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HBS Böckler Impuls

Gerechtigkeitsempfinden: Prestige soll Bezahlung bestimmen

Ausgabe 07/2013

Was ist ein gerechter Lohn? Wissenschaftler haben untersucht, wie sich die Urteile der Menschen in Ost und West unterscheiden.

Die Idee der Leistungsgerechtigkeit hat einen besonders hohen Stellenwert, selbst in vormals sozialistischen Ländern. Dies geht aus einer Studie der Soziologen Katrin Auspurg, Ksenija Gatskova und Thomas Hinz von der Universität Konstanz hervor. Um zu überprüfen, inwieweit unterschiedliche gesellschaftliche Umgebungen die Verteilungsideale beeinflussen, haben die Wissenschaftler Menschen an verschiedenen Orten befragt – in einer entwickelten westeuropäischen Demokratie, in einer ehemals sozialistischen Gesellschaft, welche die Transformation zum Kapitalismus bereits hinter sich hat – und in einem Land, das noch mitten im Transformationsprozess steckt. Genauer: in Westdeutschland, Ostdeutschland und der Ukraine. Von der großen Wertschätzung für Leistung abgesehen, unterscheiden sich die untersuchten Länder erheblich.

Die Studie beruht auf den Angaben von knapp 950 Personen in Deutschland und 1.800 in der Ukraine. Den Interviewten wurde eine Reihe von fiktiven Personenbeschreibungen vorgelegt, etwa: „Eine 45-jährige verheiratete Frau mit zwei Kindern, deren Mann kein eigenes Einkommen bezieht, arbeitet derzeit als Friseurin … und verdient im Monat 1.200 Euro brutto“. Die Befragten sollten jeweils für 24 solcher Fallbeispiele angeben, ob ihnen die Bezahlung der fiktiven Person gerecht erscheint. Auf diese Weise konnten die Wissenschaftler ermitteln, welche Faktoren für das Gerechtigkeitsempfinden ausschlaggebend sind: Beispielsweise ob für die Befragten im Sinne der Bedarfsgerechtigkeit wichtig ist, dass Personen mit Familie ein höheres Einkommen erhalten. Oder ob – im Sinne der Leistungsgerechtigkeit – vor allem Ausbildung und berufliches Engagement zählen.

In Deutschland erwies sich das Berufsprestige als wichtigster Einflussfaktor. Wer in einem hoch angesehenen Beruf arbeitet, soll auch gut verdienen. Umgekehrt: Für weniger geschätzte Tätigkeiten finden die Deutschen auch geringere Löhne akzeptabel. Auf den Plätzen zwei bis vier folgen Leistung, Ausbildung und Familienstand. Die Zahl der Kinder, das Alter und das Geschlecht sind nicht so bedeutsam. Zwischen den alten und den neuen Ländern gibt es nur einen Unterschied: Für Ostdeutsche spielt das Geschlecht bei der Frage nach der gerechten Entlohnung überhaupt keine Rolle, während dieser Punkt im Westen vor den Faktoren Alter und Kinderzahl rangiert. Offenbar ist die Akzeptanz für eine schlechtere Bezahlung von Frauen hier höher.

In der Ukraine ist die Reihenfolge eine andere, dort stehen die Kinder an erster Stelle. Die Forscher vermuten, dass damit eine andere Sicht auf die Arbeitgeber zum Ausdruck komme. Diese würden eher als Patriarchen betrachtet, die den Bedarf ihrer Angestellten berücksichtigen sollten. Interessant sei zudem, dass das Berufsprestige weniger wichtig ist als in Deutschland und dass die Ausbildung nach dem Verständnis der Ukrainer relativ unerheblich ist. Dies könne, so die Wissenschaftler, daran liegen, dass das Ausbildungssystem, in dem Titel und Abschlussnoten mitunter käuflich seien, in den Augen der Bevölkerung „keine leistungsbezogenen Abschlüsse vermittelt“.

Aufschlussreich ist laut Auspurg, Gatskova und Hinz auch ein Generationenvergleich. Dabei zeigen sich in Westdeutschland kaum Unterschiede zwischen Jung und Alt, lediglich beim Faktor Geschlecht gibt es eine Differenz. Jüngere orientieren sich nicht mehr am Geschlecht von Erwerbspersonen, wenn es darum geht, die gerechte Bezahlung zu bestimmen. In Ostdeutschland und der Ukraine haben die Forscher hingegen stärkere Unterschiede zwischen den Generationen festgestellt. Tendenziell neigen die Älteren stärker zum Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit, die Jungen dagegen – nach westlichem Vorbild – zur Leistungsgerechtigkeit.

Schließlich haben die Konstanzer Forscher ihre Befragungsergebnisse mit realen Lohnstatistiken abgeglichen. Dabei kam heraus, dass die Gerechtigkeitsvorstellungen der Deutschen weitgehend in Übereinstimmung mit der tatsächlichen Einkommensverteilung stehen. Dies sei ein Beleg für „die normative Kraft des Faktischen“, die realen Verhältnisse prägen das Wertesystem der Menschen. Einen vergleichbaren Befund für die Ukraine gibt es nicht.

  • Die Gerechtigkeitsvorstellungen in ehemals sozialistischen Ländern nähern sich dem westlichen Wertesystem an, sind aber noch nicht ganz deckungsgleich. Zur Grafik

Katrin Auspurg, Ksenija Gatskova, Thomas Hinz: Vorstellungen von Lohngerechtigkeit in West- und Ostdeutschland und in der Ukraine. In: WSI-Mitteilungen 2/2013.

 

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