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Magazin Mitbestimmung

: Bildung oder Eigenheim?

Ausgabe 11/2004

Die Mängelliste unseres Bildungssystems ist lang, die Innovationsschwäche der Wirtschaft wird oft beklagt. Bei ihrer Beseitigung könnte das Konzept des lebenslangen Lernens eine gewichtige Rolle spielen. Fragen an Professor Dieter Timmermann, den Leiter der Expertenkommission "Finanzierung Lebenslangen Lernens".

Mit Prof. Dr. Dieter Timmermann, Bildungsökonom und Rektor der Universität Bielefeld, sprachen Margarete Hasel und Dr. Winfried Heidemann.

Ist mit der Formel vom lebenslangen Lernen der Königsweg gefunden, um die Schwäche der deutschen Wirtschaft aus den Schlagzeilen zu kriegen?
Das lebenslange Lernen alleine wird die deutsche Wirtschaft nicht an die internationale Spitze befördern, wie das unsere Politiker hoffen. Um insgesamt die Innovationskraft und damit die Produktivitätsentwicklung zu steigern, muss im gesamten Schul- und Hochschulsystem einiges passieren. Schon seit Ende der 80er Jahre wächst unsere Produktivität langsamer als im OECD- und im EU-Durchschnitt.

Wo setzen Sie an?
Stutzig hat uns die Entwicklung des Anteils der privaten und staatlichen Ausgaben für die klassische berufliche Weiterbildung am Bruttoinlandsprodukt gemacht. 1986 waren das 2,15 Prozent - 1999 nur noch 1,62 Prozent. In einer Zeit, in der wir auf die Wissensgesellschaft zugehen!

Die Schwäche der deutschen Wirtschaft beruht auf zu niedrigen Investitionen in Bildung und Wissen?
Deutschland hat eine Innovationsschwäche, wir müssen mehr für Innovationen tun. Eine der Innovationen könnte dabei die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts sein. Aber vor allem geht es um neue Produkte, Dienstleistungen, Verfahren, Werkstoffe - also in erster Linie um Forschung, Entwicklung, Bildung.

Möglicherweise sind die Unternehmen nur ungenügend darauf vorbereitet, das bereits vorhandene Wissen ihrer Beschäftigten abzurufen?
Tatsächlich nutzen wir unsere Talente nur unterdurchschnittlich. Das gilt nicht nur für die Spitzen, sondern für das Lern- und Leistungspotenzial generell. Wir haben europaweit mit die höchsten Abbrecherquoten - in Schule, Berufsausbildung und Studium. Welch eine Verschwendung! Auch die Partizipationsquote in deutschen Unternehmen mit Blick auf Weiterbildung ist niedriger als in vielen anderen Ländern.

Sehen Sie Anzeichen, dass sich ein politisches Lager nun Ihre Vorschläge zu Eigen macht?
Bundesbildungsministerin Bulmahn hat bei der Übergabe des Berichts die Idee des Bildungssparens interessant gefunden - ebenso unsere Vorschläge zur Förderung von Weiterbildung in Klein- und Mittelunternehmen. Schwieriger dürfte die Realisierung eines Bildungsförderungsgesetzes sein. Damit wollen wir die gesamte Lernförderung nach der Schulzeit harmonisieren. Als Zwischenschritt schlagen wir ein Erwachsenenbildungsfördergesetz vor. Dieses zielt insbesondere auf die Gruppe der jungen Erwachsenen, die zwar in Beschäftigung sind, aber weder einen Schul- noch einen Berufsabschluss haben. Für sie wollen wir öffentlich geförderte Möglichkeiten schaffen, das nachzuholen.

Sie schlagen vor, dass Ihre Empfehlungen "im Paket", eins zu eins, umgesetzt werden. Was passiert, wenn dies nicht passiert?
Das ist wie beim Hausbau: Man kann keine Wand weglassen, sonst stürzt die Konstruktion ein. Unsere Empfehlungen sind angelegt auf die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung einerseits und größerer Lebens- und Teilhabechancen andererseits. Schließlich haben wir in anderen Ländern gesehen, dass bedeutend mehr getan werden kann - individuell, aber auch öffentlich gefördert.

Wo?
Dänemark und Schweden haben uns am meisten imponiert. Das sind durchdachte Systeme, stark steuerfinanziert. Weil eine Erhöhung der Steuerquote bei uns zurzeit nicht in den Zeitgeist passt, haben wir solche Finanzierungsvorschläge gar nicht erst aufgegriffen. Dabei bin ich zunehmend überzeugt, dass unsere Steuerreformdiskussion in die falsche Richtung geht. Vor allem sehe ich nicht, dass die steuerliche Entlastung von Familien dazu führt, dass sie mehr in Bildung investieren.

