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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Das schafft Mehrwert"

Ausgabe 09/2015

Thomas Wessel, Personalvorstand und Arbeitsdirektor der Evonik Industries AG, über mitbestimmte Traditionen, den Nutzen eines regen Austauschs mit Betriebsrat und Gewerkschaft und warum eine Arbeitgebermarke authentisch sein muss

Mit Thomas Wessel sprach Cornelia Girndt in der Evonik-Zentrale in Essen.


Herr Wessel, wenn jemand weiß, was mitbestimmte Personalarbeit ist, dann doch Sie.

Ich komme aus der Montanmitbestimmung, das ist meine Tradition. Dort hat die Mitbestimmung der Arbeitnehmer einen hohen Stellenwert, ohne die könnte die Region den sozialverträglichen Ausstieg aus der Steinkohle nicht meistern. Wir sind bei Evonik Industries bestrebt, diese Erfahrungen in einer wert- und werteorientierten Personalpolitik weiterzuleben. Wir haben eine starke Mitbestimmungsorganisation, wir sind in einem regen institutionalisierten Austausch mit den Arbeitnehmervertretern der IG BCE im Aufsichtsrat, mit dem Gesamtbetriebsrat und den Standortbetriebsräten in den Gemeinschaftsbetrieben. Dort sprechen wir frühzeitig an, was die Arbeitnehmer betrifft, um einen Ausgleich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen zu erreichen. Von einem Arbeitsdirektor erfordert das ein hohes Maß an emotionaler Intelligenz und Empathie, um zwischen Mitbestimmung und Unternehmensinteressen zu moderieren.

Die Funktion des Arbeitsdirektors wird oft als schwieriger Spagat beschrieben.

So schwierig ist das gar nicht. Zu meinen Aufgaben im Vorstand gehört es, die Personalstrategie entsprechend der Geschäftsstrategie auszurichten. Wir wollen wachsen, dabei investieren wir auch mal dreistellige Millionenbeträge in eine neue Produktionsanlage, in der dann mehrere Hundert Leute arbeiten. Wie etwa vor Kurzem in Singapur, aber auch in Deutschland, wo wir eine starke industrielle Basis haben. Fachkräftesicherung hat bei uns daher eine hohe wirtschaftliche Bedeutung. Deshalb tun wir einiges, um Evonik Industries als Arbeitgebermarke zu profilieren – auch im Wettbewerb mit anderen großen Chemiefirmen.

Haben Sie deshalb eine Unternehmensberatung beauftragt, Evonik Industries als attraktiven Arbeitgeber zu positionieren?

Wir haben unser Employer Branding, also unsere Arbeitgebermarke, mit eigenen Mitarbeitern entwickelt. Wir haben ein internationales Projektteam gebildet aus den Bereichen Personal und Kommunikation, aus den operativen Einheiten, aus jüngeren und älteren Mitarbeitern und auch mit den Arbeitnehmervertretern. Gemeinsam haben wir unser Profil herausgearbeitet. Von Medienprofis haben wir uns dann bei Konzeption und visueller Darstellung unterstützen lassen. Unser Ziel dabei: authentisch sein und nicht in Hochglanzbroschüren etwas vorspiegeln, was wir nicht sind.

Gibt es in der Anlage in Singapur auch Arbeitnehmervertretungen?

Dort wurde gerade gewählt. Das ist für uns selbstverständlich. Wir wollen den Austausch mit den Arbeitnehmervertretungen auch an unseren Standorten in Ländern außerhalb Deutschlands führen.

Beachtliche 89 Prozent aller Mitarbeiter von Evonik Industries verfügten im Jahr 2014 weltweit über eine Arbeitnehmervertretung. Wo nicht?

Es gibt Länder, in denen Mitbestimmung gesetzlich ausgeschlossen ist, wie in Saudi-Arabien. Auch in den USA haben wir nicht an allen unserer über 20 Produktionsstandorte Arbeitnehmervertretungen. Nicht, weil wir es verbieten, sondern es die Beschäftigten so wollen.

Als Sie vor vier Jahren Arbeitsdirektor bei Evonik wurden, was hat Sie da am heftigsten herausgefordert?

Bedingt durch die Vorgängergesellschaften der Degussa und der RAG haben wir für unsere rund 21 000 Mitarbeiter in Deutschland 1700 Regelwerke gehabt – wohlgemerkt nicht Tarifverträge, da galt im Wesentlichen der Flächentarifvertrag Chemie. Nach vier Jahren sind wir nun immerhin bei 900 angelangt. Das ist nicht einfach anzugleichen. Wenn ein Mitarbeiter kein Jubiläumsgeld für 25-jährige Betriebszugehörigkeit bekommt und keine Jubilarfeier und ein anderer erhält drei Monatseinkommen plus Feier, dann ist das in ein und demselben Konzern schwierig zu vermitteln – auch für die Betriebsräte. Wir haben daher gemeinsam agiert und argumentiert: Wir sind ein Unternehmen, wir sind auch über den Prozess der Harmonisierung weiter zusammengewachsen.

Ein Projekt, das Ihnen als Arbeitsdirektor am Herzen liegt, ist strategische Personalplanung. Macht das nicht jedes Unternehmen?

Sicher. Eine Personalplanung, zahlengetrieben und jobfamiliengetrieben, das ist in der Tat nicht die Weltneuerfindung. Was uns aber unterscheidet: Wir gehen in den Dialog mit den lokalen Managern und der Mitbestimmung. Welche neuen Geschäfte werden angestrebt? Welcher Personalbedarf ergibt sich daraus? Diese Planungen tragen wir an die Standorte. So erkennen wir frühzeitig Bedarfe und richten die Ausbildung und die Qualifizierung unserer Mitarbeiter darauf aus. Fachkräftesicherung also. Und das schafft hier bei Evonik Industries Mehrwert.

