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Beratungsgespräch (nachgestellte Aufnahme): Wichtig sind niedrigschwellige Angebote. Magazin Mitbestimmung

Von ANDREAS SCHULTE: Arbeitsschutz: Gute Arbeit im Umgang mit behinderten Menschen

Ausgabe 11/2018

Betriebsrat Mitarbeiter im Heilpädagogischen Zentrum Nettetal lassen sich bei psychischen Problemen beraten. Die beiden Stellen dafür einzurichten, war gar nicht so schwer, findet der Initiator Andreas Bist.

Von ANDREAS SCHULTE

Wie viele Hände Andreas Bist bei seiner Arbeit schüttelt, hat er nie gezählt. Etliche seien es täglich, sagt er. Mancher drückt zu fest zu, andere berühren ihn nur flüchtig und wieder andere greifen zielstrebig nach seiner Hand, selbst wenn er im Gespräch ist. Bist ist routiniert und immer freundlich, redet mit jedem, der es will. Man könnte meinen, mit einem Fußballprofi oder Popstar unterwegs zu sein. Dabei ist der Betriebsrat ein bescheidener Mann ohne Allüren.

Sein Arbeitsplatz sind die Büros und Werkstätten des Heilpädagogischen Zentrums (HPZ) in Nettetal bei Krefeld. Hier produzieren körperlich und geistig behinderte Menschen Verpackungen, montieren Elektroteile oder bearbeiten Hölzer für den Garten- und Landschaftsbau. Viele von ihnen unterbrechen ihre Arbeit, wenn Bist an ihrem Platz auftaucht. Und auch die nicht behinderten Kollegen aus der Betreuung und Verwaltung sind fast immer für einen kleinen Plausch mit Bist bereit – sofern die Arbeit dies zulässt. „Ich suche jeden Tag den persönlichen Kontakt. Man braucht als Betriebsrat das Vertrauen der Leute“, sagt der 40-jährige.

Diese Einstellung hat sich ausgezahlt. Bist genießt breite Unterstützung. Die Arbeit seines Gremiums ist für den Betriebsräte-Preis 2018 nominiert. Er und sein Team haben sich um die psychische Gesundheit ihrer 500 Kollegen an insgesamt neun Standorten verdient gemacht. „Die Arbeit mit Behinderten ist psychisch sehr belastend“, erläutert Bist. Auch wenn allgemein eine freundliche Atmosphäre herrscht, besteht immer die Gefahr von Übergriffen – auch wenn das selten vorkommt. „Zudem haben unsere Kollegen die gleichen privaten Belastungen wie andere auch, zum Beispiel pflegebedürftige Angehörige“, sagt Bist.

Kooperativer Arbeitgeber

Doppelbelastungen – beruflich und privat – können ein Risiko darstellen.  Der Betriebsrat hat daher in Zusammenarbeit mit der betriebsinternen Arbeitsgruppe „Psychische Gesundheit“ eine sogenannte Clearingstelle eingerichtet. Angestellte haben die Möglichkeit, sich kostenfrei bei externen Fachleuten psychologisch beraten zu lassen. Außerdem gibt es im Betrieb nun eine „Psychosoziale Unterstützung“ (PSU). Dort leisten ausgebildete Notfallseelsorger Erste Hilfe für die Seele – etwa nach schweren Unfällen oder bei dem Todesfall eines Kollegen.

Diese zweigleisige psychologische Unterstützung ist in der deutschen Arbeitswelt vorbildhaft.  Zwar ist die Berücksichtigung psychischer Belastungen seit Ende des Jahres 2013 Bestandteil der gesetzlich vorgesehenen Gefährdungsbeurteilung im Betrieb. Doch die wird in Deutschland längst nicht überall ernst genommen. Ein Grund: Die Pflicht zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen liegt beim Arbeitgeber. Doch wer sie vernachlässigt, muss im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern mit weniger Konsequenzen rechnen. Bußgelder werden nur selten verhängt. Hinzu kommt: Längst nicht alle Unternehmen wissen, wie sie vorgehen sollen. Da einheitliche Verfahren noch nicht Standard sind, muss jeder Betrieb seinen eigenen Verfahrensweg finden.

