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HBS Böckler Impuls

Tarifautonomie: Sozialtarifverträge juristisch gestützt

Ausgabe 03/2006

Der Streik bei AEG in Nürnberg, mit dem die IG Metall angesichts der angekündigten Standortverlagerung einen Sozialtarifvertrag durchsetzen will, hat eine grundsätzliche Debatte aufflammen lassen: Darf die Gewerkschaft das - oder obliegt die Durchsetzung eines Sozialplanes allein dem Betriebsrat, der dabei keine Kampfmittel anwenden darf? Prof. Dr. Thomas Dieterich betont den klaren Vorrang der Tarifverträge vor betrieblichen Vereinbarungen - und damit auch das Recht, Sozialtarifverträge zu erstreiken.

AEG ist nicht der erste Fall. Seit einigen Jahren bemühen sich die Gewerkschaften verstärkt und auch mit Erfolg, die Folgen von Betriebsschließungen und Standortverlagerungen durch Tarifverträge abzumildern. Sie fordern beispielsweise Beschäftigungsgesellschaften, Ersatzarbeitsplätze, Qualifizierungspflichten oder Abfindungen.

"Gesetzeslage ist eindeutig"

Aus dieser Praxis ist ein heftiger politisch-rechtlicher Streit erwachsen, der die Grundfragen des Verhältnisses von Tarifautonomie und betrieblicher Mitbestimmung berührt. Argumentiert wird: Tarifverträge dieser Art seien Sozialplänen vergleichbar, für die allein der Betriebsrat zuständig sei. Paragraf 111 ff. Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) regele das Verfahren, einschließlich möglicher Sanktionen, nämlich den Gang vor die Einigungsstelle nach dem Betriebsverfassungsgesetz. Nur dieses Verfahren respektiere die unternehmerische Freiheit ausreichend.

Mehrere gegensätzliche Urteile von Landesarbeitsgerichten liegen vor - eben erst die Entscheidung aus Frankfurt am Main, die einen solchen Streik für rechtmäßig erklärt, wenn er sich nicht gegen die Betriebsänderung selbst richtet, sondern deren Folgen regeln will
 
Im Grunde lasse sich die Diskussion "mit einem kühlen Hinweis auf das Gesetz" erledigen, argumentiert Dieterich in einem Vortrag zum aktuellen Verhältnis von Tarifautonomie und betrieblicher Mitbestimmung: Das Betriebsverfassungsgesetz stelle einleitend klar, dass die Interessenvertretung der Tarifvertragsparteien durch die Betriebsverfassung "nicht berührt" werden soll (Paragraf 2 III BetrVG).

Die Tarifautonomie sei keineswegs auf Betriebsferne ausgelegt, der Flächentarifvertrag kein "Prototyp". Dieterich betont, dass fast die Hälfte aller registrierten Tarifverträge Haustarifverträge sind, die mit einzelnen Arbeitgebern abgeschlossen wurden, also auch auf konkrete Betriebe zugeschnitten sind.

Paragraf 112 Absatz 1 Satz 4 Betriebsverfassungsgesetz regelt, dass Betriebsräte (trotz des Tarifvorrangs) Sozialpläne abschließen dürfen, (juristisch: dass die so genannte Sperrwirkung des Paragrafen 77 III BetrVG nicht für Sozialpläne gilt). Dazu Dieterich: Diese Regelung setzt ja offensichtlich voraus, dass thematische Überschneidungen mit sozialplanähnlichen Tarifverträgen möglich sind." Hier werde keine "kollektivfreie Zone" definiert, wo also Gewerkschaften keine Tarifverträge verlangen können. Ebenso wenig werde der gewerkschaftliche Arbeitskampf durch eine Zwangsschlichtung (die Einigungsstelle) ersetzt.

"Tarifverträge nicht auf betriebsferne Themenfelder abdrängen"

Die Diskussion ist für den ehemaligen Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts "kein Produkt bloßer Rechtsunkenntnis". Er hält sie für symptomatisch und "eine Erscheinungsform vielfältiger Bemühungen, das Verhältnis der beiden kollektiven Regelungssysteme zu verschieben".

Ziel sei es, den Primat der Tarifautonomie zu relativieren und Tarifverträge auf betriebsferne Themenfelder oder Abstraktionshöhen abzudrängen. Aber dafür lasse sich die aktuelle Gesetzeslage nicht in Anspruch nehmen. 

Prof. Dr. Thomas Dieterich: Vortrag "Die betriebliche Mitbestimmung im Zusammenspiel mit der Tarifautonomie", gehalten am 12. Januar bei den "46. Bitburger Gesprächen.

Weitere Informationen zum Thema Betriebsräte - Mitbestimmung

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