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Klima-Streik von Schülern im australischen Sydney (2019): Dem Planeten Erde geht es schlecht. Magazin Mitbestimmung

Politik: Auf Messers Schneide

Ausgabe 03/2022

Die Krisenrhetorik ist zurück auf dem politischen Parkett. Das Wort Krise kann Menschen für den Fortschritt mobilisieren. Aber es kann auch selbst zur Gefahr werden. Von Kay Meiners

Bill Anders, einer der Astronauten an Bord von Apollo 8, handelt am Heiligen Abend des Jahres 1968 gegen das Protokoll, als er zur Kamera greift. Auf dem Raumflug, der die Mondlandung im kommenden Jahr vorbereiten soll, sieht er die Erde über der grauen Mondoberfläche aufgehen – und ist überwältigt. Vor dem schwarzen All sieht die Erde aus wie ein wertvoller, funkelnder Opal. Anders macht ein Foto, das zum ersten Mal die Erde als Ganzes zeigt. Unter dem Namen „Earth­rise“, auf Deutsch „Erdaufgang“, wird es zur Ikone. Es ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem globalen Bewusstsein. Der Planet Erde ist eine Solidargemeinschaft. Und es geht ihm schlecht. „Alle Krisen, die die 1970er Jahre in Westeuropa und in den USA zu einem krisenhaften Jahrzehnt machten, wurden als globale Krisen diskutiert: die Öl- und Energiekrisen, die Wirtschafts- und Währungskrise, die Umwelt-, die Überbevölkerungs- und die Welternährungskrise“, so Rüdiger Graf, Historiker am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

Graf hat den Begriff der Krise, seine Konjunkturen und semantischen Verschiebungen im Lauf der Zeit analysiert und zwei Epochen näher untersucht, in denen die Rhetorik der Krise ihre Höhepunkte hatte: die 1920er und die 1970er Jahre. Krise ist für Graf ein Schlüsselbegriff der Moderne. Der Historiker sagt: „Wer von Krise spricht, glaubt daran, dass die Zukunft von der eigenen Aktivität abhängt. Eine Krise ist eine Herausforderung, die man meistern kann.“

Die Welt am Scheideweg?

An solchen Herausforderungen besteht kein Mangel. Deutschland hat die Coronakrise noch nicht verdaut, die EU ist geschwächt, China ist auf dem Weg zur ökonomischen Supermacht – und dem Planeten geht es auch nicht gut. Die Welt stehe an einem „Scheideweg“, heißt es im Bericht „Gemeinsame Sicherheit 2022“ des Internationalen Friedensbüros, der gemeinsam mit internationalen Gewerkschaftsbünden entstanden ist: „Wir sind Zeugen einer globalen Krise, die durch die Unfähigkeit gekennzeichnet ist, den Klimawandel zu stoppen, ein lückenhaftes und ungleiches globales Vorgehen gegen die Covid-19-Pandemie und eine lange Liste von Konflikten, bei denen die internationale Gemeinschaft versagt hat.“

Der Begriff Krise kann, so Rüdiger Graf, „eine komplexe Gemengelage auf eine Entweder-oder-Antwort bringen – mit einer positiven Lösung auf der einen Seite und einer negativen Drohung auf der anderen Seite“. Für Politiker sei das verführerisch. Das gelte auch dann, wenn am Ende ein Kompromiss erzielt werden muss, der verschiedene Interessen unter einen Hut bringt. 

Krise und Hoffnung waren lange ein fruchtbares Paar. In den 1920er Jahren und selbst nach 1929, als Deutschland in den Strudel einer dramatischen Weltwirtschaftskrise geriet, wurde der Diskurs noch überwiegend im nationalen Rahmen geführt, aber dafür mit der Hoffnung auf eine dauerhafte Überwindung der Krise.

Dagegen war der Grundton der 1970er Jahre, als die internationale Zusammenarbeit viel stärker eingefordert wurde, wesentlich fatalistischer und pessimistischer. Die Gleichzeitigkeit von wirtschaftlicher und ökologischer Krise, so Graf, „zerstörte für viele Zeitgenossen die Idee, dass der Mensch den Fortschritt gestalten kann“.

