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Reguläre Jobs geben Sicherheit Böckler Impuls

Einkommen: Reguläre Jobs geben Sicherheit

Ausgabe 18/2021

Die Einkommen der Mittelschicht haben sich bis zur Coronakrise positiv entwickelt. Einbußen erleben zurzeit vor allem diejenigen, die ohne Tarifvertrag und soziale Absicherung dastehen.

Die Mitte hat sich erholt, wenigstens etwas: Weil zwischen 2014 und 2018 die Einkommen der Mittelschicht deutlich gewachsen sind, hat die Ungleichheit in Deutschland in den Jahren vor Ausbruch der Pandemie insgesamt leicht abgenommen. Von finanziellen Verlusten durch die Coronakrise waren Angehörige der mittleren Einkommensgruppen seltener betroffen als andere. Das hat damit zu tun, dass sie vergleichsweise oft in „Normalarbeitsverhältnissen“ tätig sind, die etwa durch Sozialversicherungen und Tarifverträge abgesichert sind. Schon die untere Mittelschicht ist in der Krise allerdings deutlich schlechter weggekommen. Das zeigt der neue Verteilungsbericht des WSI, für den Aline Zucco und Anil Özerdogan Daten der Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung sowie des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) ausgewertet haben.

„In den 2000er-Jahren waren Abstieg und Schrumpfung der Mittelschicht ein häufiges Thema, auch in wissenschaftlichen Analysen. In den späteren 2010er-Jahren hat sich ihre Situation entspannt, wie die Daten zeigen“, sagt Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI. „Das ist ein ermutigender Befund: Selbst in Zeiten internationaler Unsicherheiten und zunehmender Globalisierung schließen sich sinkende Arbeitslosenzahlen, verbesserte Arbeitsbedingungen und steigende Einkommen nicht aus.“ Positive Einkommensentwicklung und stabile Perspektiven ergäben sich vor allem bei den Teilen der Mittelschicht, die von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, Tarifverträgen und Mitbestimmung profitieren. Die Situation in der unteren Mittelschicht sei hingegen deutlich prekärer.

Im Vergleich der Industrieländer liege die Ungleichheit der Einkommen in Deutschland weiter auf einem mittleren Niveau, allerdings deutlich höher als noch zu Beginn des Jahrzehnts, schreiben Zucco und Özerdogan. Dafür verantwortlich sei vor allem ein kräftiger Anstieg rund um die Jahrtausendwende. Bis Mitte der 2010er-Jahre kletterte der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit auf einer Skala von null bis eins misst, auf neue Höchstwerte: 2013 und 2016 erreichte er 0,295 – das ist die größte seit Einführung des SOEP gemessene Einkommensungleichheit in Deutschland. Ab 2017 sank der Wert wieder etwas und lag 2018 bei 0,290.

Dass die Ungleichheit leicht zurückgegangen ist, lässt sich laut der WSI-Analyse wesentlich auf die solide Entwicklung der Einkommen in der Mittelschicht zurückführen. Zur Mittelschicht zählen alle Haushalte, die ein bedarfsgewichtetes Nettoeinkommen zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland haben. Nach einem spürbaren Rückgang zwischen 2010 und 2014 stiegen die Einkommen in dieser Gruppe real kontinuierlich an und waren 2018 rund 7 Prozent höher als 2010. Damit verkleinerte sich der Rückstand gegenüber den Einkommen des oberen Zehntels, die um insgesamt 10 Prozent gestiegen sind. Auch am unteren Ende kam es ab 2015, dem Jahr der Mindestlohneinführung, zu einer Trendwende von realen Einbußen hin zu spürbaren Zuwächsen. Gleichwohl war die Entwicklung über den gesamten Zeitraum von 2010 bis 2018 hier am schwächsten: Die Einkommen in der „zweituntersten“ Gruppe wuchsen real um 5 Prozent, die Einkommen des ärmsten Zehntels erreichten 2018 lediglich wieder das Niveau von 2010. 

Angehörige der Mittelschicht erlebten auch in anderer Hinsicht ein Jahrzehnt relativer Stabilität, zeigen Zucco und Özerdogan. Gut 75 Prozent derjenigen, die 2010 mit ihrem Einkommen zur Mittelschicht zählten, taten das auch 2018 noch. Jeweils gut 12 Prozent stiegen wirtschaftlich auf oder ab. Dabei hatten Personen mit Hochschulreife eine größere Chance auf wirtschaftlichen Aufstieg und Personen ohne Schulabschluss oder mit Hauptschulabschluss ein erhöhtes Risiko abzusteigen. Im Zeitverlauf nahmen das durchschnittliche Bildungsniveau und der Erwerbstatus von Mittelschichtsangehörigen zu – allerdings nicht signifikant stärker oder schwächer als in der Gesamtbevölkerung. 

