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HBS Böckler Impuls

Gesundheitsreform: Sozialausgleich nicht praktikabel

Ausgabe 15/2010

Die Gesundheitsreform der Bundesregierung geht die strukturellen Finanzprobleme der Kranken­versicherung nicht an. Und beim versprochenen Sozialausgleich ist vieles offen.

Sechs bis sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts - so viel geben die gesetzlichen Krankenkassen aus, um die Gesundheitsversorgung für mehr als 80 Prozent der Menschen in Deutschland zu finanzieren. Der Wert ist seit mehr als 20 Jahren stabil, trotz medizinischen Fortschritts und alternder Bevölkerung. Die Entwicklung verdiene daher nicht "im entferntesten die Bezeichnung "Kostenexplosion", schreiben Stefan Greß, Klaus Jacobs und Sabine Schulze. Dass die Beitragssätze gleichwohl deutlich gestiegen sind, liege an der "Wachstumsschwäche der Finanzierungsbasis" für die Krankenkassen, analysieren der Professor für Gesundheitsökonomie an der Hochschule Fulda und die Experten des Wissenschaftlichen Instituts der AOK. Denn zentrale Finanzquelle sind die Arbeitseinkommen. Deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt sinkt aber. Hinzu kommt: Gutverdiener zahlen nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze von derzeit 3.750 Euro Kassenbeiträge. Und allein sie haben die Möglichkeit, der Gesetzlichen zu Gunsten einer Privaten Krankenversicherung den Rücken zu kehren.

Die jetzt geplanten Änderungen - Beitragssatzerhöhung und anschließende Festschreibung der Arbeitgeberbeiträge plus Ausweitung der pauschalen Zusatzbeiträge für Versicherte - verschärfen die Ungleichbelastung von niedrigen und höheren Einkommen weiter. Das zeigen Berechnungen der Gesundheitsexperten. Der so genannte steuerfinanzierte Sozialausgleich, der dafür sorgen soll, dass der Pauschalbeitrag Versicherte nicht mit mehr als zwei Prozent ihres Einkommens belastet, verhindert nicht, dass die Ungleichheit wächst. Er dämpft lediglich das Wachstum der Ungleichheit.

Und nicht nur das: Die Wissenschaftler haben Zweifel daran, dass das neue Transfersystem überhaupt praktikabel ist. Denn um zu ermitteln, ob Versicherte Anrecht auf den Ausgleich haben, muss beispielsweise bei Rentnern überprüft werden, ob sie zusätzlich zur gesetzlichen Rente eine Betriebsrente oder eine Beamtenpension beziehen. Die Rentenversicherer haben bereits erklärt, dass ihnen diese Daten überhaupt nicht vorliegen. Ähnliches gilt für Arbeitgeber, die nach dem Willen des Gesundheitsministeriums "automatisch" den Sozialausgleich bei ihren Beschäftigten vornehmen sollen. Hat ein Arbeitnehmer aber noch Zusatzjobs, weiß der Chef davon nicht unbedingt. Und eine Verpflichtung, den Arbeitgeber über das Einkommen aus anderen Beschäftigungsverhältnissen zu informieren, dürfte mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung kollidieren, schätzen die Wissenschaftler. Den tiefsten Einblick in Einkommensverhältnisse haben die Finanzämter. Doch diese Länderbehörden will die Bundesregierung gerade nicht involvieren, weil die Gesundheitsnovelle sonst die Zustimmung des Bundesrates bräuchte.

 Bei den Krankenkassen sehen die Wissenschaftler ein anderes gravierendes Praxis-Problem. Da die pauschalen Zusatzbeiträge nicht mehr automatisch vom Arbeitgeber abgeführt werden, müssen sie ausstehende Summen selbst bei ihren Versicherten eintreiben. Als "Inkassostellen" seien die gesetzlichen Versicherer aber ungeeignet, warnen Greß, Jacobs und Schulze. "Abgesehen davon, dass den Krankenkassen hierzu nur beschränkte Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, erhöht dies massiv die mit dem Instrument Zusatzbeitrag verbundenen Bürokratiekosten." Die Forscher verweisen auf den Präsidenten des Bundesversicherungsamts. In Interviews hat der schon erklärt, ein Drittel der betroffenen Versicherten zahlte die bislang von einzelnen Kassen erhobenen Zusatzbeiträge nicht.

Aus seinen Untersuchungen zu Kopfpauschalen in den Niederlanden und der Schweiz weiß Gesundheitsökonom Greß, dass dies keineswegs ein Übergangsphänomen ist. Im Gegenteil: Mit steigenden Pauschalbeiträgen wuchs dort die Zahl der Versicherten, die nicht zahlen, weil sie sich den einkommensunabhängigen Obolus nicht leisten können oder wollen. Auch aus diesem Grunde, so Greß, haben Wissenschaftler kürzlich in den Niederlanden empfohlen, den Anteil der einkommensunabhängigen Beiträge an der Gesundheitsfinanzierung wieder deutlich zu reduzieren. 

  • Sechs bis sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gibt die Gesetzliche Krankenversicherung aus, um die Gesundheitsversorgung für mehr als 80 Prozent der Menschen in Deutschland zu finanzieren. Der Wert ist seit mehr als 20 Jahren stabil. Dass die Beitragssätze gleichwohl deutlich gestiegen sind, liegt an der schrumpfenden Finanzierungsbasis für die Krankenkassen. Denn zentrale Finanzquelle sind die Arbeitseinkommen. Deren Anteil am BIP sinkt seit Jahren, während Gewinn- und Kapitaleinkommen zulegen. Zur Grafik

Stefan Greß, Klaus Jacobs, Sabine Schulze: GKV-Finanzierungs­reform: schwarz-gelbe Irrwege statt gezielter Problemlösungen. In: Gesundheits- und Sozialpolitik 4/2010.

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