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Magazin Mitbestimmung

: 'Das neoliberale Weltbild ist nicht von Dauer'

Ausgabe 01+02/2005

Wenn linksliberale amerikanische Intellektuelle über die wirtschaftspolitische Debatte in den USA berichten, sollten Gewerkschafter die Ohren spitzen. Denn hier zerschellt die angebliche Hegemonie des neoliberalen Diskurses.

Mit Prof. Dr. James K. Galbraith von der University of Texas, Austin, sprachen Margarete Hasel und Herbert Hönigsberger, Sozialwissenschaftler und Politikberater, am Rande des Makroökonomischen Kongresses Ende November in Berlin.

Wozu ist Makroökonomie gut und warum ist eine makroökonomische Debatte in der aktuellen Situation so wichtig?
Massenarbeitslosigkeit ist das Hauptproblem, mit dem sich Europa und Deutschland herumschlagen. Die Lösung bietet allein eine bessere, makroökonomisch fundierte Wirtschaftspolitik. Das steht in völligem Gegensatz zu der weithin geteilten und dennoch absurden Sicht, dass Arbeitslosigkeit durch Lohnkürzungen und mehr Ungleichheit reduziert werden könnte. Der Nachschub an Arbeitslosen wird aber nicht durch die Gewerkschaften, sondern durch die Europäische Zentralbank kontrolliert. Ein Politikwechsel muss nicht allein durch sie eingeleitet werden, aber dort muss die politische Umkehr anfangen.

Wo liegen die Wurzeln der ökonomischen Probleme? In der Weltwirtschaft oder in Europa?
Es gibt kein zwingendes externes Hindernis für höheres Wachstum und mehr Beschäftigung in Europa. Alle Probleme sind hausgemacht - Ursache sind interne Regeln und Verfahrensweisen der Europäischen Union, eingefahrene Denkgewohnheiten der Ökonomenzunft und der politischen Entscheidungsträger. Europa kann ein höheres Beschäftigungsniveau erreichen. Nichts hält es dabei auf, nur Europa selbst.

Unsere Neoliberalen raten penetrant dazu, den amerikanischen Weg einzuschlagen. Die USA durchliefen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine sehr kreative Periode der Wirtschaftspolitik. Der "New Deal" schuf Institutionen, die den Kontinent ökonomisch zusammengeschweißt haben, damals 48 Staaten mit weitgehend unabhängigen und sehr unterschiedlichen Ökonomien. Der New Deal kreierte ein kontinentales System sozialer Sicherheit, eine nationale Wohnungsbaupolitik, den Mindestlohn und eine flexible Geldpolitik.

All dies machte die USA zu einer effektiven Volkswirtschaft. 1944 wurde die Wirtschaftspolitik gesetzlich verpflichtet, Vollbeschäftigung zu sichern. 1978 wurde ein Zusatzgesetz verabschiedet, das Vollbeschäftigung, stetiges Wirtschaftswachstum und angemessene Preisstabilität zum Ziel der Geldpolitik und jeder Wirtschaftspolitik deklarierte. Unsere Zentralbank hat eben nicht allein Preisstabilität zum Ziel. Dinge dieser Art kann Europa von den USA lernen. Aber das sind keine neoliberalen Lektionen.

Und was treibt die Bush-Administration heute?
Die Bush-Regierung ist ein Feind des sozialen Fortschritts des 20. Jahrhunderts. Sie unternimmt alle Anstrengungen, die Institutionen, die in den 30er und 60er Jahren geschaffen wurden, zu demontieren. Zwar gibt es das soziale Sicherungssystem noch, ebenso Medicare und Medicaid, beides Programme der Great Society, die von Lyndon Johnson etabliert wurde. Auch der Mindestlohn existiert noch, auch wenn er nicht so hoch ist, wie er sein sollte. Die Bush-Administration ist entschlossen, diese Institutionen endgültig zu schleifen. Aber bis jetzt hat sie es nicht geschafft.

