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Magazin Mitbestimmung

Management: Agil, Plattform, Start-up? Immer mit der Ruhe!

Ausgabe 04/2019

Geschäftsmodelle, die auf Daten bauen, Manager, die auf Selbstorganisation setzen: keine Revolution ohne Übertreibung. Aber Unternehmen brauchen auch Verlässlichkeit. Von Hans-Erich Müller, Professor für Organisation und Management an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin

Revolution

In seiner Fortune-500-Liste erfasst das US-Magazin Fortune jährlich die umsatzstärksten Unternehmen der Welt. Seit der Jahrtausendwende hat die Digitalisierung die Hälfte der Unternehmen aus dieser Liste hinausbefördert und neue an ihre Stelle gesetzt. Daten sind das Gold der digitalen Wirtschaft. Die Unternehmen, die sie beherrschen, verändern die Welt. Aber der Gipfel der überzogenen Erwartungen scheint überschritten zu sein. Gegenkräfte werden sichtbar.

Mehr Agilität ist das Ziel vieler Unternehmen, die den neuen Champions nacheifern wollen. Aber im aktuellen Managementtrend wird darunter vor allem mehr Dynamik verstanden – also Schnelligkeit und Flexibilität –, nicht, was ebenso dazugehört: Stabilität. Angesagt sind nicht nur agile Methoden wie Design Thinking, Scrum und Lean Startup. Planung und Regeln sind keineswegs überholt. Hybrides Projektmanagement kombiniert agile und herkömmliche Planung.

Plattform

Anbieter mit Internetplattformen verdrängen klassische Wettbewerber. Führende Internetunternehmen wie Airbnb, Uber und Alibaba vermitteln nur zwischen Produzenten und Konsumenten, besitzen aber keine Hotels, Autos oder Lager. Zugleich entstehen neue Chancen für Anbieter der Wertschöpfungskette. Amazon ist Onlinehändler, Logistiker und Cloud-Betreiber und unterhält daneben seine Marketplace-Plattform für unabhängige Händler.

Etablierte Unternehmen mit ausgeprägten Hierarchien und großem physischem Vermögen, wie Daimler, Siemens und Samsung, entwickeln erfolgreich eigene Plattform-Ökosysteme. Doch lassen diese sich nicht generell auf die ganze Wirtschaft übertragen. Physische Produkte unterscheiden sich von der Softwareentwicklung, die sich in kleinste, passgenaue Schritte zerlegen lässt. Was wirklich funktioniert, hängt vom Kontext ab, von den je nach Land, Branche und Organisation unterschiedlichen Bedingungen.

Führung

Gleiches gilt für die angesagten Formen der Selbstorganisation, das Führen ohne Chef. Denn in jeder Organisation besteht die Notwendigkeit, Zuverlässigkeit und Anpassungsfähigkeit auszubalancieren. Der amerikanische Onlinehändler Zappos, die Softwarefirma Netcentric aus der Schweiz oder die Onlinebank IngDiBa aus den Niederlanden versuchen sich in solchen Konzepten, während andere sie bereits wieder abgeschafft haben.

Enthierarchisierte Strukturen können Organisationen anpassungsfähiger und beweglicher machen. Aber Unternehmen sollten diese Ideologie nicht pauschal übernehmen. Sie müssen sich auch fragen, ob die Menschen die beständigen Reorganisationen aushalten. Agilität kann mehr Selbstbestimmung bedeuten, aber auch mehr Druck und Verunsicherung. Die Frage ist, ob sich das Konzept agiler Innovationsteams, das aus der Softwareentwicklung stammt, in der gesamten Organisation durchsetzt oder nicht.

Regeln

Es hängt stets von den Bedingungen ab, ob und inwieweit agile Methoden und Formen der Selbstorganisation geeignet sind. Eine Kombination von herkömmlich planerischen Methoden und agilen Vorgehensweisen wird häufig wirksamer sein. Die Stärken agiler Methoden liegen auf Feldern hoher Unsicherheit, in denen es auf Kreativität und Intuition ankommt, also bei Start-ups und Innovationen. Die herkömmliche Planung ist indessen überlegen, wenn es um Effizienz und Stabilität geht. 

Es geht um das Beste beider Welten durch integrative Führung. Das sagt auch Managementvordenker Roger Martin, derzeit weltweit auf dem ersten Platz. „Zuerst brich alle Regeln!“ ist die verlockend revolutionäre Botschaft. Aber kann auf vernünftige Planung verzichtet werden? Wenn es schon beim Fußball nicht ohne Regeln geht, wie dann erst im Unternehmen, einer weit komplexeren Organisation? Agiles Management heißt, je nach Situation die Vorteile der Dynamik nutzen und die Stabilität bewahren. Die Mitbestimmung im Betrieb und im Unternehmen einzubinden ist dabei unverzichtbar.

