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Susanne Wixforth, 15.01.2020: Es fährt ein Zug nach Nirgendwo

„Was für die einen Sozialdumping ist, ist für andere ganz einfach Beschäftigung“, so rechtfertigt ein EuGH-Generalanwalt, dass das Prinzip vom „gleichen Lohn am gleichen Ort für gleiche Arbeit“ nur mit Abstrichen gilt. Die Antwort der Gewerkschaften: Sozialdumping ist ein Fall für das EU-Wettbewerbsrecht und stellt eine Verletzung der EU-Verträge dar.

„Gesetz verabschiedet – Umgehung gefunden.“ So lautet ein italienisches Sprichwort. Wird die reformierte EU-Entsenderichtlinie ein solches Schicksal erleiden? Sie soll im europäischen Binnenmarkt sicherstellen, dass für gleiche Arbeit am gleichen Ort der gleiche Lohn bezahlt wird. Diesem Grundsatz weht allerdings ein scharfer Wind entgegen: durch die Arbeitgeber, weil ein wesentliches Preiselement, nämlich die Lohnkomponente, reguliert wird. Und durch manche Mitgliedstaaten, weil ein wesentlicher Wettbewerbsvorteil, nämlich niedrige Löhne, bei grenzüberschreitender Arbeit verlorengeht. Oder, wie es ein Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) im Fall Henry am Zug zusammenfasst: Was für die einen Sozialdumping ist, ist für andere ganz einfach Beschäftigung. Die Antwort der Gewerkschaften: Sozialdumping ist ein Fall für das EU-Beihilfenrecht und stellt eine Vertragsverletzung dar.

Unfairer Wettbewerb mit niedrigen Löhnen und Lohnnebenkosten ist neben unfairem Steuerwettbewerb die größte Bedrohung für den Zusammenhalt in der Europäischen Union. Der EuGH scheint diese zentrifugalen Kräfte zu befeuern, indem er Maßnahmen von Mitgliedstaaten, die eine Umgehung der EU-Entsenderichtlinie verhindern sollen, als EU-rechtswidrig beurteilt. Dabei zielte der europäische Gesetzgeber mit der Reform der EU-Entsenderichtlinie darauf ab, das Prinzip der Gleichbehandlung für alle Beschäftigten umzusetzen und unfairen Wettbewerb damit zu verhindern. Gleichzeitig soll die Verordnung betreffend die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sicherstellen, dass entsandte Beschäftigte sozialversichert sind. Der Nachweis dazu erfolgt durch die sogenannte A1-Bescheinigung des Herkunftslandes. Soweit, so gut – auf dem Papier. Der Realitätscheck sieht jedoch anders aus.

Orient-Express 2.0

Was haben der Orient-Express und ein Zug der Österreichischen Bundesbahn (ÖBB) gemeinsam? In beiden arbeitet das Servicepersonal in einem Zug, durchfährt aber damit mehrere Grenzen und Rechtsräume. Während Agatha Christie die Frage nach dem anwendbaren Recht in Bezug auf den Mordfall nicht weiter interessierte, ist sie für die ÖBB bei der Entlohnung des Zugpersonals äußerst relevant. Auf ÖBB-Verbindungen von Budapest nach München wurde das Personal bis zuletzt von einem ungarischen Subunternehmer, Henry am Zug, zur Verfügung gestellt. Das österreichische Recht sieht vor, dass eine solche Entsendung von Beschäftigten über Ländergrenzen hinweg vorab angezeigt werden muss. Henry am Zug jedoch meldete seine Beschäftigen nicht und entlohnte sie für die Fahrt von Ungarn über Österreich nach Deutschland nach ungarischem Recht.

Minimalschutz für EU-Beschäftigte – unverhältnismäßig?

Nachdem die fehlende Meldung bei einer Kontrolle festgestellt wurde, landete der Fall vor österreichischen Gerichten – und wurde schließlich zur Klärung dem EuGH vorgelegt. Der für die Rechtssache zuständige Generalanwalt hinterfragt nun die Verhältnismäßigkeit der Meldepflicht: Denn die Gewährleistung der Beschäftigtenrechte beschränke die grenzüberschreitende Bereitstellung von Dienstleistungen, die als wirtschaftliche Grundfreiheit auf dem Binnenmarkt besonderen Schutz erfährt.

Dies fügt sich in die Rechtsprechung des EuGH im Fall Čepelnik. Hier wurde die Hinterlegung von 5.000 Euro als Sicherheitsleistung für die Ansprüche entsandter Beschäftigter als überschießend angesehen. Anders sehen die Konsequenzen bei einer Verletzung der wirtschaftlichen Grundrechte des Binnenmarktes aus: Ein Verstoß gegen das Kartellverbot zieht eine Strafe von bis zu einem Prozent des weltweiten Umsatzes nach sich. Apple bspw. wurde zur Zahlung von rund 14,3 Milliarden Euro wegen zu Unrecht erhaltener Beihilfen verpflichtet.

