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Magazin Mitbestimmung

: Der kurze Draht im Stahlwerk

Ausgabe 05/2011

MONTANINDUSTRIE Bei der Georgsmarienhütte Holding und dem Stahlbetrieb, aus dem sie hervorging, gilt die Montanmitbestimmung. Beim Stahlwerk selbst sichert sie das Gesetz, bei der Holding ein Vertrag der IG Metall mit dem Gesellschafter. So lebt die gewachsene Kultur weiter. Von Carmen Molitor

CARMEN MOLITOR ist Journalistin in Köln/Foto: Kay Meiners

Montanmitbestimmung - das bedeutet für Ludwig Sandkämper, dass er einfach die Treppe hochlaufen und an die Tür des Arbeitsdirektors klopfen kann, wenn er als Betriebsratsvorsitzender der Georgsmarienhütte GmbH schnell mal ein Problem klären will. Udo Bergknecht vom Anlagenbauer WeserWind, einem Teil der Holding, erlebt sie als Rückendeckung dafür, Betriebsratsarbeit und einen Tarifvertrag durchzusetzen - in einer Branche, die anderswo wie ein "moderner Sklavenmarkt" funktioniert. Für Harald Schartau, den Arbeitsdirektor der Georgsmarienhütte (GMH) Holding, garantiert sie ein Klima, bei dem die Geschäftsführung "die Kompetenz der Arbeitnehmervertreter bei der Vorbereitung einer Entscheidung bewusst und gewollt einbezieht". Drei Männer der GMH Gruppe, drei Kommentare. Sie haben ihre eigenen Blickwinkel, aber allen kommt derselbe Satz über die Lippen: "Die Montanmitbestimmung muss man mit Leben füllen."

IMMER NOCH "DIE ALTE KLÖCKNER"_ Um die Gegenwart zu verstehen, lohnt ein Blick in die Geschichte: Die Keimzelle der GMH Gruppe war das Stahlwerk Georgsmarienhütte bei Osnabrück, das 1856 den Betrieb aufnahm. Der Volksmund nennt es immer noch "die alte Klöckner", denn es gehörte von 1923 bis Anfang der 90er Jahre mit einer kurzen Unterbrechung zum Klöckner-Konzern. 1993 kaufte der heutige RWE-Chef Jürgen Großmann den damals heruntergewirtschafteten Betrieb und wurde Alleingesellschafter. Das Werk, inzwischen ein reiner Recycling-Betrieb, der im elektrischen Lichtbogenofen aus Schrott wieder reines Metall gewinnt, zählt zu den führenden Anbietern für Qualitäts- und Edelbaustahl. Es liefert überwiegend an die Autoindustrie und erfüllt mit seinen 1350 Beschäftigten bis heute die gesetzlichen Voraussetzungen für einen montanmitbestimmten Betrieb. Es gibt einen Arbeitsdirektor als Schnittstelle zwischen Arbeitnehmervertretern und Geschäftsführung und einen 13-köpfigen Aufsichtsrat, der neben sechs Vertretern von Anteilseigner- und Arbeitnehmerseite auch einen Platz für eine neutrale Person vorhält. So weit, so normal.

Das Besondere: Großmann gründete 1997 auch eine GMH Holding, unter deren Dach zurzeit 49 mittelständische Unternehmen verbunden sind, die vom Rohstoffrecycling über die Stahlerzeugung, den Eisen-, Stahl- und Aluminiumguss bis hin zu Anlagenbau und Krantechnik reichen. Die Holding arbeitet ebenfalls nach den Spielregeln der Montanmitbestimmung, ohne dass sie es per Gesetz müsste. Die Basis dafür legte im Jahr 1998 ein Vertrag der IG Metall mit dem Gesellschafter. Im Stahlwerk haben sie schon seit 1951 Erfahrungen mit der Montanmitbestimmung gesammelt. "Es gibt hier eine gewachsene Kultur", betont Hartmut Riemann, Aufsichtsratsmitglied und Erster Bevollmächtigter der IG Metall in Osnabrück. Er hat miterlebt, wie seit der Stahlkrise der 1980er über das Ende der Hütte spekuliert wurde - "20 Jahre Angst um den Arbeitsplatz", das haben viele hier erlebt. Da sucht man vor allem eines: Verlässlichkeit. "Es ist gute Tradition, zu sagen: Wenn von uns erwartet wird, dass wir bei den Produktions-, Gewinn- und auch Rationalisierungszielen letztendlich die Stöcke nicht in die Speichen halten, dann erwarten wir von der anderen Seite, dass die Frage der Sicherheit der Arbeitsplätze, des Einkommensniveaus und der Arbeitsbedingungen auch eine große Rolle spielt."

