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Magazin Mitbestimmung

Von JOACHIM F. TORNAU: Bin ich arm, Durchschnitt oder schon reich?

Ausgabe 09/2016

Thema Wer prekär beschäftigt ist, profitiert kaum von der positiven wirtschaftlichen Entwicklung. Immer seltener lässt sich das Versprechen vom Aufstieg durch Arbeit und Leistung in der deutschen Gesellschaft einlösen.

Von JOACHIM F. TORNAU

Als die Bundesregierung zuletzt Rechenschaft ablegte über Armut und Reichtum in Deutschland, da regierte die Union noch mit der FDP. Wenige Monate vor der Bundestagswahl 2013 war das. Während Sozialverbände und Gewerkschaften den vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Regierung als Beweis für die tiefe Spaltung der deutschen Gesellschaft interpretierten, nutzte Schwarz-Gelb die Gelegenheit zum großen Schulterklopfen.

„Der Befund ist überwiegend positiv“, hieß es. Das Armutsrisiko liege unter dem EU-Durchschnitt. Die Kluft zwischen hohen und niedrigen Einkommen sei geschrumpft. Der soziale Aufstieg durch Arbeit funktioniere. Der nicht ganz so positiv klingende Befund, dass die Privatvermögen „sehr ungleich verteilt“ seien, schaffte es da nur in den Entwurf. In der Endfassung des Armuts- und Reichtumsberichts wurde der Satz lieber gestrichen.

Wackeliges Aufstiegsversprechen

In wenigen Wochen, spätestens wohl zu Beginn des Bundestagswahljahrs 2017, soll nun der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht erscheinen. Seit fast zwei Jahren wird an der fünften Ausgabe gearbeitet. Dem 24-köpfigen Gutachtergremium, das die Bundesregierung dabei berät, gehört diesmal auch Dorothee Spannagel vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung an.

Und das Bild, das die Soziologin von der Einkommensverteilung in Deutschland zeichnet, hat mit den Erfolgsmeldungen des letzten Berichts wenig gemein. „Wer einmal arm ist, bleibt zunehmend häufiger auch dauerhaft arm“, sagt Spannagel. „Wer dagegen am oberen Ende angekommen ist, kann sich dieser Position ziemlich sicher sein.“ Wie stark sich die Einkommensverteilung verfestigt hat, hat die Expertin gerade untersucht.

SO WERDEN ARMUT UND REICHTUM BERECHNET

Das mittlere monatliche Nettoeinkommen betrug 2014 in Deutschland 1528 Euro für einen Singlehaushalt und 3209 Euro für eine Familie mit zwei Kindern. Als arm gilt, wer über weniger als 60 Prozent davon, als reich gilt, wer über 200 Prozent davon verfügt. Die Armutsgrenze lag somit bei 917 bzw. 1926 Euro, die Reichtumsgrenze bei 2898 bzw. 6418 Euro. Das mittlere Einkommen ist nicht der Durchschnitt aller Einkommen, sondern der Median. Das heißt: Es gibt genau gleich viele Haushalte, deren Einkommen oberhalb und unterhalb dieser Grenze liegen.

Demnach war die Hälfte der Menschen, die 2013 in Deutschland als arm galten, fünf Jahre zuvor auch schon arm. Das war signifikant mehr als Mitte der 90er Jahre. Noch stärker nahm das Beharrungsvermögen bei den sehr Reichen zu. Einem deutlich gesunkenen Abstiegsrisiko für die Reichsten der Gesellschaft stehen also immer geringere Aufstiegschancen für die Menschen mit den geringsten Einkommen gegenüber. Auf eine einfache Formel gebracht: Einmal arm, immer arm – einmal reich, immer reich. „Diese Entwicklung widerspricht jeder Idee von Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit“, meint Spannagel. „Das Versprechen vom Aufstieg durch Leistung wird nicht eingelöst.“

Die sinkende Einkommensmobilität spiegelt sich auch in den Trends für die zweitniedrigste Einkommensklasse (60 bis 100 Prozent des mittleren Einkommens): Weniger Menschen als noch in den 1990er Jahren gelang es, diese „untere Mitte“ nach oben zu verlassen. Dagegen wuchs der Anteil, der in die Armut abstürzte. „Von der positiven wirtschaftlichen Entwicklung profitieren nur die mittleren bis hohen Lohngruppen“, erklärt die Forscherin. „Wer prekär beschäftigt ist, hat davon wenig.“ Deshalb ändere auch die sinkende Arbeitslosigkeit nichts an der Ungleichheit.

