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HBS Böckler Impuls

Tarifrecht: Überragende Bedeutung

Ausgabe 18/2018

Die Reichweite von Tarifverträgen ließe sich deutlich erhöhen, ohne mit hergebrachten Prinzipien zu brechen. Das zeigt ein Blick in die Geschichte des Tarifrechts.

Genau 100 Jahre ist es her, dass in Deutschland die rechtlichen Grundlagen für Tarifverträge geschaffen wurden. Daran erinnert der WSI-Experte Thorsten Schulten und zeichnet die historische Debatte um Wesen und Aufgaben des Tarifrechts nach. Die Grundfragen seien bis heute aktuell, erklärt Schulten. Und um das heutige Tarifsystem zu stützen, müsse niemand das Rad neu erfinden, denn die bereits vor Jahrzehnten ausgetauschten Argumente böten genügend Anknüpfungspunkte.

Was ist ein Tarifvertrag: eine privatrechtliche Übereinkunft, die sich – beispielsweise – von einem gewöhnlichen Kaufvertrag nur dadurch unterscheidet, dass auf beiden Seiten größere Gruppen als Vertragspartner stehen? Oder handelt es sich um eine Übereinkunft mit öffentlich-rechtlichem Charakter, die über dem „Bereich der Individualbeziehungen“ steht und die ganze Gesellschaft betrifft, wie es der Rechtswissenschaftler Hugo Sinzheimer 1907 formulierte?

Die privatrechtliche Herleitung, die sogenannte Vertretungstheorie, ist die ältere. Sie knüpft an die im 19. Jahrhundert verbreitete marktliberale Vorstellung eines „freien Arbeitsvertrags“ an, welche die ungleiche Verhandlungsmacht von Arbeitnehmern und Arbeitgebern weitgehend ignoriert. Beim Abschluss eines Tarifvertrags fungieren Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften lediglich als Vertreter ihrer Mitglieder, sie schließen keine Verträge „im eigenen Namen“. 

Anders bei der von Sinzheimer vertretenen Verbandstheorie. Hier sind die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände keine Stellvertreter, denen einzelne Mitglieder jederzeit die Verhandlungsvollmacht entziehen können, um stattdessen einen eigenen Deal auszuhandeln, sondern selbstständige Rechtssubjekte, die für alle bindende Kollektivvereinbarungen schließen. Denn wenn es „dissentierende Mitglieder in der Hand hätten, aus dem Verband auszutreten, sobald ihnen der Tarifvertrag nicht passt, den ihr Verband geschlossen hat, so wäre dieser Tarifvertrag in seinem Bestand immer gefährdet“, argumentierte Sinzheimer. Kritikern, die in seinen Vorstellungen eine „soziale Zwangsordnung“ sahen, hielt er entgegen, dass nur kollektive Regelungen – und keine Absprachen auf Basis individueller Vertragsfreiheit – für Arbeitnehmer und Arbeitgeber „eine Befreiung von sozialen Gewalten“ der kapitalistischen Wirtschaft bewirken könnten. Erst ein oberhalb der individuellen Ebene angesiedelter Rechtsrahmen schütze Arbeitgeber zuverlässig vor Streik, Boykott oder Billigkonkurrenten, die Lohndumping betreiben, und die Arbeitnehmer vor Ausbeutung. Daher könne der Tarifvertrag, der „kooperative Arbeitsnormvertrag“, keine privatrechtliche Angelegenheit sein, so Sinzheimer. 

Wenn Tarifverträge aber ohnehin in der öffentlich-rechtlichen Sphäre angesiedelt sind, dann kommt auch der Staat ins Spiel. Nicht, indem er das ganze Tarifwesen an sich reißt und bürokratisiert, aber als Unterstützer, der etwa den Geltungsbereich von Tarifen durch Allgemeinverbindlicherklärungen (AVE) ausweitet. 

Sinzheimers Auffassungen prägten die Debatte und die Tarifvertragsordnung von 1918 sowie das Tarifvertragsgesetz von 1949. Erst in den 1990er-Jahren kehrte WSI-Wissenschaftler Schulten zufolge „mit dem neoliberalen Zeitgeist“ die „privatrechtliche Perspektive“ zurück. Ihre Vertreter führen häufig den Begriff der „negativen Koalitionsfreiheit“ im Munde, um damit jede „Ausdehnung von Tarifnormen über die Vertragsparteien hinaus zu delegitimieren“. Bereits Sinzheimer hatte zu solchen Konstruktionen angemerkt, dass es historisch niemals um das Recht gegangen sei, „sich nicht koalieren zu müssen, sondern um das Recht, sich koalieren zu dürfen“. Und WSI-Forscher Schulten erinnert daran, dass die Arbeitgeberverbände 1918 im berühmten Stinnes-Legien-Abkommen noch ausdrücklich einer „Pflicht zum Abschluss“ von Tarifverträgen zugestimmt haben. Heute sei eine Rückbesinnung auf die öffentlich-rechtliche Funktion des Tarifvertrages notwendig – und damit als Erstes eine wirkungsvolle Stärkung der AVE.

  • Dem Tarifsystem fehlt es an Rückendeckung. Zur Grafik

Thorsten Schulten: Zur Aktualität historischer Debatten im Kontext der Tarifvertrags­ordnung von 1918, Sozialer Fortschritt 10/2018, Oktober 2018
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