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HBS Böckler Impuls

Verteilung: Tarife stabilisieren Lohnentwicklung

Ausgabe 11/2011

Der Anteil der Arbeitseinkommen am gesamten Volkseinkommen ist in Deutschland seit der Jahrtausendwende stärker gesunken als in anderen Industriestaaten. Ein Grund für den Rückgang ist die negative Lohndrift: Die effektiven Bruttoverdienste blieben hinter den Tariflöhnen zurück.

Das Muster ist in vielen Industrieländern ähnlich: In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre erreichte die Quote der Arbeitseinkommen ihren historischen Höchststand. Ob in Deutschland, den USA, Frankreich, Großbritannien, Österreich oder den Niederlanden: Überall entfielen in dieser Zeit mehr als 80 Prozent des Volkseinkommens auf Löhne und Gehälter, in Großbritannien oder Österreich waren es zeitweilig sogar über 90 Prozent. Seitdem ist die Quote ebenso flächendeckend gesunken. Grund: Die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Kapitalbesitz wuchsen in den sechs Ländern deutlich stärker als die Arbeitsentgelte. Diese Entwicklung dokumentiert eine neue Studie im Auftrag des IMK.

Hagen Krämer, Professor an der Hochschule Karlsruhe, skizziert darin auch die Entwicklung in der Bundesrepublik über fünf Jahrzehnte: Nach einem Anstieg in den 1970er-Jahren erreichte die Quote der Arbeitseinkommen 1981 gut 83 Prozent. Seitdem ist sie auf rund 74 Prozent gefallen und liegt damit wieder auf dem Niveau von 1960.

Der internationale Vergleich zeigt, dass der stärkste Rückgang bei der Arbeitseinkommensquote in Deutschland später eintrat als in anderen untersuchten Ländern. In der Bundesrepublik sank sie allein seit der Jahrtausendwende um fast sechs Prozentpunkte. Ähnlich stark fiel der Rückgang in diesem Zeitraum in Österreich aus, weniger ausgeprägt verlief er in den USA und Großbritannien. In den Niederlanden stagnierte der Part der Arbeitseinkommen. In Frankreich machten die Beschäftigten sogar Anteile gut – allerdings war die Arbeitseinkommensquote dort im Jahrzehnt zuvor kräftig gesunken.

Die wirtschaftswissenschaftliche Literatur nennt ein ganzes Bündel von Faktoren für das Zurückbleiben der Arbeits- im Vergleich zu den Kapitaleinkommen, wie Krämer aufführt. Hohe Arbeitslosigkeit und die Globalisierung schwächten die Verhandlungsmacht von Arbeitnehmern und Gewerkschaften. Betriebe drohten mit Produktionsverlagerungen oder Ausstieg aus dem Flächentarif. Für Arbeitnehmervertreter hatte die Sicherung von Arbeitsplätzen daher immer wieder höhere Priorität als mögliche Einkommenszuwächse. Zudem wurde in Deutschland bis Anfang der 1990er-Jahre ein gewisser Teil des Verteilungsspielraums, der grundsätzlich auch für Lohnerhöhungen zur Verfügung steht, für Arbeitszeitverkürzungen genutzt – eine qualitative Verbesserung der Arbeitsbedingungen.

Für Deutschland kann Krämer eine statistische Feinanalyse vornehmen, die deutlich macht, wie sich der Rückgang der Arbeitseinkommensquote vollzogen hat. Aus Gründen der internationalen Vergleichbarkeit verwendet er dazu Daten aus der AMECO-Datenbank der EU-Kommission sowie Zahlen der Deutschen Bundesbank. Der Wirtschaftsprofessor zeigt, dass sich das Produktivitätswachstum im letzten Jahrzehnt stark abgeschwächt hatte. Da zugleich die Preise mäßig stiegen, war der neutrale Verteilungsspielraum aus Produktivitätsfortschritt und Preissteigerung im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt so gering wie nie zuvor in der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik.

Noch weitaus langsamer als der Verteilungsspielraum entwickelten sich die effektiven Bruttolöhne pro Kopf: „Für Deutschland lässt sich daher als Fazit festhalten, dass praktisch der gesamte Anstieg des gesamtwirtschaftlichen Einkommens, das in den 2000er-Jahren auf die Empfänger von Arbeits- und von Kapitaleinkommen zu verteilen war, nicht dem Faktor Arbeit zugute gekommen ist“, schreibt Krämer.
In einem zweiten Schritt kann der Wissenschaftler identifizieren, wie sich dabei die verschiedenen Komponenten der Lohnentwicklung ausgewirkt haben. Auf Basis von Daten der Bundesbank berechnet Krämer, dass die nominalen tariflichen Monatsverdienste zwischen 1999 und 2010 um 1,76 Prozent im Jahresdurchschnitt gestiegen sind. Das war ein moderater Zuwachs, der gleichwohl klar über der geringen Preisentwicklung von jährlich 1,08 Prozent lag und den gesamtwirtschaftlichen neutralen Verteilungsspielraum von 1,81 Prozent recht weit ausschöpfte. Eine Auswertung des WSI-Tarifarchivs zeigt, dass das in erster Linie in den gewerkschaftlich gut organisierten Industriebranchen Chemie und Metall gelang, während andere Wirtschaftszweige zum Teil deutlich unter dem Verteilungsspielraum blieben.*

