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Illustration: Europa auf dem Stier (Symbolbild) Magazin Mitbestimmung

Demokratie: Auf an die Wahlurnen!

Ausgabe 02/2024

Das Jahr 2024 wird weltweit ein Superwahljahr. Für die Bürgerinnen und Bürger der EU-Staaten ist es Zeit für ein starkes Bekenntnis zu den Werten Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Von Claus Leggewie

Fast die Hälfte der wahlberechtigten Weltbevölkerung wird in diesem Jahr zu den Wahlurnen gerufen, nicht nur in den ostdeutschen Bundesländern, auch in Indien, der bevölkerungsstärksten Demokratie der Welt, in den USA, einer der ältesten Demokratien, und, nicht zu vergessen, in der Europäischen Union. Die kürzlich abgehaltene russische Präsidentschaftswahl darf man undemokratisch nennen, ob eine in der Ukraine stattfindet, ist unsicher. Selbst Diktatoren wie Syriens Baschar al-Assad und Nordkoreas Kim Jong Un stellen sich Scheinwahlen. Das unterstreicht ex negativo die Legitimationsfunktion von Wahlen, die unter fairen Bedingungen den friedlichen Machtwechsel bewirken.

Empirische Studien verzeichnen seit der Jahrtausendwende allerdings einen markanten Rückgang der Zahl der freien Länder, in denen allgemeine, gleiche, geheime und faire Wahlen abgehalten werden. Es gibt zum einen eine populistische Kritik von rechts und links, die Wahlen angesichts des angeblich von selbst ernannten Volkstribunen verkörperten Volkswillens nicht mehr für wichtig hält. Zum anderen gibt es aber einen rechtsradikalen Frontalangriff, der demokratische Wahlen nutzt, um im Fall der Machtübernahme Prinzipien und Prozeduren der Demokratie außer Kraft zu setzen. Das europäische Beispiel ist Ungarn, das sich Schritt für Schritt in eine durch Wahlsiege Viktor Orbáns legitimierte „Zustimmungs-Autokratie“ verwandelt hat.

Nun schauen alle Augen auf die Wahlen zum Europäischen Parlament Anfang Juni dieses Jahres. Alle Augen? Eben nicht, denn auch politisch Interessierte, die ihre Stimme bei Bundes- und Landtagswahlen stets abgeben, mögen den Urnengang am 9. Juni eher schwänzen. Einrichtungen der EU und der politischen Bildung wiederholen ihre seit 1979 bekannten Pro-Argumente. Inzwischen wird ein Parlament gewählt, dessen Befugnisse sich stark ausgeweitet haben. Dass es machtlos sei, kann man nicht mehr behaupten, aber den Ton geben Parteien an, denen es zu mächtig geworden ist. Mindestens ein Drittel der Abgeordneten im Europäischen Parlament, darunter der deutsche AfD-Spitzenkandidat Maximilian Krah, möchte die Europäische Union zurückbauen oder ganz abschaffen.

Die Partei des ungarischen Premiers Viktor Orbán blockiert jeden solidarischen Akt der Mehrheit, nimmt aber gerne Brüsseler Finanzhilfen an, um ihre korrupten Netzwerke daheim zu bedienen. Und selbst die rechtsradikalen Fraktionen, denen Orbáns Partei demnächst beitreten könnte, bohren die Brüsseler Fleischtöpfe gerne an. Ins nächste Parlament werden die Ultrarechten allen aktuellen Umfragen zufolge aus den meisten Ländern mehr Abgeordnete entsenden als bisher. Das setzt die Europäische Volkspartei unter Druck, die einmal mit den Ultrarechten umweltfreundliche Maßnahmen niedergestimmt hat und gerade erst mit einem neuen Versuch beim Naturschutzgesetz gescheitert ist, und schwächt die linke Mitte weiter. Mit einer rechten Mehrheit wären die Klimaziele unerreichbar und der European Green Deal tot.