Was macht die USA immer noch zu einer der dynamischsten Regionen der Welt?
Wir sind nicht mehr so dynamisch, wie wir mal waren. In den letzten vier Jahren durchliefen wir eine Phase wirtschaftlicher Stagnation, obwohl sich die Wirtschaft immer noch besser als in Europa entwickelte. Die amerikanische Dynamik der späten 90er Jahre beruhte auf dem Technologiesektor. Aber Stabilität haben der Ökonomie die weichen, die sozialen Sektoren eingezogen: Wohnungsbau, höhere Bildung, Gesundheitsvorsorge. Diese Faktoren sind gewichtiger als in Europa. Sie haben sichergestellt, dass die Ökonomie nicht zusammenbrach und der Konsum weiter expandierte, obwohl der Technologiesektor kollabierte.

Und dazu kam doch gewiss der viel beschworene flexible Arbeitsmarkt.
Im Gegenteil: So besonders flexibel sind unsere Arbeitsmärkte gar nicht. Wir haben Boom und Vollbeschäftigung nicht durch Lohnkürzungen erreicht, sondern gerade mit steigenden Löhnen am unteren Ende des Lohngefüges. Sicher ist die Ungleichheit in den USA ausgeprägter als in Deutschland, aber Europa als Ganzes und die USA liegen nahe beieinander. Und die Lohnstruktur in den USA ist nicht wesentlich ungleicher als in Europa.

Was macht die deutsche Regierung richtig, wo liegt sie falsch?
Einige der Maßnahmen der Agenda 2010 sind unausweichlich und unvermeidlich, aber sie werden das Problem der Arbeitslosigkeit nicht lösen. Es fehlen Nachfrageimpulse, die die verfügbare Arbeit in Jobs absorbieren, die zu den Fähigkeiten des Arbeitskräftepotenzials passen. Deutschland hat gut ausgebildete Arbeitnehmer, und die Qualifikationen sind weniger ungleich verteilt als in den USA. Aber die Leute finden keine angemessene Beschäftigung. Das ist zum Teil ein Nachfrageproblem und zum Teil ein institutionelles Problem.

Was meinen Sie damit?
Für mich ist schwer nachvollziehbar, dass auf der Liste der 50 führenden Universitäten der Welt nur eine einzige deutsche steht: Heidelberg, auf Platz 47. Vor 100 Jahren waren die deutschen Hochschulen die bedeutendsten der Welt. Wer sich in Amerika professionell mit Ökonomie befasste, ging nach Deutschland. Die Physik war in Deutschland konzentriert. Auch heute fehlt es nicht an Geld für große Universitäten. Und es mangelt nicht an Talenten, die man dort versammeln könnte. Es ist eine Frage, wie man die Ressourcen bündelt. Und ob man einen Plan und die Energie hat, es zu tun.

Welche Rolle spielen die Gewerkschaften und die Löhne für die Beschäftigung?
Es gibt keine Hinweise, dass die deutschen Gewerkschaften in den vergangenen Jahren verantwortungslos gehandelt und die Preisstabilität gefährdet hätten. In Deutschland gibt es schon seit langem kein inflationäres Umfeld mehr. Und der Nachdruck, der verschiedentlich auf die Lohnhöhe als Beitrag zur Lösung des Arbeitslosenproblems gelegt wird, erscheint deplaziert. So der Vorschlag dieses Herrn Sinn (Hans-Werner Sinn, Direktor des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München, d. Red.), die Löhne für die unqualifizierten Arbeiter um 30 Prozent zu kürzen.

Was ist der Unsinn bei Sinn?
Der Vorschlag kürzt die Löhne in Ost und West gleichermaßen. Dieselbe Lösung für eine Region mit acht Prozent Arbeitslosen und einer in der die Quote doppelt so hoch ist, bürdet den westdeutschen Arbeitnehmern enorme Lasten auf. Am Ende dürfte der Nutzen - wenn überhaupt - nur gering sein. Alternativ könnte man nur den Arbeitnehmern im Osten weniger zahlen, denn ihnen fehlt es besonders an Arbeit. Aber die Entscheidung zur Vereinigung kann weder Herr Sinn noch sonst wer rückgängig machen. Die Aufgabe ist also, Beschäftigung zu den Menschen in Ostdeutschland zu bringen - und zwar zu den Standards, nach denen zu leben sich alle Deutschen entschieden haben.

