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Magazin Mitbestimmung

: Damit haben viele Arbeitgeber nicht gerechnet

Ausgabe 09/2006

Die IG Metall macht aus dem ungeliebten Trend zur Verbetrieblichung eine Offensivstrategie. Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall sieht das mit gemischten Gefühlen.


Von Jonas Viering
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin. Bis Anfang 2005 war er Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" mit dem Schwerpunkt Arbeitsmarkt und Gewerkschaften.


Als sie alle den Arm hoben zur Abstimmung, da war es sehr still im Raum. Ein besonderer Moment war das, sagt Fritz Janitz von der IG Metall Wuppertal. Ganz rau klingt seine Stimme dabei, obwohl alles schon zwei Jahre her ist. Es ging um eine schwere Entscheidung bei dem Familienunternehmen Kaufmann, Zulieferer der Bahnindustrie, ein typischer Mittelständler. Sollten die Beschäftigten, rund hundert waren es damals, der Forderung des Arbeitgebers nach unbezahlter Mehrarbeit zustimmen?

Oder sollten sie gemäß der Empfehlung ihrer betrieblichen Tarifkommission ablehnen - und Entlassungen riskieren? "Da gab es Gegrummel", sagt Betriebsrat Uwe Lauber. "Aber wir haben gesagt, wir sind nicht zu teuer, uns fehlen die Aufträge, und Mehrarbeit führt da nur zu noch mehr Personalabbau." Die IG Metall hatte die Zahlen des Betriebs geprüft, hatte Vorschläge zur Flexibilisierung der Arbeitszeit und zur Materialdisposition gemacht, erklärt Janitz. "Dem Arbeitgeber reichte das nicht." Fast alle Gewerkschaftsmitglieder, nur sie durften abstimmen, hoben den Arm für das Nein zur längeren Arbeitszeit. Dann kamen die Entlassungen.

Betriebliche Abstimmungen mit Händen und Füßen

Trotzdem sei die Entscheidung richtig gewesen, sagen heute Lauber und Janitz. Bitter, aber richtig. Nun reden Funktionäre fast immer so. Aber die Beschäftigten bei Kaufmann in Wuppertal - und das ist das wirklich Bemerkenswerte hierbei - stimmten nicht nur mit den Händen, sie stimmten auch mit den Füßen ab. Vom Beginn des Konflikts bis zum Nein der Tarifkommission traten mehr Mitarbeiter der IG Metall bei, der Organisationsgrad stieg nach Gewerkschaftsangaben von 63 Prozent auf 66 Prozent. Nach dem Nein fiel er nicht. Er stieg weiter, auf 72 Prozent.

Was hier in Wuppertal passiert, das ist eine kleine Revolution. Nicht, weil die Beschäftigten mit Nein gestimmt haben. Sondern weil sie überhaupt gefragt wurden. Seit Jahren verlangen die Arbeitgeber verstärkt auf betrieblicher Ebene Zugeständnisse von den Beschäftigten. Mit dem Tarifvertrag von Pforzheim hat die IG Metall 2004 das Verfahren formalisiert. Nicht nur in nachgewiesenen Notfällen, sondern auch zu deren Vorbeugung kann in den Betrieben völlig frei vom Flächentarif abgewichen werden, wenn Geschäftsführung und Gewerkschaft sich darauf einigen.

Mit dem Tarifvertrag vom Anfang dieses Jahres wurde der Spielraum noch ein wenig erweitert, Boss und Betriebsrat können sogar ohne die Beteiligung der IG Metall über die Höhe einer Einmalzahlung entscheiden. Lange hatten die Arbeitgeber Veränderungen in dieser Richtung gefordert, und die Gewerkschaft hatte dagegen gehalten. Nun aber übt die IG Metall sich hier und da in Jiu-Jitsu. Ähnlich wie bei dem asiatischen Kampfsport reagiert sie auf Druck nicht mehr mit Gegendruck, sondern sie zieht. Sie gründet betriebliche Tarifkommissionen, so wie in Wuppertal, sie lässt die Mitglieder selbst abstimmen. Und dabei kommen manche Arbeitgeber ins Stolpern.