Die Gründe für die immer stärkere Zementierung der Ungleichheit bei den Einkommen liegen für die Soziologin unter anderem in der Zunahme prekärer Beschäftigung, im Ausbau des Niedriglohnsektors und in verfestigter Arbeitslosigkeit. „Auch das Hartz-IV-System trägt dazu bei, indem es Menschen dazu zwingt, schlecht bezahlte Jobs anzunehmen“, sagt Spannagel. Am anderen Ende der Skala wiederum spiele die ungleiche Besteuerung von Arbeits- und Kapitaleinkommen eine große Rolle: Wer arbeitet, muss bis zu 45 Prozent Einkommensteuer zahlen. Wer sein Vermögen für sich arbeiten lässt, kommt mit 25 Prozent Abgeltungssteuer davon. „Das wirkt natürlich verfestigend“, sagt die Wissenschaftlerin.

Löcherige Statistik

Und wie konnte sich die schwarz-gelbe Bundesregierung dann vor drei Jahren mit einem Rückgang der Einkommensspreizung brüsten? Gemessen wird die Verteilung der Einkommen mit dem sogenannten Gini-Koeffizienten der verfügbaren Haushaltseinkommen. Und der ging zwischen 2005 und 2010 tatsächlich leicht zurück. Jedenfalls wenn man ihn, wie in Deutschland üblich, auf Basis des sozio-ökonomischen Panels (SOEP) berechnet – einer Wiederholungsbefragung von mehr als 10 000 Haushalten. Seither allerdings steigt er wieder. Bereits 2012 lag die Einkommenskonzentration fast schon wieder auf dem Rekordniveau von 2005. Und damit um rund 15 Prozent höher als noch gegen Ende der 90er Jahre. Hinzu kommt: Es gibt begründete Zweifel, ob die Einkommen in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre wirklich nicht weiter auseinandergedriftet sind.

MASS DER UNGLEICHHEIT: DER GINI-KOEFFIZIENT

Der Gini-Koeffizient – entwickelt von dem italienischen Statistiker Corrado Gini – kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen. 0 steht für eine absolut gleichmäßige Verteilung: Alle Haushalte verfügen über das gleiche Einkommen. 1 bedeutet dagegen maximale Ungleichheit: Einer hat alles. Nach Daten des EU-Statistikamts Eurostat lag der Gini-Koeffizient in Deutschland im Jahr 2014 bei 0,31 und entsprach damit ziemlich genau dem EU-Durchschnitt. Die geringste Ungleichheit in der Europäischen Union hatte Slowenien (0,25), die größte Estland (0,36).

Nach einer Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung und des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) spricht viel dafür, dass es sich bei der zwischenzeitlichen Annäherung hoher und niedriger Einkommen um ein „datensatzspezifisches Artefakt“ handelt. Denn das zugrunde liegende SOEP sei nur für niedrige, mittlere und gehobene Einkommen repräsentativ, erklären die Wissenschaftler. Millionäre oder gar Milliardäre kämen so gut wie nicht vor. Und damit bleibe auch ihr sehr erheblicher Anteil an den steigenden Gewinn- und Kapitaleinkommen in der Statistik unberücksichtigt.

Wachstumsbremse Ungleichheit

Wie sich die zunehmende Ungleichheit volkswirtschaftlich auswirkt, ist umstritten. Der Sachverständigenrat Wirtschaft hält die Verhältnisse in Deutschland für völlig unproblematisch. „Ein Mindestmaß an Ungleichheit“, schrieben die Wirtschaftsweisen in ihrem Jahresgutachten 2014/15, „ist für eine leistungsfähige Volkswirtschaft unerlässlich, um die Teilhabe möglichst vieler Personen zu sichern und wirtschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen.“ Doch es mehren sich die Stimmen, die einen negativen Einfluss der Ungleichheit auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung konstatieren. Sogar Studien von OECD und Internationalem Währungsfonds (IWF) kamen zu diesem Ergebnis.