Wie macht man expansive Politik nach Maastricht?
Der Kernpunkt in Deutschland ist die außerordentliche Kaufzurückhaltung der Haushalte. Sie haben exzessiv Ersparnisse akkumuliert - im Gegensatz zu den USA, wo die Haushalte in der letzten Dekade kaum etwas erspart haben. Die Situation wird noch schlimmer, weil die älteren Deutschen ihr Geld an eine Generation vererben, die zahlenmäßig abnimmt. Dadurch wird der Reichtum noch mehr konzentriert. Nun kann der Staat zur Finanzierung seiner Ausgaben Steuern erheben oder Schulden machen. Wenn sich eine Gesellschaft verschuldet und konsumiert, könnte es funktionieren, aber das verletzt die Maastricht-Kriterien. Wenn der Staat höher besteuert, muss er diese Ambition über beträchtliche politische Hürden hieven.

Haben Sie für dieses Dilemma auch eine amerikanische Lektion bereit?
Die Besteuerung von Erbschaften mit großzügigen Ausnahmen für wohltätige Zwecke. Die Wohlhabenden können ihren Reichtum vererben. Aber wenn sie nicht wollen, dass der Staat absahnt, dann müssen sie ihr Geld einer Stiftung, einer gemeinnützigen Institution oder einer Kirche vermachen. Wir haben mit diesem Mechanismus im Non-Profit-Sektor sieben Prozent des US-Sozialprodukts in Bewegung gesetzt. Der Effekt ist ein Ausgabenstrom für soziale Zwecke. Leute werden beschäftigt, die hier leben und Dienstleistungen anbieten. Und nicht die Regierung spezifiziert zentral die Ausgaben, sondern eine Menge Leute entscheiden dezentral. Es lassen sich viele soziale Innovationen denken, die in Jobs münden und zu den vorhandenen Qualifikationen passen. Das geht auch innerhalb der Maastrichtkriterien.

Eurostärke, Dollarschwäche: Was sind die Gründe? Und wohin führt das?
Die USA haben jahrelang hohe Defizite produziert. Im Gegenzug haben vor allem die Bank von Japan und die Bank von China große Dollarreserven angehäuft. Die Dollarbesitzer scheinen jetzt ihre Devisen in einem gewissen Umfang zu diversifizieren. Das drückt den Dollar. Doch die Bush-Administration hat keine fundamentalen Einwände gegen einen niedrigen Dollar. Die großen Dollarhalter und die anderen Gläubiger der USA müssen zusehen, wie ihre Vermögenswerte dahinschmelzen. Dagegen steigt der Wert der in Dollar notierten Aktien, steigt der Dollarpreis für Öl, profitieren amerikanische Aktionäre und Ölgesellschaften. Und natürlich ist der niedrige Dollarkurs gut für die amerikanischen Wettbewerber auf den internationalen Märkten.

Und die Folgen für Europa und die Welt?
Der Wechselkurs übt Druck auf Europa aus, intern zu expandieren. Denn es macht die europäische Wettbewerbsposition schwieriger und unterminiert den klassischen Wunsch der Deutschen und anderer Europäer, von externer Nachfrage zu profitieren. Für die USA, aber auch für den Rest der Welt wäre es schlechter gewesen, sich in der Verteidigung des Dollars zu engagieren. Dann wären die Zinsen gestiegen, und der Rückgang der Binnennachfrage in den USA hätte wahrscheinlich eine weltweite Depression eingeleitet.

Gibt es einen Zusammenhang mit der internationalen Lage, mit dem Irakkrieg?
Ein Teil der weltweiten Dollarhalter verliert das Vertrauen in die USA. Die US-Ökonomie der 90er Jahre war attraktiv, weil sie die Zukunft vorwegzunehmen schien. Wir hatten Frieden. Und wir pumpten hoffnungsfroh und fröhlich Geld in neue Technologien und neue Unternehmen. Alles vorbei. Nun wird Amerika weltweit als eine unberechenbare, ja räuberische Macht gesehen, die ein bizarres Interesse an der physischen Kontrolle von Ölfeldern hat. Und in dem Ausmaß, in dem diese Vorstellung das amerikanische Image prägt, hat es bedauerliche Effekte auf die Menschen, die nicht in den USA leben, aber Vermögenswerte in Dollar halten.