Was hat Sie an den skandinavischen Beispielen überzeugt?
Eine der wichtigsten institutionellen Rahmenbedingung, um lebenslanges Lernen zu fördern: Sie kennen die Zertifizierung von Kompetenzen, egal wo sie erworben wurden. Auch in Frankreich und England ist dies so: Es gibt staatlich anerkannte Agenturen, wo Qualifizierungswillige ihre Kompetenzen testen und zertifizieren lassen können, die sie am Arbeitsplatz oder auch zu Hause erworben haben. Das kann den Weg zum nächsten formalen Abschluss, etwa an einer Fachhochschule oder Uni, zeitlich verkürzen - und spart Geld. Bei uns steckt das völlig in den Kinderschuhen. Außerdem gibt es in Dänemark und Schweden ein Freistellungsrecht der Beschäftigten und ein gesetzlich fixiertes Rückkehrrecht. Wobei die jeweiligen Konditionen, etwa der Zeitpunkt, ausgehandelt werden müssen. In Schweden beispielsweise hat jeder Beschäftigte einen Anspruch auf 180 Wochen - das sind über drei Jahre. Und das wird öffentlich finanziert - sowohl die Maßnahmenkosten wie der Lebensunterhalt bis zur Höhe des Arbeitslosengeldes.

Erstaunlich. Welchen Finanzierungsbedarf haben Sie für Ihre Empfehlungen ausgemacht?
Wir haben unsere beiden großen Finanzierungsinstrumente vom Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik kalkulieren lassen - das Erwachsenenbildungsförderungsgesetz und das Bildungssparen. Die Fraunhofer-Leute haben errechnet, dass das Erwachsenenbildungsfördergesetz zu öffentlichen Mehrausgaben von 250 bis 800 Millionen Euro führen würde. Sie halten von der Teilnahmewahrscheinlichkeit her eine Summe von 500 Millionen für realistisch, wobei mindestens ein Drittel als Darlehen gezahlt würde, so dass die Nettobelastung deutlich niedriger wäre. Auch beim Bildungssparen gibt es eine Schwankungsbreite zwischen 200 und 800 Millionen Euro, wobei zwischen 350 und 500 Millionen wahrscheinlich sind. Rund eine Milliarde im Jahr würden unsere Vorschläge also kosten.

Wie wollen Sie das finanzieren?
Wir sind der Meinung, dass man auf Eigenheimzulage und Wohnbauförderung verzichten können sollte - zugunsten von Bildung. Was die Bundesregierung jetzt propagiert, ist auch Teil unseres Vorschlags zum Bildungssparen.

Mehr Investitionen in Köpfe zu Lasten von Investitionen in Sachvermögen - das hätte auch wirtschaftsstrukturelle Auswirkungen.
Wieso fördert der Staat bei uns nur die Bildung von Sachvermögen, wo sich doch alle einig sind: Das einzige was wir haben, ist das Humankapital. Natürlich unterhält er Schulen und Hochschulen, aber für Erwachsene ist nur die Förderung des Hausbaus vorgesehen. Deshalb schlagen wir vor, die bisherige Vermögensbildung - ein hoch akzeptiertes Instrument - um die öffentliche Förderung von Bildungssparen zu erweitern. Allein aus demografischen Gründen wird "Häuslebauen" für die 30-Jährigen nicht mehr die Bedeutung haben wie in der Vergangenheit. Rechtzeitiges Umsteuern macht Sinn. Wir müssen den Leuten klarmachen, dass sie auch persönlich stärker auf Humankapitalinvestitionen, auf Investitionen in sich selber und ihre Fähigkeiten, umsteigen müssen.

Da sollen oder müssen wir privat schon mehr fürs Alter und für die Gesundheit vorsorgen - und nun auch noch in unsere Bildung investieren. Welche Konsequenzen hat das für die Budgets der Privathaushalte?
Wir haben in der Kommission überaus kontrovers diskutiert, ob wir auch den Ärmsten fünf Euro pro Monat abverlangen sollen, wenn sie für Bildung sparen wollen. Und haben uns dafür entschieden. Auch die Ärmsten können auf eine Packung Zigaretten oder auf zwei Bier im Monat verzichten, um für das Lernen zu sparen. Denn sie kriegen ja nach unserer Vorstellung einen großen Batzen über das Steuersystem dazu. Nach fünf Jahren könnten auf diese Weise rund 2000 Euro auf dem Bildungssparkonto sein. Die meisten Familien werden sich dann sagen: Bevor wir das verfallen lassen, gehen wir zur Volkshochschule und machen einen Kurs. Das ist eine Chance, die Einstellung zum Lernen und die Mentalitäten zu verändern - gerade in diesen Haushalten, die viele schon abgeschrieben haben.