Der Betriebsrat um Andreas Bist hat die psychischen Gefährdungen von Mitarbeitern im Jahr 2016 unter anderem mithilfe einer Umfrage beurteilt – mit Fragen zur Arbeitsbelastung, zum Verhältnis der Mitarbeiter zu den Menschen mit Behinderung oder zur Hilfe beim Konfliktmanagement. „Wir haben bei der Auswertung festgestellt, dass wir psychischen Belastungen vorbeugen können, aber auch in Akutsituationen helfen müssen“, erzählt Bist. Nicht nur die Umfrageergebnisse bekräftigten den Entschluss, etwas zu tun. Eine Kollegin war etwa zur gleichen Zeit von einem behinderten Menschen massiv körperlich angegangen worden. „Niemand von uns wusste, wie wir ihr danach hätten helfen können. Das Gewalterlebnis hat dazu geführt, dass sie wegen der psychischen Auswirkungen sehr lange ausgefallen ist,“ sagt Bist.

Eine typische Folge seelischer Belastungen: Laut AOK dauern Ausfallzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen mit knapp 26 Tagen mehr als doppelt so lange wie der Durchschnitt krankheitsbedingter Ausfälle. Auch Arbeitgeber erkennen daher zunehmend den Wert der Prävention. In einem von der deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung initiierten Forschungsprojekt ließ sich der wirtschaftliche Nutzen vorbeugender Maßnahmen nachweisen. Jeder von Unternehmen eingesetzte Euro brachte einen betriebswirtschaftlichen Nutzen von 1,60 Euro. „Wir sind mit dem Plan einer Clearingstelle bei der Geschäftsleitung auf keinerlei Widerstand gestoßen“, erzählt Bist.

Niedrigschwelliges Angebot

Der Betriebsrat erörterte fortan, welche Form der Beratung die geeignetste ist. „Wir wollten die Hemmschwelle von Mitarbeitern für eine psychologische Hilfe möglichst gering halten. Deshalb war uns schnell klar, dass wir eine Stelle brauchten, die bislang noch nicht in Kontakt mit dem HPZ gestanden hatte.“ Weitere Kriterien: Die beratende Stelle sollte in der Nähe sein, ein garantiertes Kontingent an Beratungsstunden für die Mitarbeiter offenhalten und einen Termin binnen drei Tagen anbieten können.

„Wir haben uns dann die Finger wund telefoniert, aber kaum eine psychologische Praxis war bereit oder in der Lage, uns ein festes Beratungskontingent einzurichten. Fast alle haben ihre Beratungen so eng getaktet, das für unser festes Kontingent kein Platz ist.“ Erst ein Tipp des Betriebsarztes brachte Bist und sein Team auf die Spur von „Intakkt“. Das Krefelder Unternehmen legt einen Schwerpunkt auf die Beratung von Unternehmen in Führungs- Kommunikations- und Organisationsfragen und verfügt über Psychotherapeuten.

„Die Firma konnte alles bieten, was wir uns gewünscht haben“, sagt Bist. Daher hat jeder Mitarbeiter des HPZ seit diesem Jahr die Möglichkeit, anonym bis zu drei einstündige Gespräche mit den Fachleuten von Intakkt zu führen. Als innerbetriebliche Anlässe gelten etwa Konflikte zwischen Kollegen und mit Vorgesetzten, Arbeitsmehrbelastungen oder verbale und körperliche Übergriffe. Doch auch wer zuhause Stress hat, findet Unterstützung.

