in einem miserablen Zustand. Die Ideen, die wir neoliberalistisch nennen, treiben uns in die Katastrophe.“ Doch Verzweiflung, so Loach, sei gefährlich. Er will eine hoffnungsvolle Botschaft vermitteln. Deshalb hält die Solidarität der vom System Ausgespuckten am Ende des Films dem Druck auch stand. Sie verteidigen ihre Würde. Ein Hoffnungsschimmer. Kenneth Loach ist ein politischer Kopf. Und er kennt die Menschen, über die er Geschichten erzählt.

Er wurde 1936 in Warwickshire als Sohn eines Elektrikers und einer Friseurin geboren. Er war eines der wenigen Arbeiterkinder, die in Oxford Jura studierten. Nach dem Studium zog er als Schauspieler mit einer Theatertruppe herum. Im Jahr 1963 begann er, Fernsehserien für die BBC zu drehen. Bekannt wurde er 1966 mit dem Sozialdrama „Cathy Come Home“, in dem ein junges Paar unverschuldet arbeitslos und obdachlos wird und deshalb die gemeinsamen Kinder weggeben muss. Als bekennendem Trotzkisten machte ihm das politische Klima in den 70er Jahren und vor allem in der Thatcher-Ära das Leben und die Arbeit schwer. Erst der Streifen „Riff Raff“ über einen jungen, prekär beschäftigten Bauarbeiter bescherte ihm 1991 einen internationalen Kinoerfolg.

Seitdem wird Loach mit Filmpreisen geradezu überhäuft. In Zeiten von Blockbustern, Science-Fiction und Fantasy-Spektakeln ist Loach ein außergewöhnliches  Kino-Phänomen. Seine Geschichten gehen ans Herz ohne rührselig zu sein, manchmal sind sie auch komisch, aber immer sind sie gnadenlos realistisch. Er hält die Kamera auf die, die man überall sieht, aber nicht wahrnimmt: die Frauen und Männer, die in den Büros und Wohnungen der Mittel- und Oberschicht Kaffee kochen und Essen servieren, putzen und Müll wegfahren. Kurzum: das moderne Proletariat.

In einem Gesprach mit The Guardian, das Simone Hattenstone am 15. Oktober führte, wird der Regisseur gebeten, die Welt seiner Figur Cathy aus den 60er Jahren und die Welt von Katie  aus „Ich, Daniel Blake“ zu vergleichen. Er antwortet: „In der Welt von Cathy standen noch die Hauptpfeiler des Wohlfahrtstaats, obgleich schon angeschlagen. (…) Damals dachten wir nicht, dass es in 50 Jahren Stunden-Verträge, Zeitarbeitsfirmen und eine  Essensausgabe für Arme geben würde. Es ist grotesk, dass wir das heute akzeptieren.“

Seit Jeremy Corbin an der Spitze der Labour Party steht, nähert sich Loach wieder seiner alten Partei an, die er vor 30 Jahren verlassen hat. Den Brexit hätte er wie Corbin gern verhindert. Aber er sieht als Ursache auch Erosionserscheinungen unter der einst links orientierten, weißen Arbeiterschaft: „Sie nutzen ihre Wählerstimme als verzweifelten Protest, weil sie sonst keine Stimme mehr haben.“ Nachdem Donald Trump die US-Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, sind Politikexperten zu demselben Ergebnis gekommen wie der Regisseur. Er ist jetzt 80 Jahre alt.

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