Da viele Unternehmen aber gleichzeitig übertarifliche Leistungen kürzten und die Tarifbindung insgesamt zurückging, schlugen die Steigerungen bei den Tarifverdiensten nur zum Teil auf die Effektivverdienste durch. Daneben beeinflussten überbetriebliche Struktureffekte die Statistik, denn die „negative Lohndrift“ – das Zurückbleiben der Brutto-Effektivverdienste hinter den Tarifverdiensten – wird auch durch die zunehmende Zahl von Teilzeitbeschäftigten beeinflusst. Während die ausgewiesenen Tarifverdienste nicht entsprechend korrigiert sind, reduzieren sich rechnerisch die Effektivverdienste durch die Erhöhung von Teilzeitarbeit.

Unter dem Strich war die negative Lohndrift in Deutschland während der Nullerjahre stark ausgeprägt, resümiert Krämer: Pro Jahr betrug sie durchschnittlich gut ein halbes Prozent. Vom Anstieg der Tarifverdienste führte „fast ein Drittel nicht zur Erhöhung der effektiven Bruttolöhne und -gehälter“, so der Ökonom. Während die Tarifverdienste zwischen 1999 und 2010 real, also preisbereinigt, jedes Jahr um durchschnittlich 0,7 Prozent zulegten, stagnierten die Bruttoverdienste nach Krämers Berechnung.

Betrachtet man den etwas höheren Verbraucherpreisindex aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und die ebenfalls etwas höheren Zahlen zur tariflichen Grundvergütung, die das WSI-Tarifarchiv nutzt, zeigt sich im Prinzip der gleiche Trend. Die Entwicklung der Bruttolöhne fiel sogar noch ungünstiger aus – und die Differenz zu den Tariflöhnen größer: Zwischen 2000 und 2010 wuchsen nach der WSI-Berechnung die realen Tarifverdienste kumuliert um knapp sieben Prozent. Die Bruttolöhne sanken hingegen preisbereinigt – um vier Prozent.

„Beide Untersuchungen zeigen, dass das Tarifsystem das Rückgrat der Lohnentwicklung bildet“, sagt Gustav Horn, der Wissenschaftliche Direktor des IMK. „In Bereichen, in die die gewerkschaftliche Tarifpolitik nicht reicht, entwickeln sich die Löhne schwächer. Das Problem ist aber, dass diese Bereiche in den vergangenen 15 Jahren deutlich gewachsen sind. Und dadurch wächst wiederum der Druck auf das Tarifsystem weiter.“ Die Konsequenz: Selbst in Jahren mit starkem Wirtschaftswachstum merkten viele Arbeitnehmer kaum eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage.

Der relative Rückgang der Arbeitseinkommen kann auch für die Gesamtwirtschaft negative Folgen haben, merkt der Karlsruher Wirtschaftsprofessor Krämer an. Schließlich bestehe zwischen Einkommensverteilung und Wirtschaftswachstum ein wechselseitiger Zusammenhang. Es sei daher nicht nur so, dass die wirtschaftliche Stagnation in der ersten Hälfte der vergangenen Dekade auf das Wachstum der Arbeitseinkommen gedrückt habe, „sondern die erfolgte Umverteilung zuungunsten der Beschäftigten dürfte umgekehrt auch einen wachstumsabschwächenden Effekt gehabt haben.“

  • Der Trend ist in vielen Industrieländern ähnlich: Nach einem Höhenflug in den 70er- und frühen 80er-Jahren sind die Arbeitseinkommensquoten auf Talfahrt. In Deutschland war diese Tendenz seit der Jahrtausendwende besonders ausgeprägt. Zur Grafik
  • Die „negative Lohndrift“ - das Auseinanderklaffen des Wachstums von Tariflöhnen und Effektivlöhnen - ist ein Grund dafür, dass der Anteil der Arbeitseinkommen am gesamten Volkseinkommen in Deutschland besonders deutlich zurückgegangen ist. Zur Grafik

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