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Thorsten Schulten/Johannes Specht, 15.06.2020: Tarifpolitik und Mindestlohn: Aktuelle Erfahrungen aus der Systemgastronomie

Der jüngst abgeschlossene Tarifvertrag für die Systemgastronomie ist das Ergebnis einer neuen Tarifpolitik im Niedriglohnsektor, die auf eine grundlegende tarifpolitische Aufwertung der Branchen zielt, und zugleich ein Beispiel dafür, wie die zukünftige Anpassung des Mindestlohns aussehen könnte.

Im März 2020 wurde zwischen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und dem Bundesverband der Systemgastronomie (BdS) ein neuer Tarifvertrag abgeschlossen, der ausgehend von einem Entgeltniveau nahe am Mindestlohn eine schrittweise Erhöhung der unteren Entgeltgruppen auf 12 Euro pro Stunde vorsieht. Der Tarifvertrag ist das Ergebnis einer neuen Tarifpolitik im Niedriglohnsektor, die sich nicht länger mit der Tarifierung von nicht existenzsichernden Armutslöhnen abfinden will, sondern auf eine grundlegende tarifpolitische Aufwertung der Branchen zielt. Dabei macht sie sich einerseits die Diskussion um einen angemessenen gesetzlichen Mindestlohn zu Nutze und schafft andererseits ein Beispiel, das auch für die zukünftige Anpassung des Mindestlohns als Vorbild dienen könnte.

Die Systemgastronomie

Zur so genannten Systemgastronomie zählen in Deutschland gastronomische Betriebe, die nach einem einheitlichen „System“ arbeiten und sich damit von den klassischen, individuell gestalteten Restaurants unterscheiden. Die einzelnen Betriebe innerhalb der Systemgastronomie unterliegen strengen Regeln und Bestimmungen und müssen sich beim Einkauf von Waren, der Zubereitung von Speisen, der Organisation der Arbeitsabläufe, dem Marketing usw. nach zentralen Vorgaben richten. Auf diese Weise entsteht ein extrem durchrationalisiertes Geschäftssystem, das permanent auf Effizient und Kostenersparnis getrimmt wird.

Der Bundesverband der Systemgastronomie (BdS) als führender Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband der Branche repräsentiert nach eigenen Angaben mehr als 830 Mitgliedsunternehmen, die in Deutschland mehr als 3.000 Restaurants betreiben, in denen etwa 120.000 Beschäftigte arbeiten. Das mit Abstand größte Mitgliedsunternehmen des BdS ist dabei die Fast-Food-Kette McDonald’s, die in Deutschland mehr als 60.000 Arbeitnehmer*innen beschäftigt. An zweiter Stelle folgt die Fast-Food-Kette Burger King mit etwa 25.000 Beschäftigten. Beide Unternehmen zusammen repräsentieren bereits mehr als zwei Drittel aller Beschäftigten in den BdS-Mitgliedsunternehmen. Hinzu kommen noch einige größere Restaurantketten wie Kentucky Fried Chicken, Nordsee, L’Osteria, Pizza Hut, Vapiano und Starbucks mit jeweils mehreren Tausend Beschäftigten (Abbildung 1). Die Mehrzahl der BdS-Mitgliedsfirmen sind dagegen eher mittlere und kleinere Restaurantketten mit jeweils einigen hundert Mitarbeiter*innen.

Vor allem innerhalb der großen Fast-Food-Ketten stehen hinter den einzelnen Restaurants oft eigenständige Franchise-Unternehmen. So werden z.B. von den knapp 1.500 McDonald’s Filialen in Deutschland lediglich etwa zehn Prozent in Eigenregie betrieben, während 90 Prozent durch Franchise-Unternehmen geführt werden. Ähnliche hohe Anteile finden sich bei Burger King, Kentucky Fried Chicken oder Pizza Hut. Bei der Nordsee sind es hingegen knapp 40 Prozent, während bei Starbucks bislang lediglich knapp 13 Prozent der Cafés von Franchise-Unternehmen geführt werden. Bei den kleineren Restaurantketten werden die einzelnen Filialen hingegen mehrheitlich in Eigenregie betrieben.