Krisen als Wendepunkte zum Guten zu verstehen, diesem Gedanken hatte sich im 19. Jahrhundert auch die Arbeiterbewegung verschrieben. In der Marx’schen Lehre waren Krisen dazu da, Revolutionen zu verursachen, die dann zu fortschrittlicheren Gesellschaften führten. Doch spätestens in Weimar wurde auch eine dunkle Seite der Krisenrhetorik spürbar, die erklärt, warum Krisenzeiten immer auch die Stunde der Populisten sind. „Gerade an den Rändern des politischen Spektrums gab es die Tendenz, verschiedene Krisen zu einer Gesamtdeutung zusammenzufügen – zu einer einzigen fundamentalen Krise“, erklärt Graf. „Je radikaler das politische Programm, desto dramatischer muss die Krisendiagnose sein, um es zu rechtfertigen.“

Beim DGB in Berlin gibt es eine eigene Abteilung, die aktuellen Trends nachspürt und Impulse für die innergewerkschaftliche Debatte liefern soll: die Abteilung Grundsatzfragen. Ihr Leiter Thomas Fischer weiß, dass viele Menschen, auch in den Gewerkschaften, die Zeiten als krisenhaft empfinden. Und er weiß, dass man mit dem Wort mobilisieren und Politik machen kann. Doch Fischer, der auch im Vorstand der Hans-Böckler-Stiftung ist, hält das Wort für vorbelastet.

Krisenrhetorik höhlt die Demokratie aus

Vorbelastet ist es nicht nur wegen der Prise Fatalismus, die seit den 1970er Jahren mitschwingt. Sondern auch wegen Weimar: weil die Krisenrhetorik der Nationalsozialisten und der Kommunisten dem Zweck diente, die Demokratie zu destabilisieren und eine diktatorische Gesellschaft zu befördern. Es ist ein Punkt, auf den auch Graf hinweist. Fischer redet deswegen aber lieber von „Wandel“, von „Wende“ oder „Transformation“. Worte, die eher vermitteln, dass Veränderung bewältigt und gestaltet werden kann.

Damit will er vermeiden, dass die Veränderungen den Menschen mehr Angst als Hoffnung machen. Nur den Krieg in der Ukraine nennt er eine Krise, die die Hoffnung auf eine friedliche Zusammenarbeit der Völker erschüttert und stark an gewerkschaftlichen Grundüberzeugungen rüttelt. Die Lehre „Nie wieder Krieg“ wird durch einen Aggressor infrage gestellt.

  • Corona-Lockdown in Shanghai: „In der Pandemie kehrte die Krisenrethorik mit aller Macht zurück.“

Der flehende Appell „Die Waffen nieder!“ wird nicht mehr von allen Mitgliedern der Staatengemeinschaft geteilt. Der Krieg und die Sanktionen des Westens haben dramatische Auswirkungen auf die Wirtschaft. Und sie kommen plötzlich, nicht vorhersehbar wie der digitale Wandel oder der Klimawandel. Dagegen schaut der Historiker Rüdiger Graf eher mit sprachkritischer Distanz auf das Phänomen des Krieges. Er sieht im Krieg einen Zustand jenseits der Krise. Eine Krise werde „eher im Vorfeld eines heißen Konflikts dia­gnostiziert“. Der Krieg sei dann „ihre negative Lösung“. Wobei Lösung komisch klingt. Auch Graf rechnet damit, dass der Krieg noch weitere Krisendiagnosen humanitärer Art nach sich zieht: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir bald von Hungerkrisen in Afrika reden werden.“

Die Gewerkschaften waren immer dafür da, die Menschen vor den Schockwirkungen großer Krisen zu schützen. Und schon immer nahmen sie dabei den Staat in die Pflicht. Während der Weltwirtschaftskrise argumentierten sie, wie 1932 in der Gewerkschaftszeitschrift „Die Arbeit“, dass die Kapitalisten versuchten, die Produktion über das gebotene Maß hinaus auszubauen, aber höhere Löhne und mehr Konsum zu verhindern. Sie forderten – gemeinsam mit den Sozialdemokraten – eine Stärkung der Massenkaufkraft und, noch Anfang 1933 im SPD-Blatt „Vorwärts“ , eine „großzügige öffentliche Arbeitsbeschaffung“. Dass diese Arbeitsbeschaffung bald unter ganz anderen Vorzeichen Realität wurde, hatte damit zu tun, dass die Nationalsozialisten die politischen Profiteure der Krise waren.