Strategie

Apple, Alphabet, Amazon: Ein Triple A steht an der Spitze in der Fortune-Liste der „World’s Most Admired Companies“. Der Erfolg dieser Unternehmen beruht nicht so sehr auf besseren Produkten, sondern auf einer Plattformstrategie, einem neuen Geschäftsmodell, das auf digitalen Daten beruht. Aber Apple und Amazon verfügen auch über eine physische Pipeline für Produkte, Logistik, Dienstleistungen – eine klassische Wertschöpfungskette. Beides ist also möglich.

Anders als im ersten Maschinenzeitalter, beim mechanischen Webstuhl und der Dampfmaschine, sind es heute nicht nur die intelligent vernetzten Produkte in der Industrie (Industrie 4.0), die die Umwälzungen beschleunigen, sondern auch die Bedürfnisse der Endkunden nach smarten Lösungen und das Internet der Dinge. Es reicht nicht mehr aus, wenn ein Automobilhersteller neue Fahrzeuge auf den Markt bringt. Heute geht es um Mobilitätslösungen, die neue Akteure und Kooperationspartner begünstigen.

Macht

Nicht nur finanzielle Ziele sollten die Unternehmensziele dominieren, auch Nachhaltigkeitsziele und die Wirkung auf den Wettbewerb muss man beachten. Denn die Plattformstrategie ist ein Muster, bei dem Netzwerkeffekte die Tendenz zur Daten- und damit Machtkonzentration begünstigen. Je größer und datenreicher ein Netzwerk ist, umso effizienter ist es.

Die Dominanz der amerikanischen und chinesischen Internetkonzerne und deren Bestreben, in klassische Pipeline-Branchen vorzudringen, führt bereits heute dazu, dass Automobilhersteller, Handels- und Finanzunternehmen unter Druck kommen. Kooperationen, um eigene Plattformen zu entwickeln, können dem entgegenwirken. 

Mythos

Der Mythos des Start-ups zehrt stark von den Internetgründungen im Silicon Valley, von denen einige sehr erfolgreich waren und zu marktbeherrschenden Unternehmen geworden sind. Übersehen wird oft, dass die meisten Start-ups scheitern. Ein innovatives Geschäftsmodell und skalierbares Wachstum sind Merkmale eines Start-up-Begriffs, der auch für ein neues Geschäftsfeld eines etablierten Unternehmens oder im Netzwerk steht. Lean Startup ist ein Konzept, das an die klassische Lean Production, agile Methoden und eine agile Geschäftsmodellentwicklung anknüpft. 

Weil die Ungewissheit in dieser Phase hoch ist, sucht man so früh wie möglich den Kontakt zum Kunden mit einem „Minimum Viable Product“, einem Produkt in einer frühen Entwicklungsphase, das aber bereits funktioniert.„Fail fast, fail cheap“ ist das Mantra. Scheitere schnell, und scheitere billig. Diese Methode stößt in der industriellen Welt aber an Grenzen. Die Kooperation zwischen etablierten Unternehmen und Start-ups kann eine Methode sein, um Grenzen zu überwinden, die vermutlich umso erfolgreicher ist, je mehr auch die Unterschiede anerkannt werden.

Reife

Das Konzept der „digitalen Reife“ des Massachusetts Institute of Technology (MIT) beschreibt, wie Organisationen sich an die digitale Umwelt anpassen. Maßgeblich ist eine starke digitale Geschäftskultur, die Risikobereitschaft, Zusammenarbeit, Agilität und fortlaufendes Lernen anstrebt. Digital reife Organisationen verändern die Systeme, durch die Mitarbeiter organisiert und entwickelt werden, fördern digital inspirierte Kulturen und Erfahrungen und haben langfristige Planungshorizonte. Sie breiten kleine digitale Experimente unternehmensweit aus, ziehen digitale Talente an und haben Führungskräfte, die digitale Strategien mit einer Vision durchsetzen und dafür Ressourcen zur Verfügung stellen. 

Auch nach einer aktuellen McKinsey-Umfrage hält die Transformation der Unternehmenskultur und der Arbeitsweisen den Spitzenplatz bei den wichtigsten Führungsthemen für eine agile Organisation. Die digitale Transformation erhöht die Komplexität und Dynamik und die damit verbundene Ungewissheit. Agiles Management, Plattform-Geschäftsmodelle und Start-ups sind Schlüsselthemen der digitalen Transformation. Doch agile Methoden sind mit Risiken verbunden. Deshalb ist eine integrierte Sicht unterschiedlicher Perspektiven fruchtbar. Darin liegt der zentrale Stellenwert der Mitbestimmung für eine erfolgreiche Unternehmensführung. 

Weitere Informationen

Hans-Erich Müller: Agil, Plattform, Startup – jenseits des Hypes. Working Paper Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung, Nummer 109, 2018 

Agiles Management – drei Fragen an Hans-Erich Müller (Video)

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