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Magazin Mitbestimmung

Von MARTIN KALUZA: Der Blutsonntag von Derry

Ausgabe 01/2018

Das politische Lied Der Song, mit dem die irische Band U2 die Toten eines Massakers im Nordirlandkonflikt beschreibt, klingt kämpferisch. Doch er ist vor allem ein Aufruf zur Versöhnung.

Von MARTIN KALUZA

Es ist ein Sonntag, der 30. Januar 1972, als 15 000 Menschen in der Bogside, dem katholischen Teil der nordirischen Stadt Derry, für Bürgerrechte, bessere Wohnungen und gegen Diskriminierung protestieren. Die Stadt ist geteilt in privilegierte protestantische Bewohner britischer Abstammung und verarmte katholische Iren, die auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt nicht die gleichen Rechte haben.

Die Atmosphäre ist aufgeheizt. Über Jahre hatte sich der schwelende Konflikt zwischen beiden Seiten verschärft. Plötzlich eskaliert die Situation. Britische Fallschirmjäger eröffnen das Feuer auf Teilnehmer der Demonstration. Die Opfer sind unbewaffnet, einige werden in den Rücken geschossen. 13 sterben gleich, ein weiterer später. „Ich habe keinen Zivilisten schießen sehen. Geschossen hat nur die Armee“, erinnert sich der katholische Priester Edward Daly. „Was mich am meisten entsetzte, war die Kaltblütigkeit der Fallschirmjäger. Sie lachten und machten makabre Witze, als die Menschen zu Boden gingen.“ London hingegen behauptet, die Demonstranten hätten die Armeeangehörigen zuerst angegriffen.

Das Massaker heizt den Bürgerkrieg zwischen Unionisten und Republikanern, zwischen probritischen und proirischen bewaffneten Gruppen weiter an. In 30 Jahren kostet er 3500 Menschen das Leben. Das meiste Blut vergießt die IRA, die Irisch-Republikanische Armee. Ihre Bomben gehen nicht nur in Derry und Belfast hoch, sondern auch in Birmingham und Manchester.

Der Konflikt reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück, als die englische Krone Siedler aus England und Schottland in den Nordosten Irlands schickte. Die Kolonialgeschichte steckt bis heute im Namen der Stadt, in der sich der Blutsonntag zugetragen hat: Unionisten und Briten nennen sie bei ihrem Kolonialnamen „Londonderry“, Iren und Republikaner beim alten irischen Namen „Derry“. Wer die Stadt nur erwähnt, bekennt Farbe – ob er will oder nicht.

Zehn Jahre nach den Ereignissen von Derry und unzählige Anschläge später nimmt die aus Dublin stammende Band U2 einen Song auf. Die Musik: Ein absteigendes Gitarrenriff in Moll, angetrieben von einer Marschtrommel, darüber die abgehackten Töne einer Violine, die quälend entstellte Inkarnation einer Irish Fiddle. „Ich kann nicht glauben, was ich heute in den Nachrichten gehört habe, und ich kann meine Augen nicht davor verschließen“, singt Bono. Mit einem beschwörenden „Wie lange müssen wir dieses Lied noch singen?“ leitet er in den Refrain über, der so zum Mitsingen anregt, dass das Lied bis heute oft als Partykracher missverstanden wird: „Sunday, bloody Sunday! Sunday, bloody Sunday!“

Einigen klingt die Marschtrommel zu kämpferisch, sie hören aus dem Song eine Rechtfertigung von Gewalt heraus. Doch die Band bekräftigt, dass das Lied vor allem ein Aufruf zur Versöhnung ist. Bono singt: „Ich werde dem Schlachtruf nicht folgen.“

Auf ein Ende des Bürgerkriegs müssen die Nordiren bis ins Jahr 1998 warten. Dann nämlich unterzeichnen die Staaten Irland und Großbritannien sowie unionistische und nationalistische Parteien Nordirlands das Karfreitagsabkommen. Referenden im Norden und Süden Irlands sichern einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung. Die Grenzanlagen zwischen Nordirland und der Republik werden abgebaut. Die Polizei Nordirlands rüstet ab und stellt mehr Katholiken ein. Von der Stadtmauer Derrys verschwinden die Wachtürme. Am 15. Juni 2010 schließlich bittet Premierminister David Cameron im Namen der britischen Regierung um Verzeihung für die Taten der Armee am „Bloody Sunday“.

Als das Vereinigte Königreich sechs Jahre später über den Austritt aus der EU abstimmt, ist die Mehrheit der Nordiren dagegen. Vor allem unter den Katholiken hat die EU ein gutes Image. Was sie an Gleichberechtigung durchgesetzt hat, hätten sie allein London kaum jemals abgetrotzt. Der EU-Austritt Großbritanniens reibt Salz in alte Wunden.

Muss man nun ernsthaft die Grenzanlagen wieder aufbauen, deren Abriss so viel Geduld und so viele Opfer gefordert hatte? Als einen der ersten Punkte klärten die EU und die britische Regierung in den zähen Brexit-Verhandlungen genau diese Frage. Am 4. Dezember 2017 verkündeten die Verhandlungspartner: Eine „harte Grenze“ bleibt Nordirland und Irland erspart.

Aufmacherfoto: picture alliance/Fryderyk Gabowicz

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