Das hört sich an, als sei alles ganz einfach, ein Räderwerk, das ineinandergreift. Ist das so?

Nein. Natürlich nicht. Es geht immer darum, die Interessen auszutarieren, zu moderieren. Wir wollen einen Ausgleich finden zwischen Geschäftsinteressen, die gerade in wirtschaftlich anspruchsvollen Zeiten nicht immer kompatibel sind mit den Interessen von Arbeitnehmern. Ganz wichtig ist es, frühzeitig miteinander zu sprechen, nicht erst dann, wenn es eskaliert. Dafür ist dieser institutionalisierte Dialog mit regelmäßigen Fixpunkten enorm wichtig.

Gibt es Interessenskonflikte, bei denen der institutionalisierte Dialog versagt hat?

Konfliktstoff bietet etwa die Übernahme von Auszubildenden. Wir sind eines der wenigen Unternehmen bundesweit, die weit über Bedarf ausbilden, mit einer Quote von 9 Prozent, wobei wir uns verpflichtet haben, die Hälfte der Ausgebildeten mit einem unbefristeten Vertrag einzustellen. Und da müssen wir uns schon mal ganz schön strecken, können also manchmal die Quote beim besten Willen nicht halten. Da bleibt die Kritik der Betriebsräte und der Jugend- und Auszubildendenvertretungen nicht aus, und da kann es dann anspruchsvoll werden mit der gemeinsamen Diskussion.

Haben Sie auch deshalb den GenerationenPakt geschmiedet?

Wir streben eine Vorteilssituation für alle Seiten an. Win-win also. Ältere können früher gehen, Jüngere bekommen Sicherheit für ihre berufliche Entwicklung, und für uns gibt es mehr Planungssicherheit. Wir sprechen derzeit die Mitarbeiter der Jahrgänge 1959 bis 61 an. Und weil wir dadurch fünf Jahre vorher wissen, wer gehen wird, können wir die Ausbildung – immerhin dreieinhalb Jahre plus Übernahme in ein Beschäftigungsverhältnis – damit zeitlich synchronisieren. Diese Initiative haben wir von Anfang an zusammen mit den Betriebsräten und der IG BCE gestartet.

Altersteilzeit machen viele Industrieunternehmen. Was ist denn das Besondere bei Evonik?

Bei der Altersteilzeit gibt es keine gesetzliche Förderung mehr. Daher haben wir auf die tariflichen Instrumente umgestellt. Wir nutzen Regelungen aus den Chemie-Tarifverträgen zusammen mit betrieblichen Regelungen. Unsere Mitarbeiter können Freizeit und Entgelt in ein Langzeitkonto einbringen – mit entsprechender Unternehmensförderung. So können sie zwei bis drei Jahre vor ihrem Rentenalter in die Freistellung gehen.

Bei Evonik Industries sind bereits heute nur noch zwei Prozent der Beschäftigten über 60 Jahre. Geht da nicht viel Erfahrungswissen verloren?

Natürlich geht mit jedem Mitarbeiter, der 25 Jahre in einer Produktionsanlage gearbeitet hat, Erfahrungswissen verloren. Das sind Fachkräfte, die durch die Anlage gehen, die Pumpen hören und wissen, wann die nächste Instandhaltung ansteht. So ein Wissen, das kann man nicht von heute auf morgen ersetzen. Deshalb brauchen wir auch einen fünfjährigen Planungsvorlauf.

Was bringt das den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern?

Für die älteren Mitarbeiter ergibt sich aus dem GenerationenPakt in Verbindung mit der „Nahles-Rente“ eine alternative Vorpensionierung mit guten Konditionen: Viele von ihnen arbeiten oft körperlich belastet oder in Schichtarbeit. Für die jüngeren ergeben sich Beschäftigungsmöglichkeiten in unbefristeten Verträgen und damit individuelle Sicherheit für die weitere Berufs- und Lebensplanung.

Zur Person

Thomas Wessel, 52, arbeitet seit vielen Jahren in jener Konzernzentrale in Essen, an der seit 2008 der purplefarbene Schriftzug von Evonik Industries leuchtet – einem Konzern der Spezialchemie, der Plexiglas oder Aminosäuren für Tiernahrung und vieles mehr produziert, weltweit 33 000 Mitarbeiter hat und aus der Degussa und der RAG hervorging.

Und dessen Arbeitsdirektor seit Ende 2011 Thomas Wessel ist, der aus Herten kommt, Fußballfan ist, der mit einer Lehre als Industriekaufmann begann, Betriebswirtschaft studierte und im Personalbereich die Karriereleiter erst in der RAG dann bei Evonik in steten Schritten hochgeklettert ist bis zum Spitzenjob im Vorstand. Was offenbar in der Familie liegt, denn auch der Vater war u.a. Personal- und Sozialdirektor auf Zeche Zollverein, und sein Bruder Ulrich ist jetzt gerade Arbeitsdirektor der RAG Montan Immobilien GmbH geworden. „Zufall“, sagt Wessel. Im Gespräch bezieht er sich vielfach auf „die Mitbestimmung“ und meint damit die Betriebsräte, die Sprecherausschüsse und die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, dessen Vize derzeit Michael Vassiliadis heißt. Evonik Industries ging 2013 an die Börse, hat aber mit der RAG-Stiftung, die 68 Prozent hält, einen stabilen Ankeraktionär.

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