Tarifbindung in der Systemgastronomie

Alle BdS-Mitgliedsfirmen sind zwingend an die auf nationaler Ebene abgeschlossenen Tarifverträge des Verbandes gebunden. Dies gilt auch für die Betriebe, die von Franchise-Unternehmen geführt werden und Mitglied im BdS sind. Bei McDonald’s ist die verpflichtende Anwendung von BdS-Tarifverträgen Teil der Franchise-Vereinbarung. Bei anderen Restaurant-Ketten kann es in Einzelfällen vorkommen, dass die Franchise-Unternehmen nicht tarifgebunden sind. Der überwiegende Teil der Branche unterliegt aber dem Tarifvertrag.

Der BdS versteht sich uneingeschränkt als Tarifverband und lehnt eine so genannte OT-Mitgliedschaft, die eine Mitgliedschaft auch ohne Tarifbindung erlauben würde, bis heute ab. Damit unterscheidet er sich ausdrücklich vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA) als dem führenden Wirtschafts- und Arbeitgeberverband im Hotel- und Gastgewerbe. Viele regionale DEHOGA-Verbände erlauben OT-Mitgliedschaften, was mit dazu beiträgt, dass die DEHOGA-Tarifverträge oft nur noch eine sehr geringe Tarifbindung aufweisen. Dies gilt auch für Unternehmen aus der Branche der Systemgastronomie, die Mitglied bei DEHOGA sind und dort über eigene Tarifverträge verfügen. Im Gegensatz zu den BdS-Mitgliedsfirmen unterliegen diese jedoch keineswegs automatisch einer Tarifbindung. Im Ergebnis liegt eine sehr hohe Tarifbindung an die Tarifverträge BdS-NGG vor, die eine branchenweite Tarifpolitik sowohl für die Gewerkschaft als auch den Arbeitgeberverband BdS erst ermöglicht.

Beschäftigungsbedingungen in der Systemgastronomie

Kennzeichnend für die Bedingungen der Systemgastronomie ist vor allem eine hohe Beschäftigungsfluktuation, da viele Beschäftigte oft nur für wenige Jahre oder gar Monate in den Unternehmen tätig sind. Bei Unternehmen wie Starbucks werden z.B. oft Studierende eingestellt, für die die Tätigkeit von vornherein nur ein befristeter Nebenjob ist. In dem meisten Unternehmen nimmt die Anzahl der langjährig Beschäftigen mit einer entsprechenden Berufsqualifikation eher ab. Bei der Mehrzahl der Neueinstellungen handelt es sich hingegen um An- und Ungelernte, die teilweise nur kurz dieser Beschäftigung nachgehen, teilweise aber auch auf lange Betriebszugehörigkeiten kommen. Vor allem in den klassischen Fast-Food-Ketten wie McDonald’s oder Burger King arbeiten zudem sehr viele Beschäftigte mit Migrationshintergrund, die oft allein schon wegen mangelnder Sprachkenntnisse ihre Rechte als Arbeitnehmer*innen nicht kennen.

Unter diesen Bedingungen ist es für die zuständige Gewerkschaft schwer, Mitglieder zu gewinnen und eine eigene Organisationsmacht in den Betrieben aufzubauen. Hinzu kommt, dass die Beschäftigten auf eine Vielzahl von zumeist eher kleinen Filialen verteil sind, was gewerkschaftliche Aktionen sehr erschwert. Nur wenige Filialen verfügen zudem über einen Betriebsrat, der eine echte Mitbestimmung vor Ort ermöglichen würde. Dies alles prägt auch die Tarifverhandlungen in der Branche.

Tarifverhandlungen in der Systemgastronomie

Angesichts der besonderen Beschäftigungsbedingungen ist es nicht verwunderlich, dass die Systemgastronomie als einer der Niedriglohnbranchen par excellence gilt. In der „McDonald’s-Ökonomie“ erhalten viele Beschäftigte lediglich einen extrem niedrigen Stundenlohn, der oft den gesetzlichen Mindestlohn kaum überschreitet. In den Unternehmen, die an den von NGG und BdS abgeschlossenen Tarifvertrag für die Systemgastronomie gebunden sind, arbeiten bis heute die Mehrzahl der an- und ungelernten Beschäftigten in den unteren Tarifgruppen 1 und 2 (Tabelle 1). Bei der Tarifgruppe 1 handelt es sich um die Einstiegsgruppe für Ungelernte in den ersten zwölf Monaten. Nach zwölf Monaten kommen diese Beschäftigten automatisch in die Tarifgruppe 2.