Betriebliche Tarifpolitik, das war um 1968 herum mal eine Forderung der radikalen Linken. Heute hat sich unter umgekehrten Vorzeichen das Arbeitgeberlager diese Forderung zu eigen gemacht, doch auch auf dieser Seite erinnern manche der alten Kämpen daran, dass der viel bemäkelte Flächentarif Konflikte aus den Betrieben weitgehend herausgehalten hat. Verbetrieblichung hat für die Unternehmen einen Preis, sie kann die Konflikte um Geld und Arbeitszeit zurück aufs Firmengelände bringen, erklärt ein Arbeitgebervertreter, dessen Name nicht genannt werden darf.

Allerdings weist er auch darauf hin, dass sich mit der Globalisierung die Bedingungen grundlegend geändert haben. Fast jedes Unternehmen kann in betrieblichen Auseinandersetzungen heute mit der Verlagerung von Produktion ins billigere Ausland drohen. Eine gleichwertige Drohmöglichkeit besitzen die Arbeitnehmer nicht. Sind die Gewerkschaften angesichts dieser Waffen-Ungleichheit also doch zur Defensive verdammt?

Die IG Metall ist dabei, betriebliche Tarifkonflikte für etwas zu nutzen, das zum Ursprung von Gewerkschaft gehört, das von einer Mischung aus beachtlicher Professionalisierung und blinder Überheblichkeit aber zwischenzeitlich an den Rand gedrängt worden war: Partizipation, die Beteiligung der Belegschaft an Entscheidungen über ihr Schicksal. Aus dem gehassten, gefürchteten, auch geleugneten Trend zu betrieblichen Abweichungen macht die IG Metall eine Offensivstrategie, jedenfalls versucht sie das. "Es geht nicht nur darum, aus der Not eine Tugend zu machen", sagt Oliver Burkhard, Chef der tarifpolitischen Abteilung beim Bundesvorstand der IG Metall.

"Es geht um eine neue Denke: Wir sagen den Mitgliedern nicht mehr, was gut für sie ist, sondern wir finden das mit ihnen gemeinsam im Betrieb heraus." Angefangen haben damit die Bezirke Küste und NRW. Vor allem Detlef Wetzel, Bezirks-Chef in Düsseldorf, hat dabei immer betont, dass das Gewinnen von Mitgliedern oberstes Ziel ist. "Gewerkschaft muss wieder für die Menschen in den Betrieben direkt erlebbar werden", sagt er. "Tarifpolitik findet nicht mehr nur in der Tagesschau statt."

Irritationen im Arbeitgeberlager über neue IG Metall-Strategie

Dabei macht die Gewerkschaft eine Stärke aus ihrer Schwäche. Denn natürlich ist es zugleich eine Entlastungsstrategie, wenn die IG Metall zunehmend die Beschäftigten in den Betrieben in die Verantwortung nimmt. Sie gibt den allumfassenden Stellvertreteranspruch auch deshalb auf, weil sie ihn vielerorts mangels Durchsetzungskraft nicht mehr ausfüllen kann. Wenn nun eine Belegschaft sich im Betrieb für Konfrontation oder für Kooperation oder fürs Nichtstun entscheidet, dann kann sie sich nachher nicht beschweren, irgendwelche Funktionäre seien am Ergebnis Schuld. Auch die Argumentation vieler Arbeitgeber, die bösen Gewerkschafter würden gegen die wahren Interessen der guten Arbeitnehmer entscheiden, greift plötzlich nicht mehr.

Die Strategie scheint zu wirken. In Nordrhein-Westfalen ist der Mitgliederschwund zum Stehen gekommen, dessen Fortgang die Gewerkschaften in ihrer Handlungsfähigkeit bedrohen würde. In Bayern sind sogar Mitgliedergewinne zu verbuchen - und zwar exakt in den Betrieben, in denen es Konflikte gab, so heißt es jedenfalls in der IG-Metall-Zentrale.

Gewerkschaftliche Mitgliedergewinne durch betriebliche Abweichungen, "damit haben viele nicht gerechnet", sagt Thomas Vajna, einer der Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall. Aber er wiegelt ab: "Wenn ein Standort in einer gemeinsamen Kraftanstrengung gerettet werden kann, dann wiegt das aus meiner Sicht schwerer als ein paar neue Mitglieder für die IG Metall."
Ein anderer Grund dafür, dass sich der Mitgliederschwund verlangsamt - noch hält er an - ist schlicht die Entwicklung des Arbeitsmarkts.