Wachsende Einkommen und parallel sinkende Arbeitslosigkeit während der 2010er-Jahre haben sich dem Verteilungsbericht zufolge auch positiv auf das Sicherheitsgefühl vieler Menschen in der Mittelschicht ausgewirkt. So sank dort der Anteil derjenigen, die Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes äußerten, zwischen 2010 und 2019 von 54 auf 30 Prozent. Auch der Anteil derjenigen, die sich Sorgen um die eigene finanzielle Situation machen, wenn auch deutlich schwächer, nämlich von 72 auf 56 Prozent. Die erst seit 2015 gemessene Sorge um die Altersvorsorge ging bis 2019 nur um einen Prozentpunkt auf 63 Prozent zurück.

Obwohl Deutschland im internationalen Vergleich bislang glimpflich durch die Corona-Pandemie gekommen ist und die Bundesregierung viel getan hat, um Wirtschaft und Kaufkraft zu stabilisieren, mussten etliche Haushalte finanziell Federn lassen. Haushalte mit einem monatlichen Nettoäquivalenzeinkommen zwischen 2000 und 2500 Euro vor der Krise berichten zu knapp 45 Prozent, pandemiebedingt zeitweise Einkommen eingebüßt zu haben. In der Einkommensgruppe zwischen 2500 und 3500 Euro sind es gut 47 Prozent, ebenso wie in der Gruppe ab 3500 Euro. Dass mit zunehmendem Einkommen mehr Haushalte von Verlusten berichten, erklären die Forschenden mit der höheren Selbstständigen-Quote in den oberen Einkommensschichten, deren Geschäfte zum Teil stark unter der Pandemie litten. Weitaus häufiger traf es aber Haushalte mit Einkommen unter 2000 und insbesondere unter 1500 Euro, wo 54 beziehungsweise 62 Prozent Verluste zu beklagen hatten. 

„Insgesamt deuten die Befunde also darauf hin, dass Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen die Krise aufgrund der funktionierenden Absicherungsmechanismen des deutschen Sozialversicherungssystems relativ gut überstanden“, schreiben Zucco und Özerdogan. Wirtschaftlich spürbar schlechter kamen diejenigen durch die Krise, die in dieses System nicht einbezogen sind: „Erwerbstätige, die vor der Krise nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, wie Selbstständige oder geringfügig Beschäftigte, konnten das Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld nicht in Anspruch nehmen und waren somit deutlich häufiger von großen Einkommenseinbußen betroffen.“ Auch Leiharbeitende sowie befristet Beschäftigte seien insbesondere zu Beginn der Krise überdurchschnittlich oft arbeitslos geworden. Und für etliche Beschäftigte im Niedriglohnbereich bedeute Kurzarbeit zwar Joberhalt, sie reiße aber schmerzliche Lücken ins Haushaltsbudget.

Die WSI-Forschenden ziehen zwei zentrale Schlüsse aus ihrer Analyse: Erstens sei es möglich, die Mittelschicht auch in unsicheren Zeiten zu stärken. Dass die Arbeitsmarktlage auch in Zukunft weiterhin so gut bleibt, sei allerdings nicht garantiert. Zweitens offenbare die Coronakrise an vielen Stellen Stärken, aber auch Schwächen des deutschen Sozial­versicherungssystems. Diese beträfen im Wesentlichen all diejenigen, die nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Für die kommenden Jahre gelte es daher, „einerseits die guten Arbeitsmarktbedingungen der letzten Jahre in Zeiten der sozial-ökologischen Transformation zu erhalten und andererseits das Sozialversicherungssystem langfristig so umzugestalten, dass im Krisenfall alle darauf zurückgreifen können“.

Zucco und Özerdogan empfehlen generell, für eine bessere tarifliche Absicherung und mehr Mitbestimmung zu sorgen. Der Niedriglohnsektor könne durch eine Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro und eine Stärkung der Tarifbindung reduziert werden. Dafür sollten Allgemeinverbindlicherklärungen erleichtert und Tariftreuevorgaben bei öffentlichen Aufträgen gestärkt werden. Um Selbstständige sozial besser abzusichern, sollte für sie die Arbeitslosenversicherung geöffnet und langfristig obligatorisch gemacht werden. Anreize für geringfügige Beschäftigung gelte es zu reduzieren und die sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit von Frauen zu fördern. Dabei sollte auch darüber diskutiert werden, dass das Ehegattensplitting zusammen mit der kostenlosen Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung für Arbeitsuchende Fehlanreize setzt, Minijobs statt regulärer Stellen anzunehmen. Um Arbeitsplätze langfristig zu erhalten, brauche es eine aktive Industriepolitik, die einerseits Infrastruktur bereitstellt und andererseits den Unternehmen Anreize für Innovationen setzt.

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