Auf die massenhaften Straßendemonstrationen der vergangenen Wochen in deutschen Städten muss nun die Mobilisierung der Wählerinnen und Wähler folgen. Auch die rechtsradikale AfD wird notorische Nichtwähler animieren, am
9. Juni ihren Frust über die Bundesregierung und ihren Verdruss über die EU abzuladen. Dagegen müssen sich eine größere Zahl der bisherigen Nichtwähler plus die Erstwähler (dieses Mal ab 16 Jahren) zur Abgabe der Stimme für proeuropäische Parteien entschließen. Ohne diese Mehrheit könnte die EU-Kommission Direktion für Direktion in die Hände der Europagegner fallen. Nicht vergessen darf man dabei, dass die Euro-Rechten der Pudel Wladimir Putins sind, eines Mannes, der EU-Staaten offen bedroht.

Man kann nun erneut alle Vorteile der EU aufzählen – vom zollfreien Warenaustausch über den ungehinderten Reiseverkehr und kostengünstige Erasmus-Studien bis zum roamingfreien Telefonieren. Doch auf die pure Nützlichkeit der EU hinzuweisen und bloß defensiv gegen ultrarechts zu mobilisieren, reicht nicht mehr aus. Die Aggression Russlands und der auch ohne die Wiederwahl Donald Trumps anstehende Rückzug Amerikas aus der Weltpolitik wie auch der Hass von Islamisten auf unseren angeblich gottlosen und verweiblichten Kontinent und die Allianz autokratischer Regime weltweit – all dies ruft dazu auf, über Wohlstandswerte hinaus die Werte Freiheit, Gleichheit und Solidarität zu verteidigen und die Demokratie als Herrschafts- und Lebensform wertzuschätzen. In den Anfängen der Europäischen Gemeinschaft hieß es einmal, ihr heimlicher Geburtshelfer sei Josef Stalin gewesen. Der Massenmörder Wladimir Putin darf nicht ihr Totengräber werden. Also: Demokraten auf! Am 9. Juni zu den Wahlurnen!

Wir wissen, „wie Demokratien sterben“ – so der Titel eines Buches der Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt. Wortreich widmen sich die Experten den Schwächen der Demokratie, doch während die rechten Minderheiten sich eindrucksvoll in Szene setzen können, kommt die Mobilisierung der Mehrheit schwer in Gang. Mutige Richterinnen und Richter und vor allem Frauenbewegungen haben sich quergestellt und eindrucksvolle Massendemonstrationen organisiert; auch dass sie in Hongkong, Belarus, Myanmar und andernorts in brutaler Repression endeten, hat sie nicht kapitulieren lassen. An Beispielen wie dem Wahlsieg der Opposition in Polen muss sich eine wehrhafte Demokratie orientieren, die noch alle Ressourcen ihrer Verteidigung in der Hand hat. Gegen die allgemeine Krisenmüdigkeit und die schrecklichen Vereinfacher müssen sich die nach vorn blickenden Kräfte sammeln, etwa mit einer überparteilichen Parlamentariergruppe, die sich endlich den größten Herausforderungen der Demokratie, dem Klimawandel und dem Artensterben, widmet.

Sie, Kollege und Kollegin, wollten ohnehin zur Wahl gehen? Gut so. Bitte überzeugen Sie eine Person und nehmen Sie sie zu einem Sonntagsspaziergang zum Wahllokal an die Hand.


Der 1950 in Wanne-Eikel geborene Politikwissenschaftler Claus Leggewie gehört seit Jahrzehnten zu den führenden Intellektuellen Deutschlands. Er forscht zu Themen wie Erinnerungskultur, Rechtsradikalismus, Energiewende und kultureller Globalisierung. Bis zu seiner Emeritierung 2017 war er Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung. Zuletzt erschien 2021 das gemeinsam mit Frederic Hanusch und Erik Meyer verfasste Buch „Planetar denken“.

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