Hat die neoliberale Angebotsökonomie gesiegt?
In der Ökonomie als akademischer Disziplin und auf den Hochschulstellen dominieren konservative oder sogar reaktionäre Positionen. Aber in der amerikanischen Szene haben die rein theoretisch orientierten Ökonomen und insbesondere die Konservativen aufgehört, an ernsthaften politischen Debatten teilzunehmen. Zwar hat bei diesen Professoren die Theorie häufig neoliberale politische Implikationen. Aber öffentlich vertreten werden die neoliberalen Positionen vor allem von Think-Tank-Ideologen, die zum größten Teil kein besonderes Ansehen als Wissenschaftler genießen.

Umgekehrt sind die akademisch ernst zu nehmenden Ökonomen, die auch in der öffentlichen Debatte machtvoll präsent sind, vor allem Keynesianer und denken progressiv. Ich erinnere an Joe Stiglitz oder Paul Krugman. So gesehen ist die öffentliche Debatte gar nicht so asymmetrisch. Denn einige wenige Leute, die von ökonomischen Fragen wirklich etwas verstehen und sich gegenüber Öffentlichkeit und Politik klar artikulieren können, wiegen eine ganze Phalanx von Leuten auf, deren Ideen keinen irgendwie fundierten Zusammenhang haben.

Ist die neoliberale Dominanz von Dauer?
Die Neoliberalen glauben, dass Regeln befolgt werden müssen, dass Tugend belohnt und Laster bestraft werden muss. Diese Ideen haben ihre Wurzeln in der Theologie und nicht in einer wissenschaftlichen Ökonomie. Die Reputation von Leuten, die sich auf ein derart schlichtes Weltbild stützen, kann nicht von Dauer sein. Man kann kohärente, vorwärts weisende Gedanken zur Wirtschaftspolitik nicht mit diesen Lehren versöhnen, die gegenwärtig auch in der europäischen Ökonomie vorherrschen.

Hochkarätiger Kongress

Als ernst zu nehmender Gesprächspartner für den "makroökonomischen Dialog" zwischen Politik, Zentralbank und Sozialpartnern, den DGB-Chef Michael Sommer gerne in Deutschland etabliert sehen möchte, haben sich die Gewerkschaften mit ihrem "Makroökonomischen Kongress" Ende November in Berlin bestens positioniert: In Kooperation mit dem DGB hatte die Hans-Böckler-Stiftung einen kontrovers-konstruktiven Streit um den optimalen Mix aus Geld-, Finanz- und Lohnpolitik organisiert - einen Mix, der "Wege zu nachhaltigem Wachstum, Beschäftigung und Stabilität", so der Untertitel der Veranstaltung, weisen soll.

Auf den international besetzten Foren stritt sich u.a. Dennis Snower, der neue Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, mit Peter Bofinger von der Universität Würzburg, der derzeit im Sachverständigenrat die Fahne der Keynesianer hochhält und damit für einigen Wirbel sorgt, und James K. Galbraith - siehe Interview - konfrontierte Ottmar Issing, Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank, mit seiner Kritik an der Politik der EZB; Albrecht Müller, Autor des Buches "Die Reformlüge", nutzte das Forum für eine Abrechnung mit seiner Ökonomenzunft.

Den Stellenwert, den der DGB und seine Stiftung künftig der notwendigen Erweiterung der wirtschaftspolitischen Optionen einräumen, verkörperte nicht zuletzt der Ex-DIW-Konjunkturforscher Gustav A. Horn: Er stellte auf der Veranstaltung das bei der Hans-Böckler-Stiftung neu gegründete "Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung" vor, dem er inzwischen als Direktor vorsteht.

Eine Dokumentation des Kongresses wird vorbereitet.

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