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 „Schutz vor Überarbeitung und Ausbeutung“ Böckler Impuls

Urteil zur Arbeitszeiterfassung : "Schutz vor Überarbeitung und Ausbeutung"

Ausgabe 16/2022

Was ein Gesetz zur Zeiterfassung für Beschäftigte und Betriebe bedeutet, erklärt HSI-Direktorin Johanna Wenckebach im Interview.

Nach einer aufsehenerregenden Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) sind Unternehmen in Deutschland zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet. Wie sehen Sie das Urteil?

Wenckebach: Das BAG hat bekräftigt, dass Arbeitgeber zur Erfassung der Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten verpflichtet sind. Dies hatte schon der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einer entsprechenden Entscheidung 2019 dargelegt. Ich begrüße das Urteil als eine wichtige Entscheidung für den Schutz von Beschäftigtenrechten und die Durchsetzung von Lohnansprüchen. 

Wie könnte ein Gesetz zur Zeiterfassung aussehen?

Ein solches Gesetz müsste besser als bisher für alle Beteiligten Rechtssicherheit schaffen, also eindeutig formuliert sein und klare Rechte und Pflichten regeln. Lücken im Gesetz gehen zulasten der Beschäftigten. Der EuGH hat in seiner Entscheidung sehr präzise Vorgaben gemacht. Die erläutert  auch ein Gutachten im Auftrag des HSI. Ganz wichtig ist, an die Rechtsdurchsetzung zu denken. Ohne Kontrollen wird es insbesondere da, wo es keine Betriebsräte gibt, weiter eine Umgehung der gesetzlichen Regeln geben. Das betrifft insbesondere Branchen in denen es darum geht, dass Menschen den Mindestlohn erhalten.

Was bringt das Gesetz den Beschäftigten?

Dass ihre Arbeitszeit fairer vergütet wird und geleistete Arbeitsstunden bezahlt werden. Das BAG hat erst kürzlich in einem anderen Urteil betont, dass die Beweislast bei den Beschäftigten liegt, wenn sie die Bezahlung von Überstunden gerichtlich einfordern. Ein Arbeitnehmer, dessen Zeit nicht dokumentiert wurde, hat vor Gericht deshalb aus Mangel an Beweisen verloren. Und natürlich ist die Zeiterfassung auch für den Gesundheitsschutz ganz wichtig: Grenzen kann man nur wahren, wenn man weiß, wann sie erreicht sind. Zeiterfassung kann vor Überarbeitung und Ausbeutung schützen – das gilt auch für Selbstgefährdung, die nicht selten vorkommt, gerade dort, wo sogenannte Vertrauensarbeitszeit gilt.

Manche fürchten, dass sie dadurch an Flexibilität verlieren.

Zeiterfassung bedeutet nicht, dass Beschäftigte keine Autonomie über ihre Arbeitszeit haben. Beides geht – und ich meine sogar besser. Zeiterfassung hilft auch Beschäftigten in Branchen mit flexiblen Arbeitszeiten und mobiler Arbeit, flexibel, aber nicht entgrenzt zu arbeiten.

Werden Arbeitgeber Zeiterfassung zur Überwachung nutzen?

Dass hier ein Risiko für illegale Überwachung von Beschäftigten besteht, lässt sich nicht von der Hand weisen. Erlaubt ist aber nach den geltenden Datenschutzregeln nur, Daten zu Beginn und Ende der Tätigkeit sowie Dauer der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit zu erheben. Eine darüberhinausgehende Erhebung oder Verarbeitung von Daten ist unzulässig.

Welche Risiken birgt ein Gesetz zur Zeiterfassung?

Arbeitgeberverbände fordern seit Jahren eine Auflösung der im Arbeitszeitgesetz festgelegten Grenzen, zum Beispiel für die tägliche Höchstarbeitszeit. Hier darf kein Kuhhandel erfolgen. Auf keinen Fall darf hier für eine explizite Regelung der Arbeitszeiterfassung – einer Pflicht, die ohnehin schon besteht – ein Kompromiss gemacht werden, der den Schutz vor Entgrenzung und Überlastung letztlich untergräbt, indem Arbeitszeitgrenzen aufgehoben werden.

Welche Kosten kommen auf Unternehmen zu?

Funktionierende Unternehmen sollten längst Systeme zur Arbeitszeiterfassung haben. Ein technisches System anzuschaffen, dürfte niemanden in den Ruin treiben. Wer allerdings bisher auf unbezahlte Überstunden gesetzt hat, um Kosten zu sparen, wird nun noch deutlicher mit dem Gesetz in Konflikt stehen.

HSI-Gutachten

Daniel Ulber erläutert, was die Entscheidung des EuGH zur Arbeitszeiterfassung bedeutet

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