Wer seinen Job verliert, tritt meist auch aus der Gewerkschaft aus. In der Metallindustrie aber ist der Arbeitsplatzabbau gestoppt. Manche Arbeitgeber halten Mitgliedergewinne bei betrieblichen Konflikten denn auch nur für ein vorübergehendes Phänomen. Wut im Betrieb, das bringe zwar eine emotionale Mobilisierung, aber die sei nicht von Dauer. Dennoch - die Entwicklung irritiert so manchen im Arbeitgeberlager, zumal dort die Warnungen vor unbeabsichtigten Folgen wohl vernommen werden.

Wer Unruhe befürchtet, soll beim Flächentarif bleiben 

"Kurzsichtig" nennt es etwa der Münchner Arbeitsrechtler Volker Rieble, wenn Unternehmen über Abweichungen vom Flächentarif ihre Kosten senken wollen. "Mittelfristig hat das den fatalen Effekt, dass beim Flächentarif keine Rücksicht mehr auf die schwächeren Unternehmen genommen wird, weil die doch ohnehin ihre Abweichung bekommen", erklärt er. Dadurch könne die Höhe der Abschlüsse in der Fläche steigen. Und das begrenze wiederum auch das von den Arbeitnehmern akzeptierte Ausmaß der Abweichungen nach unten. "Bei den Arbeitgebern führt die Verbetrieblichung zu starker Entsolidarisierung", warnt Rieble. Angreifbar werde der Unternehmer, der eine gewerkschaftlich hoch organisierte Belegschaft hat und als Mittelständler weniger gut mit Produktionsverlagerung drohen kann.

Ganz problematisch sei es, dass bei der Verhandlung über betriebliche Abweichungen vom Flächentarif die Betriebsräte völlig entgegen dem Betriebsverfassungsgesetz faktisch zur Konfliktpartei gemacht würden. Mit Betriebsversammlungen während der Arbeitszeit setzten sie verschiedentlich bereits dem Arbeitskampf ähnliche Druckmittel ein. Konflikte schaukeln sich auf. Und wenn die Gewerkschaft wie in NRW bei betrieblichen Abweichungen Bonusregelungen für ihre Mitglieder herausschlägt, dann könne der Arbeitgeber den Nichtorganisierten irgendwann einzelvertraglich eine Besserstellung anbieten, etwa längere Arbeitszeit mit mehr Bezahlung, meint Rieble.
 
In den Arbeitgeberverbänden werden solche Äußerungen aufmerksam beobachtet, denn Volker Rieble ist auch Direktor eines von den Metallarbeitgebern mitfinanzierten Zentrums für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht (ZAAR). Nicht wenige Arbeitgebervertreter teilen Riebles Skepsis - treten aber aus Pragmatismus weiter für die betrieblichen Abweichungen ein. "Wer die tarifliche Öffnung kritisiert, der muss sich fragen lassen, was die Alternative ist", sagt Vajna von Gesamtmetall. "Die Unternehmen wollen diese Möglichkeit." Wer Sorge habe, betriebliche Debatten brächten zuviel Unruhe, der könne einfach beim Flächentarif bleiben. Andere Arbeitgebervertreter sagen hinter vorgehaltener Hand: Besser als betriebliche Abweichungen vom Flächentarif wäre dessen allgemeine Absenkung. Die aber sei nicht durchsetzbar.

Zwangsläufig: verschärfte Konflikte in den Betrieben
 
Auch Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft erklärt, betriebliche Abweichungen vom Tarif seien für die Unternehmen "eine zweischneidige Sache". Denn verschärfte Konflikte in den Betrieben nutzen nicht nur einer Seite. Selbst der mögliche Mitgliederzuwachs der Gewerkschaft sei für die Arbeitgeberseite nicht eindeutig negativ, erklärt der iw-Ökonom Lesch. "Eine größere Gewerkschaft haut nicht mehr auf den Putz als eine kleinere." Je zahlreicher die Mitglieder, desto eher berücksichtige eine Gewerkschaft auch die externen volkswirtschaftlichen Effekte ihrer Tarifabschlüsse, etwa den Preisauftrieb durch Lohnerhöhungen. Tatsächlich treten hierzulande am aggressivsten gerade kleine Arbeitnehmer-Organisationen auf, etwa die der Piloten oder die der Ärzte.