Der Krisendiskurs der 1970er Jahre fand unter anderen Vorzeichen statt. Er war bestimmt von Publikationen wie dem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome, der eine Selbstbeschränkung des wirtschaftlichen Wachstums forderte. Im Jahr 1972 etwa lud die IG Metall in Oberhausen zu einer visionären Tagung mit dem Slogan „Aufgabe Zukunft: Qualität des Lebens“ ein, auf der Fragen nach der Umwelt- und Lebensqualität diskutiert wurden. Der damalige DGB-Chef Heinz Oskar Vetter forderte: „Wir haben keine andere Wahl, wir müssen radikal brechen mit den bislang unsere Wirtschaft und Gesellschaft beherrschenden Prinzipien des privaten Gewinns und des unkritisch gesehenen Wachstums.“ Bis diese Gedanken gewerkschaftliches Allgemeingut wurden, dauerte es allerdings noch seine Zeit.

Es gibt keine einfache Lösung

Ein halbes Jahrhundert ist seit der Konferenz in Oberhausen vergangen, und die Weltbevölkerung hat sich verdoppelt. Nach Ansicht von
DGB-Vordenker Fischer haben sich seit den Krisendiskursen der 1970er Jahre zwei Interpretationsmuster herausgebildet: „Die einen haben sehr stark auf den Markt gesetzt. Hier liegen die Wurzeln eines neoliberalen Globalisierungsprozesses. Die anderen haben ihren Glauben an den technischen Fortschritt und an das kapitalistische Wirtschaftsmodell aufgegeben.“ Doch beide Wege, die Marktgläubigkeit genauso wie Ideen von Postwachstums­ökonomie und Deindustrialisierung, könnten die heutigen Probleme nicht lösen: „Wir sehen, wie wichtig ein Staat ist, der auch handlungs- und steuerungsfähig ist.“ Ebenso brauche es moderne Technik, die im Sinne gesellschaftlicher Modernisierung eingesetzt werden kann.

Das Wort „Krise“ stammt urprünglich aus der Sprache der Medizin, wo es die Enscheidungsphase zwischen der Genesung als „guter Lösung“„ und dem Tod als „fataler Lösung“ markierte. Wäre es da nicht ein schöner Traum, wenn alle Akteure im politischen Diskurs sich auf Abrüstung verständigten, mit weniger apokalyptischen Metaphern, mehr Dialog und Kompromiss? Aber Politik, zumal öffentliche Politik, funktioniert oft anders.

Während der Coronapandemie hat der Historiker Rüdiger Graf beobachtet, wie „die Rhetorik der Krise mit aller Macht zurückkehrte“. Aufmerksam registriert er auch, wie Klimaaktivisten von der „Klimakrise“ sprechen statt vom „Klimawandel“, um die Dringlichkeit ihrer Forderungen zu betonen, und wie radikale Gruppen aller Couleur neue existenzielle Krisen ausrufen.

Graf erinnert daran, dass Krisennarrative „in den allermeisten Fällen mit politischen Intentionen formuliert worden sind.“ Die Rolle der Öffentlichkeit sieht er darin, die Krisenrhetorik der politischen Akteure zu hinterfragen und Lösungsvorschläge auf ihre Tauglichkeit hin überprüfen. Das heißt nicht, vor großen Problemen die Augen zu verschließen. Aber es heißt, nicht jedem Schreihals hinterherzulaufen. Die radikalste Lösung ist in einer Demokratie nun einmal selten die beste.

Krisen der Neuzeit

1857: Bankenpanik
Während des Krimkrieges hat Europa auf billigen russischen Weizen verzichtet und teurer in den USA gekauft. Jetzt ist der Krieg zu Ende, die Preise sinken, US-Farmer bleiben auf der Ware sitzen. Sie können ihre Kredite nicht zurückzahlen. Bald muss die erste Bank ihre Zahlungen einstellen. Die Krise breitet sich rasch um die Welt aus. Viele Menschen begreifen zu ersten Mal, wie vernetzt die Wirtschaft ist.

1873: Gründerkrise
Die Reichsgründung von 1871 und der Fall der Zollgrenzen sind Dünger für die deutsche Wirtschaft. Überall wird investiert. Doch die Wirtschaft ist überhitzt. Es kommt zum Börsencrash. Für die Industrialisierung ist die Gründerkrise allerdings nur eine Atempause. Interessengruppen organisieren sich verstärkt. In Gotha schließen sich 1875 zwei Arbeiterparteien zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zusammen, der heutigen SPD.