Konflikte um des Konfliktes willen zu vermeiden - vielleicht ist das die Essenz der Montanmitbestimmung. Riemann erklärt das so: Es gelte zwar, streitbar zu sein, aber dabei den konstruktiven Austausch zu suchen und Kompromisse dann gemeinsam zu tragen. Die Figur, mit der dieser Gedanke steht oder fällt, war und ist der Arbeitsdirektor, der in Montanbetrieben nicht gegen die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat bestellt werden kann. 2010 gab es einen überraschenden Kandidaten für den Posten; einen Mann, der weder ein "Hausgewächs" war noch mit einem Gewerkschaftshintergrund dienen konnte. Felix Osterheider war Journalist und PR-Berater von Jürgen Großmann, bevor er Arbeitsdirektor in Georgsmarienhütte wurde. Riemann war nicht der einzige, der überrascht war, als der Vorschlag kam, den Kommunikationsexperten mit dieser zentralen Schnittstelle zwischen Chefetage und Arbeitnehmern zu betrauen. "Wir haben ein paar Gespräche über die Rolle die Arbeitsdirektors und die Ziele der IG Metall geführt. Jetzt stimmt die Chemie", bilanziert der Gewerkschafter. "Das halte ich bei dieser Stelle - Qualifikation vorausgesetzt - für das Wichtigste."

IN EINER NEUEN WELT_ "Die Welt war vorher für mich eine ganz andere", räumt Felix Osterheider ein. Mittlerweile ist er Mitglied der IG Metall, den Begriff "Arbeitsdirektor" findet er altmodisch, die Aufgabe, die er zu erfüllen hat, aber nicht. Seine Rolle sieht er, wie sie "im Montangesetz festgelegt ist: die Interessen der Belegschaft bei der Geschäftsführung so zu vertreten, dass diese auf Augenhöhe eine Rolle spielen". Etwas von einem "Sozialminister" habe der Posten obendrein: "Klimatische Themen, binnenklimatische Themen, Stimmungsthemen, Mediationsrollen, Moderationsrollen gehören wie früher auch zu meinem Geschäft. Und bestimmte Sachverhalte so rüberzubringen, dass sie verstanden werden." Osterheider begrüßt, dass der Organisationsgrad der Belegschaft bei 90 Prozent liege. Kompromisse würden dadurch verlässlich getragen. "Ich habe die Montanmitbestimmung hier bis dato als hochkonstruktiv erlebt."

Ludwig Sandkämper arbeitet seit 38 Jahren im Stahlwerk und hat, seit er 2002 als Betriebsrat aktiv wurde, schon drei Arbeitsdirektoren erlebt. Zuletzt übernahm der Arbeitsdirektor der Holding einige Jahre lang die Aufgaben des Arbeitsdirektors der GmbH gleich mit. Seit 2010, dem Jahr, in dem Sandkämper zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt wurde, bekam die GmbH auf Wunsch des Gesellschafters wieder ihren eigenen Arbeitsdirektor. Felix Osterheider wurde sein wichtigster Ansprechpartner. Ein neues Team, dessen Zusammenfinden "im Moment noch gar nicht so einfach ist", sagt Sandkämper. Das Miteinander im Stahlwerk funktioniere aber gut, findet er. Beispiel: Krisenjahr 2009. "Da haben wir mächtig geblutet", erinnert sich Sandkämper. Viele Beschäftigungsverhältnisse wackelten: Es gab einerseits Kurzarbeit, Qualifizierungsprogramme, Altersteilzeitregelungen, andererseits verlängerte das Werk viele befristete Verträge nicht, und obendrein kam Ärger mit den Regelungen für Arbeitszeitkonten auf. Sandkämper glaubt, dass es die Mitbestimmungskultur im Unternehmen war, die dazu führte, dass viele Mitarbeiter, die damals gehen mussten, das Versprechen erhielten, nach der Krise wieder eingestellt zu werden. Was dann auch geschah - und mindestens 78 Entlassenen den alten Job wieder bescherte. "Da ist Wort gehalten worden", lobt er.