Nationale Arbeitnehmer*innen-Schutzgesetze haben nur bei solchen Geschäftsmodellen Bestand, die ganz offensichtlich der Umgehung der EU-Entsenderichtlinie dienen, wie im Fall Altun. Hier bestätigte der EuGH der belgischen Sozialaufsichtsbehörde das Recht, die bulgarischen A1-Bescheinigungen nicht anzuerkennen: Eine belgische Firma ohne Personal betraute für sämtliche Bauarbeiten bulgarische Subunternehmer, die Bauarbeiter*innen nach Belgien entsandten. Die bulgarischen Subunternehmen hatten keine andere wirtschaftliche Betätigung als die Beantragung der Ausstellung von A1-Bescheinigungen für Arbeitnehmer*innen aus der Türkei und dem Westbalkan. Die belgische Sozialaufsicht erkannte die A1-Bescheinigung für die entsandten Beschäftigten der bulgarischen Scheinfirma nicht an. Immerhin: Nach elf Jahren Verfahren erhielt sie vor dem EuGH Recht.

„Immaterielle Arbeitsplätze“

Immer wieder wird in den Raum gestellt, dass die moderne Arbeitswelt völlig andere Arbeitsverhältnisse hervorbringe und damit auch ein ganz neues Arbeits- und Sozialrecht benötige. Ja, der Generalanwalt des EuGH spricht gar von „immateriellen Arbeitsplätzen“, von hoch-mobilen Beschäftigten – in Abgrenzung zu nur mobilen Beschäftigten. Der Begriff „immaterieller Arbeitsplatz“ suggeriert, dass wir es nicht mehr mit Menschen zu tun haben, die Arbeit erledigen, sondern mit einer Art unpersönlicher Materie, die über die europäischen Grenzen wabert. Doch sollten wir uns durch solche juristischen Konstrukte nicht Sand in die Augen streuen lassen: Seien es entsandte Bauarbeiter*innen, sei es das Zugpersonal, seien es „Crowdworker“ oder Scheinselbständige: Sie alle sind Arbeitnehmer*innen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis im Sinne unseres traditionellen Arbeitsrechts Leistungen erbringen. Das Immaterielle daran ist in der Regel der Versuch der Arbeitgeber, dieses Abhängigkeitsverhältnis zu verschleiern – durch Subunternehmerketten, Auslagerung und Gründung von Briefkastenfirmen – um Arbeits- und Sozialrecht zu umgehen.

Die Mitgliedstaaten lassen sich dabei allzu oft vor den Karren spannen. Nicht nur Bulgarien ist ein Beispiel dafür: Auch Slowenien gewährt Unternehmen, die Beschäftigte entsenden, die Möglichkeit, die Sozialversicherungsbeiträge nicht auf Basis des tatsächlichen Lohns der entsandten Beschäftigten zu zahlen, sondern auf Grundlage von 60 Prozent des letzten bekannten Durchschnittslohnes aller Arbeitnehmer*innen in Slowenien.

Im Hinblick auf solche Geschäftsmodelle ist es die Pflicht der Mitgliedstaaten, geeignete Kontrollmechanismen zu etablieren. Die österreichischen und belgischen Gesetzgebungen haben Minimalstandards geschaffen, um die Durchsetzung der Entsenderichtlinie sicherzustellen. Der europäische Gesetzgeber darf es daher erst recht nicht hinnehmen, dass der wichtigste Grundsatz der EU- Entsenderichtlinie - gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort - durch Richter*innenrecht konterkariert wird. Es bedarf dringend einer Reform der EU-Richtlinie zur Durchsetzung der Entsenderichtlinie, um solche Standards EU-weit zu harmonisieren.

Auch die öffentlichen Auftraggeber müssen reagieren. Die ÖBB hat dies getan: Henry darf auf ihren Zügen nicht mehr fahren. Grundsätzlich sollte die nationale Gesetzgebung zur Auftragsvergabe vorsehen, dass der Auftragnehmer zumindest 50 Prozent der Kernaufgaben des Auftrages selbst ausführt. Eine Subunternehmerkette wie bei Henry am Zug wäre dadurch nicht mehr möglich.

Wettbewerbsrecht zur Durchsetzung fairer Mobilität

Das Modell des Sozialversicherungsdumpings ähnelt dem des unfairen Steuerwettbewerbs, das die EU-Kommission bereits als Verstoß gegen das EU-Beihilfenrecht eingestuft hat. Deshalb nehmen Gewerkschaften das Instrument des Beihilfenrechts nun für sich in Anspruch: Der Verzicht auf Sozialversicherungsbeiträge im Entsendefall bedeutet einen Verzicht auf staatliche Einnahmen, ist also eine Subvention von Unternehmen, die Beschäftigte entsenden. Durch die niedrigen Lohnnebenkosten sind die Beschäftigten im Empfangsmitgliedstaat billiger als inländische Arbeitskräfte, für die Sozialversicherungsbeiträge ohne Rabatt vom Arbeitgeber zu leisten sind.

Deutscher, Österreichischer und Europäischer Gewerkschaftsbund haben deshalb im Jahr 2019 Beihilfenbeschwerden eingebracht und die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens angeregt. Es ist ein Test: Wirken die harten Sanktionen, die für die wirtschaftlichen Grundrechte gelten, auch für die Interessen der sehr realen Beschäftigten auf ihren „immateriellen Arbeitsplätzen“? Von der Antwort wird abhängen, ob der EU-Binnenmarkt auch für seine Bürger*innen und Beschäftigten Schutz gewährt, oder ob er nur Unternehmen und ihr Finanzkapital protegiert.


Dieser Beitrag ist die gekürzte Übersetzung eines Artikels von Susanne Wixforth, der am 8. Januar 2020 auf Social Europe erschienen ist.

Autorin

Susanne Wixforth ist Referatsleiterin in der Abteilung Internationale und Europäische Gewerkschaftspolitik des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

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