1929: Weltwirtschaftskrise
Die USA sind die führende Wirtschaftsnation der Welt. Viele Länder, auch Deutschland, sind nach dem Weltkrieg hoch verschuldet.
Als 1929 eine Spekulationsblase an der New Yorker Börse platzt, kommt es zur Kernschmelze. US-Banken ziehen Geld aus dem Ausland ab, die Industrieproduktion bricht ein. Die ­Arbeitslosigkeit explodiert. Die Menschen sind verzweifelt. ­Zwischen 1925 und 1933 nimmt die Zahl der Beschäftigten im Reich um 30,3 Prozent ab. Löhne und Renten werden gekürzt.

1973: Ölkrise
Vor allem durch die „autofreien Sonntage“ ist der Herbst 1973 im kollektiven Gedächtnis geblieben. Nach dem Ausbruch des Jom-Kippur-Krieges zwischen Israel und arabischen Staaten unter Führung Ägyptens trifft ein Ölpreisschock die deutsche Wirtschaft. Nachdem die arabischen Ölstaaten ihre Fördermenge drastisch reduzieren, vervierfacht sich der Ölpreis. Es kommt zu Produktionseinbrüchen, Kurzarbeit und Entlassungen. Preise und Löhne katapultieren sich gegenseitig auf immer höhere Umlaufbahnen.

1990: Nachwendekrise
Es ist eine Schocktherapie mit erwartbarem Ausgang: Mit der Wirtschafts- und Währungs­union im Sommer 1990 wird die rückständige und nicht wettbewerbsfähige Industrie der DDR der globalen Konkurrenz ausgesetzt. Zwei Jahre später liegt die ostdeutsche Industrieproduktion bei nur noch einem Viertel des Niveaus von 1989. Mit der Demokratie kommt statt „blühender Landschaften“ erst Arbeitslosigkeit.

2000: Dotcom-Blase
Wer in den 1990er Jahren Millionen von Investoren einsammeln will, benötigt oft weder Kunden noch eine Geschäftsidee. Hauptsache, ­irgendwas mit Internet. Der Siegeszug des World Wide Web nährt die Aussicht auf fantastische Gewinne. ­  Spekulationen auf die Zukunftsaussichten frischer Börsenkandidaten werden ein Volkssport, dem auch viele Kleinanleger verfallen. Als sich abzeichnet, dass viele Unternehmen die Erwartungen nicht erfüllen können, kommt es zum Kurssturz an den Börsen. Internetunternehmen stürzen reihenweise in die Pleite. 

2008: Finanzkrise
Die schwerste Verwerfung seit 1929 ist die ­Folge eines überhitzten Immobilienmarktes in den USA. Als Millionen Amerikaner ihre Raten für Hypo­thekendarlehen nicht mehr bezahlen ­können, löst das eine Kettenreaktion aus. Im September meldet die Großbank Lehman ­Brothers Insolvenz an, was weltweit Panik schürt. In etlichen Staaten kommt es zu ­einer Rezession und zu Ent­lassungen. In Deutschland, wo die ­Regierung einen teuren Banken-
Rettungsschirm auf den Weg bringt und das Kurzarbeitergeld ausweitet, steigt die Arbeitslosenquote nur moderat.

2010: Euro-Schuldenkrise
Die Finanzkrise ist noch nicht ganz verdaut, da trifft es die Staaten Südosteuropas, allen voran Griechenland. Sie haben sich in den ­Jahren zuvor hoch verschuldet – auch um die Finanzkrise abzufedern. Nun wachsen die Zweifel an der Kreditwürdigkeit Griechenlands. Geld bekommen die Griechen nur noch zu immer höheren Zinsen. Das Land kann nur mithilfe der anderen Staaten vor dem Bankrott ­bewahrt werden. Die EU gewährt mehr als 300 Milliarden Euro an Krediten, verordnet allerdings ein drastisches Sparprogramm, das eine tiefe soziale Krise auslöst, die Arbeitslosigkeit auf 27 Prozent ansteigen lässt und Millionen Menschen in Existenznot stürzt.

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