PAPIER IST GEDULDIG_ Ist also alles Gold, was heute in der Montanmitbestimmung glänzt? Sebastian Sick sieht das differenziert. Er arbeitet im Referat Wirtschaftsrecht der Hans-Böckler-Stiftung und ist seit 2007 einer der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat des Stahlwerks Georgsmarienhütte. Auf dem Papier sei die Montanmitbestimmung zwar die höchste Form der Mitbestimmung. Aber ausschlaggebend sei letztendlich die tatsächlich gelebte Mitbestimmungskultur: "Montanmitbestimmung ist nicht gleich Montanmitbestimmung." Der Alleineigentümer in einer GmbH sei einfach stark, er sei der Geldgeber und habe als Gesellschafter auch Weisungsrechte. "Insofern hat auch der Gesellschafter in Georgsmarienhütte eine sehr starke Stellung."

Anders als das Stahlwerk erfüllt die GMH Holding die gesetzlichen Bedingungen für die Montanmitbestimmung nicht. Alles hängt an dem Vertrag mit der IG Metall. Die fortgeführte Georgsmarienhütte GmbH und die Holding unterlägen beide den Bestimmungen der Montanmitbestimmung, heißt es darin. "Schon bei dem Management-Buy-out 1993 war für die Arbeitnehmerseite ein zentrales Element, dass die Montanmitbestimmung erhalten bleibt", erklärt Bernd Lauenroth, Konzernbetreuer der GMH und künftiger Leiter des Zweigbüros der IG Metall in Düsseldorf. Eine staatliche Beteiligung wie bei Salzgitter oder eine Stiftungslösung wie bei den saarländischen Hütten, die zusätzlich Sicherheit bitetet, gibt es aber nicht.

Großmann sieht sich trotz seines Vermögens von mehr als einer Milliarde Euro weiter gern als Mittelständler, was eine Untertreibung ist. Er kaufte weitere Firmen entlang der Stahl-Wertschöpfungskette, die wirtschaftlich am Boden lagen. Um sie zu sanieren, war eine gute Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmervertretern und der IG Metall essenziell. In diesem Zusammenhang wurde 1998 der neue Vertrag ausgehandelt und die Montanmitbestimmung auch in der Holding gesichert, obwohl der Anteil der Montanfirmen kleiner wurde. Die IG Metall sah das - so Lauenroth - nicht "als eine Neueinführung, sondern als eine konsequente Fortsetzung dessen, was wir an Montanmitbestimmung schon hatten". Sie erreichte eine Vereinbarung, in der es "nicht nur um Unterrichtung geht, sondern auch um Beratung der strategischen Ausrichtungen und Investitionsplanung des Unternehmens, auch konkret festgemacht an den Budgetgesprächen".

Der Vertrag gilt für die Holding und die GmbH, wobei das Stahlwerk - solange es noch mindestens 1000 Beschäftigte hat - per Gesetz ein Montanbetrieb ist. Eine Mitbestimmung nach Großmanns Gnaden? "Ich sehe das anders", betont Lauenroth. Die "Mächtigkeit des Organisationsgrades", der in der Holding bei 80 Prozent liege, sei der springende Punkt der Vereinbarung. "Er ist die zentrale Voraussetzung, um das durchzusetzen und zu halten." Und die eigentliche Machtbasis. Doch auch das Unternehmen habe ein strategisches Interesse, die Mitbestimmung zu leben: "Die sagen: Gelebte Mitbestimmung ist für uns hochproduktiv, weil ich viel schneller eine Akzeptanz herstelle und mit der Maxime ,Besser statt billiger' weiter komme." Der Geschäftsführung der Holding gesteht er ein aufrichtiges Interesse zu, die Beteiligung zu leben.