Wofür Geld ausgegeben wird, ist eine Frage individueller Prioritäten?
Bildung spielt leider in vielen Haushalten eine untergeordnete Rolle. Diese Werteskala ist ein gesellschaftliches Problem. Alle Meinungsumfragen zeigen, dass derzeit die Altersvorsorge ganz oben auf der Sorgenskala steht, gefolgt von Gesundheit. Nur 17 Prozent sorgen sich um Bildung. In fast allen anderen Ländern steht Bildung an erster Stelle der gesellschaftlichen Prioritäten. Deshalb geben die Familien in diesen Ländern auch deutlich mehr für Bildung aus. Das muss sich auch bei uns ändern, weil sich aus den ökonomischen Wirkungen von Bildung letztendlich erst die Möglichkeiten speisen, selber für Gesundheit und Rente vorzusorgen. Für die Jüngeren ist das der entscheidende Zusammenhang.

Die Kommission schlägt auch Lernzeitkonten vor. Da kommen die Tarifpartner und die betrieblichen Akteure ins Spiel. Welche Bedeutung soll diese Art von qualitativer Tarifpolitik künftig haben?
Sie soll einen ganz entscheidenden Beitrag leisten. Die Empirie zeigt, dass Branchen und Betriebe mit Lernzeitkonten eine höhere Weiterbildungsquote haben. Das gilt nicht nur für Deutschland. In den Regelungen verankert werden muss in jedem Fall ein Freistellungs- und Rückkehrrecht. Wichtig ist auch die Frage, was bei Konkurs oder bei Betriebswechsel passiert.

Im Augenblick werden Lernzeitkonten, so es sie gibt, eher für kurzfristige Weiterbildungsmaßnahmen verwendet. Sie hingegen plädieren für eine Verknüpfung mit längeren Freistellungen.
Betriebliches Lernen am Arbeitsplatz hat zwar einen hohen, auch wachsenden Stellenwert. Es muss aber immer wieder auch ergänzt werden durch Weiterbildungsphasen außerhalb des Betriebs. Der Einzelne steuert Zeit bei, die er auf Lernzeitkonten angespart hat. Da kann auch der Bildungsurlaub integriert werden. Der Beitrag des Unternehmens besteht darin, die Freistellung zu organisieren und die Rückkehr an den Arbeitsplatz zu garantieren.

Neben der ökonomischen verweist Ihr Gutachten auch auf die politische, gesellschaftliche und kulturelle Dimension von Weiterbildung.
Berufliches Weiterlernen und die allgemeine Weiterbildung müssen sich komplementär zueinander verhalten. Nicht nur die Wirtschaft verändert sich, sondern auch die Gesellschaft. Auch da müssen die Bürgerinnen und Bürger mitkommen, möglichst auch mitgestalten können und nicht nur passive Opfer des Wandels sein. Das erforderliche Wissen bietet in der Regel nicht das berufliche Weiterlernen, sondern eher die allgemeine politische Bildung. Dafür haben wir in Deutschland mit den kommunalen Volkshochschulen eine sehr gut ausgebaute Infrastruktur. Die müssen wir erhalten und stabilisieren.

Die Expertenkommission "Finanzierung Lebenslangen Lernens"

Mit dem Auftrag, neue Strategien für die Finanzierung lebenslangen Lernens zu entwickeln, hatte Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn im Herbst 2001 unter Leitung des Bielefelder Bildungsökonomen Dieter Timmermann eine fünfköpfige Expertenkommission berufen. Ihr gehörten außerdem an: die Betriebswirtschaftlerin Uschi Backes-Gellner von der Universität Zürich, der Soziologie und Vizepräsident des Instituts für Arbeit und Technik Gelsenkirchen, Gerhard Bosch, die Volkswirtschaftlerin Gisela Färber von der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer sowie der Wirtschaftsrechtler Bernhard Nagel von der Universität Kassel.

Unter dem Titel "Finanzierung Lebenslangen Lernens - Der Weg in die Zukunft" hat die Kommission Ende Juli ihren über 300 Seiten starken Schlussbericht vorgelegt. Darin spricht sich die Kommission gegen eine zu enge Fixierung auf den Staat, aber auch gegen eine alleinige Zuweisung von Verantwortung für lebenslanges Lernen an den Einzelnen oder den Markt aus. Unter den vielen Empfehlungen, die auch Anregungen aus der Praxis anderer europäischer Länder aufnehmen, stechen zwei besonders hervor: Bildungssparkonten, die unter anderem eine Idee des Sachverständigenrats Bildung der Hans-Böckler-Stiftung aufgreifen, und betriebliche Lernzeitkonten, die sich insbesondere an die Tarifpartner wenden.

Unter www.forschung.bmbf.de/de/190.php finden sich PDF-Versionen des Schlussberichts, des Zwischenberichts sowie aller in Auftrag gegebenen Studien.
Die Druckfassung ist im W. Bertelsmann Verlag erschienen und unter ISBN 3-7639-3175-9 über den Buchhandel zu beziehen.

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