Noch im Jahr 2012 lag die unterste Tarifgruppe in Westdeutschland bei 7,50 Euro pro Stunde und in Ostdeutschland sogar nur bei 6,85 Euro. Erst die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 führte dazu, dass es bei den untersten Tariflöhnen der Systemgastronomie zu einer relativ kräftigen Anhebung kam. In Ostdeutschland reichte die durch den gesetzlichen Mindestlohn nötig gewordene Tarifanhebung bis zu 20 Prozent (Abbildung 2).

Seit 2015 liegen die untersten Tariflöhne in der Systemgastronomie nur knapp über dem gesetzlichen Mindestlohn. In den Jahren 2017 und 2020 hat die Mindestlohnanpassung sogar dazu geführt, dass die unterste Tarifgruppe unterhalb des gesetzlichen Mindestlohnniveaus lag und demnach unwirksam wurde. Die Tarifpolitik in der Branche konzentrierte sich entsprechend darauf, die durch die Entwicklung des Mindestlohns vorgegebenen Anpassungsnotwendigkeiten tarifpolitisch nachzuvollziehen.

Die Tarifrunde 2019/2020 als Start einer neuen Tarifpolitik im Niedriglohnsektor

Den Hintergrund für die Tarifrunde 2019/2020 in der Systemgastronomie bildete zunächst eine zunehmend kritische gesellschaftliche Diskussion über das bestehende Niveau des gesetzlichen Mindestlohns. Nachdem die Einführung des Mindestlohns zunächst als großer sozialpolitscher Erfolg gefeiert wurde, wurde in den letzten Jahren immer deutlicher, dass hierdurch der große Niedriglohnsektor in Deutschland keinesfalls reduziert wurde. Wie Analysen des WSI immer wieder gezeigt haben, ist der gesetzliche Mindestlohn bis heute ein nicht-existenzsichernder Armutslohn, der vielen Beschäftigten selbst bei einer Vollzeittätigkeit kein auskömmliches Einkommen ermöglicht, von einem Erreichen eines Rentenanspruchs oberhalb der Grundsicherung erst einmal ganz zu schweigen. Angesichts dieser Befunde mehrten sich die Stimmen, die eine strukturelle Erhöhung des Mindestlohns einforderten, wobei sich die Zielmarke von 12 Euro pro Stunde als neue gesellschaftliche Norm für einen einigermaßen angemessenen Mindestlohn etabliert hat.

Für die Gewerkschaft NGG stellten sich demnach im Vorfeld der Tarifrunde 2019/2020 zwei grundlegende Fragen. Zum einen ging es darum, die Autonomie der Tarifpolitik zurück zu gewinnen und nicht einfach nur die Entwicklungen des Mindestlohns nachzuvollziehen. Zum anderen ging es um die Frage, inwieweit Gewerkschaften eigentlich noch bereit sein sollen, Löhne zu tarifieren, von denen sie selber wissen, dass sie weder existenzsichernd noch armutsfest sind. Bereits die letzte Tarifrunde in der Systemgastronomie aus dem Jahr 2017 hatte gerade unter den aktiven Gewerkschafter*innen und Mitgliedern der Tarifkommission zu einer erheblichen Frustration darüber geführt, am Ende einer intensiven und aktionsreichen Auseinandersetzung nur eine Lohnsteigerung von wenigen Cent erreicht zu haben. Vor diesem Hintergrund war es klar, dass die NGG nicht einfach mit dem gewohnten gewerkschaftlichen Instrumentarium weitermachen konnte und ein neuer tarifpolitischer Ansatz gefunden werden musste.

Schließlich griff die zuständige Tarifkommission der NGG im Herbst 2019 den politischen Impuls aus der allgemeinen Mindestlohndebatte auf und erhob die Forderung, die untersten Tariflöhne in der Systemgastronomie auf 12 Euro anzuheben. Zugleich sollte auch das gesamte Tarifgitter entsprechend nach oben angepasst werden. Ausgehend von dem damaligen untersten Tarifniveau von 9,25 Euro hätte dies einer Erhöhung von knapp 30 Prozent entsprochen. Eine entsprechende Prozentforderung wäre öffentlich wohl kaum zu vermitteln gewesen. Durch die Fokussierung auf die in der Öffentlichkeit bereits etablierte Norm von 12 Euro als einem angemessenen Mindestlohnniveau gelang es der NGG jedoch, eine gezielte Tarifkampagne zu entwickeln, die nicht nur die eigenen Mitglieder und Aktiven mobilisierte, sondern auch öffentlich auf eine breite positive Resonanz stieß.