„Über den Zusammenhang zwischen Einkommensverteilung und Wirtschaftswachstum besteht in der Forschung kein Konsens“, sagt Jan Behringer, Wirtschaftswissenschaftler am IMK. „Bezogen auf die jüngste Vergangenheit gibt es jedoch starke Hinweise, dass zunehmende Ungleichheit zu einem schwächeren gesamtwirtschaftlichen Wachstum führt – etwa weil die unteren Einkommensgruppen weniger in Bildung investieren können.“ Zudem spreche viel dafür, dass der starke Anstieg der Ungleichheit in einigen Ländern für die weltweite  Wirtschafts- und Finanzkrise mitverantwortlich gewesen sei.

Mehr Ungleichheit bedeute weniger Massenkaufkraft, erläutert Behringer. In Deutschland habe das in den Jahren vor der Krise zu einer schwächeren Binnennachfrage und damit zu sehr hohen Exportüberschüssen geführt. In den USA dagegen, wo die Ungleichheit in jener Zeit ähnlich stark wuchs wie hierzulande, hätten sich zahllose Menschen überschuldet. Der kreditfinanzierte Nachfrageboom im Inland ließ die Außenwirtschaftsbilanz ins Minus rutschen. „Solche globalen Ungleichgewichte zwischen den Leistungsbilanzen der Staaten“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler, „werden als zentrale Ursache der Krise angesehen.“

Steuerpolitische Stellschrauben

Für die Experten der Hans-Böckler-Stiftung steht fest: Der Zunahme der Ungleichheit muss dringend entgegengesteuert werden. Und das sei keineswegs unmöglich, sagt WSI-Forscherin Spannagel – schließlich würden ja auch die Ursachen auf politische Entscheidungen zurückgehen. So sollte die pauschale Abgeltungssteuer abgeschafft werden, damit Kapitaleinkommen nicht mehr gegenüber Arbeitseinkommen bevorzugt werden. „Auch mit einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer sowie einer Anhebung von Erbschafts- und Schenkungssteuer könnte für eine stärkere Umverteilung von oben nach unten und damit für mehr soziale Gerechtigkeit gesorgt werden“, sagt die Wissenschaftlerin. „Da hält sich Deutschland im internationalen Vergleich ja sehr zurück.“ Natürlich könne es dabei hohe Freibeträge geben, betont Spannagel. „Es geht ja nicht um das sprichwörtliche Häuschen der Oma, sondern um die richtig großen Vermögen.“

Am anderen Ende der Einkommenshierarchie sei die Einführung des Mindestlohns ein erster wichtiger Schritt gewesen, meint die Wissenschaftlerin. Doch er reiche nicht aus. „Die Entkopplung von Löhnen und Konjunktur muss dauerhaft beendet werden.“ Die Sozialpartner seien gefordert, sich für eine Stärkung der Tarifbindung einzusetzen. Und: Es brauche mehr Anstrengungen auf dem Gebiet der Bildung. „Um der Reproduktion von Armut entgegenzuwirken, der Weitergabe von Generation zu Generation, ist das ein wesentlicher Schlüssel“, sagt Spannagel.

Dieser letzte Punkt dürfte der einzige sein, über den allgemeine Einigkeit herrscht. Ansonsten aber ist fraglich, ob irgendeine der vorgeschlagenen Maßnahmen im kommenden Armuts- und Reichtumsbericht auftauchen wird. Das Gutachtergremium, dem Dorothee Spannagel angehört, liefert nur empirische Vorstudien. Für Handlungsempfehlungen ist es nicht zuständig. Den eigentlichen Bericht verfasst allein die Bundesregierung – und die kann die Ergebnisse so interpretieren, wie es ihr am besten ins politische Konzept passt.

Spannagel sieht dem Bericht trotzdem mit vorsichtigem Optimismus entgegen: Das Problembewusstsein angesichts der verfestigten Ungleichheit, sagt die WSI-Expertin, sei diesmal sicher größer als einst bei Schwarz-Gelb. Und wem die Interpretation der Bundesregierung nicht passt, der kann seine eigenen Schlüsse ziehen: Das federführende Bundesarbeitsministerium von Andrea Nahles (SPD) legt Wert auf Transparenz und stellt auf einer eigens eingerichteten Internetseite bereits jetzt alle Daten und Zwischenergebnisse öffentlich zur Verfügung.

Fotos: Stephan Pramme, Uli Baatz

WEITERE INFORMATIONEN

WSI-Verteilungsmonitor

Fünfter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung

WSI-Verteilungsbericht 2015

IMK-Report Nr. 108: Querverteilung und Spitzeneinkommen in Deutschland. Einkommensungleichheit – Quo Vadis?

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