Eins ist beiden Seiten klar: Betriebliche Tarifpolitik sichert Jobs

"Es ist ein Spagat", so sieht der Politologe Josef Esser von der Universität Frankfurt die Offensiv-Strategie der IG Metall. Ein Spagat zwischen der Bewahrung des Flächentarifs und betrieblichen Abweichungen, zwischen Konfrontation und Kooperation. Das klingt schmerzhaft. "Aber gelingt der Spagat, so geht die Gewerkschaft gestärkt daraus hervor", sagt er. Ob es zu einer positiven Wechselwirkung zwischen betrieblichen Debatten und der gewerkschaftlichen Mobilisierungsfähigkeit kommt, gleichsam zu einer Aufwärtsspirale, das ist offen. Zumal es, wie Esser sagt, "innerhalb der IG Metall Widerstände gibt".

Manche Gewerkschafter fürchteten, ein Zuviel an betrieblichen Kompromissen schwäche die zentrale Handlungsfähigkeit, erklärt der Forscher. Die Offensiv-Strategie sei derzeit noch "ein Projekt des Huber-Burkhard-Flügels", also jener Metaller um den zweiten Vorsitzenden der Gewerkschaft und um den Leiter der tarifpolitischen Abteilung, die vereinfachend oft als Reformer bezeichnet werden. Aber auch der erste Vorsitzende Jürgen Peters, der als vergleichsweise konservativ gilt, hatte auf der tarifpolitischen Tagung der IG Metall im vergangenen Jahr überraschend eine tarifliche Öffnung beim Weihnachtsgeld vorgeschlagen, es sollte je nach Unternehmenserfolg höher oder niedriger ausfallen. In der Organisation ist also vieles in Bewegung.

Gewinner könnten dabei die Arbeitnehmer sein, weil betriebliche Tarifpolitik, wenn es gut läuft, vor allem eines tut: Jobs sichern. Das betonen Arbeitgeber wie Gewerkschafter vielfach in bemerkenswertem Gleichklang. Lange hatten die Arbeitgeber darauf hingewiesen, dass die Ertragsunterschiede zwischen blühenden und welkenden Unternehmen immer größer werden, und hatten deshalb mehr Differenzierung bei den Entgelten verlangt. Grundsätzlich sieht das inzwischen auch die IG Metall so und debattiert seit Jahren über mehr tarifliche Differenzierung. Letztlich erweist sich hier vielleicht, das stimmt, was ein Großteil der Gewerkschafter und ein inzwischen interessanterweise wieder wachsender Teil der Arbeitgeber sagen: dass das Tarifsystem vernünftig funktioniert. Und dass es durchaus flexibel reagieren kann.

Diese Erkenntnis ist nicht unwichtig angesichts einer ungewissen Zukunft. Platzt vorzeitig die Große Koalition oder gewinnt Schwarz-Gelb die kommende Bundestagswahl, könnte erneut der Versuch unternommen werden, den Flächentarif mit gesetzlichen Öffnungsklauseln auszuhebeln. Sollte sich die Rechtslage zu Ungunsten der Gewerkschaft ändern, ist die IG Metall bereits in den Betrieben besser aufgestellt.

Allein die Erfahrungen einer IG-Metall-Verwaltungsstelle wie Wuppertal zeigen, was heute alles möglich ist. Möglich ist das Nein zur Abweichung wie beim Unternehmen Kaufmann, das weiter nur "so graurosa Zahlen" schreibt, wie der Betriebrat Lauber sagt. Auf die Auszahlung der Einmalzahlung von 310 Euro hat er deshalb jetzt zunächst verzichtet, eine Option, wie sie der Metall-Tarifabschluss 2006 auch vorsieht.

Möglich ist, dass die IG Metall in einem Betrieb gar nichts macht, weil die Belegschaft passiv bleibt. So sei das bei einem großen Kfz-Handwerksbetrieb gewesen, erzählt der Gewerkschafter Janitz. Der Betriebsrat war schwach, die Beschäftigten reagierten nicht auf Unterstützungsangebote, nur ein Fünftel war Mitglied: "Da konnten wir nicht die Zwangsbeglücker spielen."

Möglich ist aber auch die Abweichung nach oben. Bei einem Wuppertaler Getriebehersteller hatten vor wenigen Jahren Gewerkschaft und Betriebsrat auf die Zahlung des Weihnachtsgelds verzichtet und auch Personalabbau hingenommen, zugleich aber ein Sanierungskonzept vorgelegt, um die Schließung zu verhindern. Heute arbeiten dort mehr Menschen als zuvor - und die tarifliche Einmalzahlung - auch diese Möglichkeit sieht der Flächenvertrag vor - wurde auf 620 Euro verdoppelt. Ganz offensiv.

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