Gut 70 Beratungsstunden haben Mitarbeiter des Heilpädagogischen Zentrums bei der Stelle seit Beginn des Jahres in Anspruch genommen. Auch Gabi Schmidt (Name geändert) zählt zu ihnen. „Ob Demenz oder Lähmungen nach Unfällen, ich habe die Schicksale der Behinderten im Kopf mit nach Hause genommen“, sagt die Mutter, die im Unternehmen schon seit vielen Jahren Menschen mit Behinderung betreut. „Das hat meine Stimmung gedrückt, und darunter hat dann auch irgendwann meine Familie gelitten.“ Hemmungen, das neue Angebot anzunehmen, hatte sie nicht. Mit der Therapeutin sei sie sofort klargekommen. „Schon die erste Beratung hat sehr geholfen.“ Schließe die negativen Gedanken nach der Arbeit in einen Spind ein – das hatte man ihr geraten. „Das hört sich banal an, aber mit Gedanken so bildhaft umzugehen, das hilft“, sagt Schmidt. „Jetzt muss ich solche Tricks noch verinnerlichen.“

Doch dafür reichen die zwischen dem HPZ und dem Unternehmen Intakkt vereinbarten drei Stunden nicht aus. „Das Beratungsangebot ist Hilfe zur Selbsthilfe und keine Therapie“, heißt es bei Intakkt. Erkennen die Experten aber, dass für Patienten weitere Hilfe nötig ist, geben sie Tipps und vermitteln Hilfsangebote. Gabi Schmidt will nach drei Stunden Beratung dennoch dort bleiben. Betriebsrat Bist prüft derzeit, wie dies trotz des mit dem Arbeitgeber vereinbarten Limits ermöglicht werden kann.

Ende des Jahres wird er die dann vorliegende erste anonyme Statistik von Intakkt auswerten. Sie gibt Aufschluss darüber, auf welchem Gebiet Intakkt beraten hat und welche Anlässe es dafür gab. In jedem Fall wird das Projekt fortgeführt. So ist es mit der Geschäftsleitung vereinbart. „Uns allen ist klar, dass ein solches Angebot nur sinnvoll ist, wenn es ständig verfügbar ist“, sagt Bist.

Kein Hexenwerk

Die im Mai gestartete betriebsinterne „Psychosoziale Unterstützung“ steht noch ganz am Anfang. „Die Stelle versteht sich im Unterschied zur dauerhaften psychischen Betreuung als eine Notfallseelsorge. Sie ist darauf ausgerichtet, fachmännisch in akuten Situationen zu beraten und zu stützen, um den weiteren Verarbeitungsprozess positiv zu gestalten,“ sagt Bist. Ein Beispiel aus einer Zeit vor der PSU: Ein Mitarbeiter war auf dem Weg zur Arbeit schwer verunglückt. Viele Kollegen waren schockiert und hilflos.

Bist leitet die PSU selbst – gemeinsam mit einem Kollegen. Beide haben eine Ausbildung als Notfallseelsorger. Einen einzigen Einsatz gab es bislang. Doch wegen der Schweigepflicht gibt Bist keine Details preis. Ob er andere Betriebsräte zur Einrichtung von Stellen für die psychische Gesunderhaltung von Mitarbeitern ermutigen würde? „In jedem Fall“, sagt Bist. Die Gremienarbeit und Suche nach einem Dienstleister habe zwar lange gedauert, aber Widerstände habe es kaum gegeben. „Eigentlich war alles ganz einfach. Das kann jeder Betrieb einrichten.“

Aufmacherfoto: Karsten Schöne

WEITERE INFORMATIONEN

Für das Projekt „Clearingstelle und Psychosoziale Unterstützung in Akutsituationen“ ist der Betriebsrat des Heilpädagogischen Zentrums Krefeld – Kreis Viersen gGmbH für den Deutschen Betriebsräte-Preis 2018 nominiert. Der Preis wird im Rahmen des Deutschen Betriebsräte-Tages verliehen, der vom 6. bis 8. November 2018 stattfindet.

Alles rund um den Betriebsrätepreis 2018

 

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