Angesichts der besonders schwierigen Bedingungen der Branche für den Aufbau von Organisationsmacht ist es für die Gewerkschaften hier besonders wichtig, eine ausreichende Diskursmacht zu entwickeln und die Öffentlichkeit für die eigenen Positionen zu gewinnen. Gezielt hat sich die NGG deshalb darum bemüht, die harten Arbeitsbedingungen und die extrem niedrige Bezahlung in der Systemgastronomie öffentlich zu skandalisieren und dies mit der Frage von Würde und Respekt für die Beschäftigten zu verbinden. Schließlich hat sich die Gewerkschaft auch die damalige Lage auf dem Arbeitsmarkt zu Nutze gemachen und darauf verwiesen, dass eine deutliche Erhöhung der Löhne eine wesentliche Voraussetzung dafür bildet, um auch in Zukunft qualifizierte Arbeitskräfte zu gewinnen. 

Der Tarifabschluss vom März 2020

Insgesamt gelang es der NGG einen gesellschaftspolitischen Druck zu entfalten, der zu einem in der bisherigen Tariflandschaft recht außergewöhnlichen Abschluss führte. Hierbei hat die Arbeitgeberseite Im Kern die Forderung nach einer deutlichen Aufwertung der Branche akzeptiert und einem Stufenplan zugestimmt, nach dem die unterste Tarifgruppe schrittweise bis 2024 auf 11,80 Euro (Tarifgruppe 1) bzw. 12 Euro (Tarifgruppe 2) angehoben wird. Über einen Zeitraum von vier Jahren entspricht dies einer Erhöhung von 28 Prozent, d.h. durchschnittlich etwa sieben Prozent pro Jahr. Dabei werden nicht nur die unteren Lohngruppen, sondern das gesamte Tarifgitter entsprechend angehoben (Tabelle 1), so dass eine Aufwertung aller Berufsgruppen gewährleistet wird, bei der die relativen Lohnabstände zwischen den Tarifgruppen gleich bleiben. Letzteres war für die NGG nicht zuletzt auch deshalb wichtig, weil ihre eigenen gewerkschaftlichen Mitglieder, die die Tarifauseinandersetzungen wesentlich getragen haben, vor allem in den mittleren Tarifgruppen 3 bis 5 vertreten sind.

Der Tarifabschluss in der Systemgastronomie wurde nur wenige Tage vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie und dem verordneten Lockdown vereinbart. Zwei Wochen später haben NGG und BdS deshalb noch eine tarifvertragliche Regelung zur Kurzarbeit nachgelegt, wonach das Kurzarbeitergeld auf 90 Prozent des Nettoentgeltes aufgestockt wird.

Fazit: Das produktive Zusammenspiel von Tarifpolitik und gesetzlichem Mindestlohn

Die Tarifpolitik im Niedriglohnsektor stand immer vor dem Problem, dass eine prozentuale Tariferhöhung, die sich im üblichen Rahmen der sonstigen Tarifabschlüsse bewegt, kaum eine Möglichkeit eröffnet, die Branchen aus dem Niedriglohnsegment herauszuführen. Mit dem Tarifabschluss in der Systemgastronomie hat die Gewerkschaft NGG nun erfolgreich einen neuen Ansatz ausprobiert, der vom Anspruch ausgeht, keine Armutslöhne mehr tarifieren zu wollen, und stattdessen ein als angemessen empfundenes Mindestlohnniveau auch als unterste Tarifgruppe anvisiert. Dabei kam es zu einem produktiven Zusammenspiel von Tarifpolitik und gesetzlichem Mindestlohn, in dem die in der Mindestlohndiskussion gesellschaftlich etablierte Norm von 12 Euro auch in den Tarifforderungen aufgegriffen wurde. Auch andere Branchen haben sich auf den Weg gemacht und wie z.B. aktuell in der ostdeutschen Ernährungsindustrie oder im Gebäudereinigerhandwerk die Forderung nach einer untersten Tarifgruppe von 12 Euro auf ihre Fahnen geschrieben. Umgekehrt könnte aktuell der Tarifabschluss in der Systemgastronomie mit einem mehrjährigen Abschluss und gestaffelten Steigerungen, auch ein Vorbild dafür sein, wie man den gesetzlichen Mindestlohn schrittweise auf ein Niveau von 12 Euro anpassen kann.

 

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Autoren

Prof. Dr. Thorsten Schulten, Leiter des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und Honorarprofessor an der Universität Tübingen

Dr. Johannes Specht, Leiter der Tarifabteilung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG)

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