EIN EX-MINISTER ALS JOKER_ Ein Joker, den die IG Metall mit ihrem Vorschlagsrecht in der Holding installieren konnte, ist der Arbeitsdirektor Harald Schartau. Der erfahrene Gewerkschafter, ehemalige SPD-Landesvorsitzende und Arbeits- und Sozialminister in NRW kam im Krisenjahr 2009 auf diesen Posten. Sein Job war anfangs ganz davon geprägt, "dass man - ohne die Kosten außer Acht zu lassen - alles unternimmt, alle Modelle anwendet, alle Chancen auch der Arbeitsverwaltung nutzt, um Mitarbeiter an Bord zu halten", erzählt Schartau. Es gelang nur teilweise. Über 800 Beschäftigte der Unternehmensgruppe mussten gehen, die Mitarbeiterzahl sank auf unter 10 000. Die 49 Unternehmen der GMH Gruppe sind im Schnitt zwischen 100 und 500 Mitarbeiter stark und relativ eigenständig. "Die müssen für ihren Markt und für ihr Produkt ihre Arbeitsweise finden, da gibt es keine zentralen Vorgaben", erklärt Harald Schartau. "Allerdings achten wir darauf, dass es Betriebsräte gibt und dass wir durchgängig tarifgebunden sind", erklärt Schartau. Betriebsräte und Geschäftsführung müssten sich aufgrund der Eigenständigkeit erst mal vor Ort einigen. Wenn das nicht gelingt, kann Schartau helfen. So wie beim Anlagenbauer WeserWind in Bremerhaven. Seit 2008 existiert dort ein Betriebsrat. "Aber die Geschäftsführung hat uns zuerst nicht als Gremium akzeptiert", berichtet der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Udo Bergknecht. Als dann auch noch eine Betriebsratskollegin gekündigt wurde, "da haben wir Harald Schartau eingeschaltet und ihm gesagt: So kann es hier nicht weitergehen", sagt Bergknecht. Danach habe sich "einiges in der Kommunikation geändert", die Kollegin konnte bleiben. Seit 2010 ist der Tarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie bei WeserWind gültig - das ist rar in dieser Branche. "Wenn wir die GMH Holding nicht im Rücken gehabt hätten, wären wir heute noch im Tarifdschungel", glaubt Bergknecht.

ARBEITSGEMEINSCHAFT STATT KONZERNBETRIEBSRAT_ Vor Ostern ist die Zusammenarbeit der Betriebsräte in den Unternehmen der Holding straffer organisiert worden. Ein Konzernbetriebsrat kam trotz mancher Diskussionen nicht zustande, denn die GMH besteht darauf, kein Konzern, sondern eine Gruppe zu sein. "Es gibt nun eine Arbeitsgemeinschaft, die die vier Sparten Stahl, Schmieden, Guss und Anlagenbau hat", berichtet Bernd Lauenroth vom Stahlbüro der IG Metall. Alle Sparten wählen ihr gemeinsames Präsidium auf Ebene der gesamten Unternehmensgruppe. Es kann zu jeder Sitzung den Arbeitsdirektor einladen. "Zweimal im Jahr wird es mit der Geschäftsführung und mir eine Klausurtagung geben, wo die grundsätzliche Ausrichtung des Unternehmens und die absehbare wirtschaftliche Entwicklung im Detail besprochen werden", kündigt Schartau an. Wo geht die Reise hin mit der Montanmitbestimmung in der Georgsmarienhütte? Dietmar Hexel, Mitglied des DGB-Bundesvorstandes und stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrates der GMH Gruppe, wagt eine Prognose: "In zehn Jahren hat sich unsere Vereinbarung weiter bewährt, wir haben sie ausgebaut und einen Tarifvertrag über die Frage erreicht, wie Arbeitnehmer an dem Unternehmen beteiligt werden." Bis dahin will er weiter dafür kämpfen, dass sich die Anteilseignerseite "bei der tariflichen Absicherung der Gewinnbeteiligung, bei den nötigen Rücklagen für Personal gegen die nächste Krise und dem Vergütungssystem für Geschäftsführer" noch ein Stück bewegt. Das nächste Kapitel der Montanmitbestimmung bei GMH ist aufgeschlagen.

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