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HBS Böckler Impuls

Tarifautonomie: Praxisuntauglich: Betriebliche Bündnisse ohne Gewerkschaften

Ausgabe 15/2005

Werden betriebliche Bündnisse per Gesetz vorbei an den Gewerkschaften möglich, sieht Professor Wolfgang Streeck ein "gigantisches Beschäftigungsprogramm" entstehen - für die Arbeitsgerichte. Der Leiter des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln stellt neun Fragen als "mehr oder weniger beliebig herausgegriffene Schwierigkeiten", mit denen Arbeitgeber und Betriebe rechnen müssten - ganz abgesehen von dem Aspekt der Verfassungsmäßigkeit einer solcher Regelung.

Wie soll die geforderte Zweidrittel-Mehrheit der Belegschaft ermittelt werden?

Bei der Abstimmung über ein Betriebliches Bündnis ginge es um nichts Geringeres als eine zeitweilige Aufhebung des Grundrechts der Koalitionsfreiheit. Ein Beschluss ohne ausreichende Gelegenheit zur Diskussion dürfte darum kaum Bestand haben, führt Streeck an. Auch die betroffenen Gewerkschaften müssten ihre Sicht deshalb ausführlich darlegen können, mit aktiver Teilnahme des zuständigen Verwaltungsstellenleiters wäre zu rechnen. Wie viele Betriebsversammlungen sind dazu nötig? Mindestens wären das zwei, was sicher die Arbeitsgerichte beschäftigen würde. Wenn Betriebsrat und Arbeitgeber für ihre Positionen in der Werkszeitung und mit Flugblättern werben dürften, ließe sich dies auch der Gewerkschaft nicht verweigern. Die dann einsetzende innerbetriebliche Auseinandersetzung böte eine ideale Gelegenheit für Fraktionskonflikte in Belegschaft und Gewerkschaft. Eine Einladung für außerbetriebliche Splittergruppen, sich als die wahren Vertreter der Arbeitnehmerinteressen darzustellen?

Welche Belegschaft soll abstimmen?

In Unternehmen mit mehr als einem Betrieb können die Betriebe von einer "günstigeren" Regelung unterschiedlich betroffen sein; was bei der Gesamtbelegschaft eine Zweidrittel-Mehrheit erhalten könnte, könnte in einzelnen Betrieben durchfallen.

Und: Wie soll mit Tarifverträgen umgegangen werden, die nur für einen Teil der Belegschaft gelten? Streeck fragt: "Könnten zum Beispiel Vorstand und Betriebsrat der Lufthansa mit Zustimmung von zwei Dritteln der Gesamtbelegschaft den Tarifvertrag der Vereinigung Cockpit durch eine Regelung ersetzen, die ihrer Einschätzung nach für die Piloten "günstiger" wäre? Oder wäre allein unter den Piloten abzustimmen? Und wenn im Tarifvertrag einer Industriegewerkschaft einzelne Bestimmungen nur für Angestellte gelten und nicht für Arbeiter: Dürfen dann alle abstimmen oder nur Angestellte?" Er sieht Landschaften teurer Rechtsgutachten entstehen und vor allem: eine "tsunami-ähnliche Welle von Prozessen".

Wie soll der Betriebsrat überprüfen, ob das Bündnis wirklich "der Beschäftigungssicherung oder dem Beschäftigungsaufbau" dient?

... und nicht der Beschaffung einer neuen Mittelmeeryacht für die mittelständische Besitzerfamilie?

Nach den bisherigen Reformvorschlägen sieht es so aus, als könnte es ausreichen, wenn der Arbeitgeber dies dem Betriebsrat kurz und bündig mitteilt. Ein Betriebsrat, der nichts tut, als einen vom Arbeitgeber ausgerufenen Beschäftigungsnotstand zustimmend zur Kenntnis zu nehmen, könnte damit auf die Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens verzichten. Und dafür von Gewerkschaft oder Belegschaftsminderheit verklagt werden. Schließlich hat er nach dem Betriebsverfassungsgesetz vor allem die Interessen der Belegschaft zu vertreten. Einen Beweis für den Sinn des Bündnisses müsse der Betriebsrat schon deshalb verlangen, um seinen Pflichten zu genügen, meint Streeck.

Welchen materiellen Anforderungen muss eine betriebliche Bündnisvereinbarung genügen, um als rechtens oder doch wenigstens als nicht grob unsittlich gelten zu können?

Dürfen sich beispielsweise Arbeitgeber und Betriebsrat einigen, bei nur einem Fünftel der Belegschaft zu kürzen und alle anderen ungeschoren zu lassen? Oder müssen die Belastungen gleichmäßig verteilt werden, vielleicht auch auf das Management?

Welche gewerkschaftlichen Betätigungen sollen während der Laufzeit eines betrieblichen Bündnisses noch erlaubt sein?

Wenn Arbeitgeber, Betriebsrat und zwei Drittel der Belegschaft einen Flächentarif gemeinsam außer Kraft gesetzt haben, kann dann eine unbeteiligte, andere Gewerkschaft einen Haustarif verlangen oder zu erstreiken suchen? Oder soll ein Betrieb mit Bündnis gegen jegliche gewerkschaftlichen Organisierungsversuche geschützt sein?

Wenn sich wegen der Koalitionsfreiheit dies nicht durchsetzen ließe, hätten die konkurrierenden Gewerkschaften einen Vorteil - ebenso Berufs- oder Standesgewerkschaften: Sie könnten versuchen, für einen Teil der Belegschaft einen Tarifvertrag abzuschließen. Dies wiederum könnte "der Beginn einer Zersplitterung der Tarif- und Gewerkschaftslandschaft und einer entsprechenden Komplizierung der betrieblichen Arbeitsbeziehungen sein, wie wir sie in Deutschland zu unserem Glück nie gekannt haben", gibt Streeck zu bedenken.

Was geschähe mit den viel genutzten tarifvertraglichen Möglichkeiten für betriebliche Abweichungen vom Flächentarif, den Öffnungsklauseln?

Haben Betriebe, deren Tarifvertrag eine Öffnungsklausel enthält, die Wahl zwischen der tariflichen und einer gesetzlichen Öffnung? Oder hätte der Tarifvertrag Vorrang? Nicht auszuschließen wäre zudem, dass eine Gewerkschaft versuchen würde, die Anwendung einer gesetzlichen Öffnungsmöglichkeit für das gewerkschaftsfreie Bündnis per Tarifvertrag zu unterbinden. Sie könnte - in der Fläche oder von Firma zu Firma - die Arbeitgeber darauf verpflichten, davon keinen Gebrauch zu machen. Eine Verpflichtung, die sich ja möglicherweise ohnehin schon aus Treu und Glauben einer Vertragspartei ableiten ließe, überlegt Streeck.

Wie soll ein tarifgeschützter Bündniszustand beendet werden?

Unklar bleibt, auf wie lange ein Bündnis befristet sein soll. "Es kann ja nicht gemeint sein, dass ein Arbeitgeber sich mithilfe einer gewerkschaftsfeindlichen Betriebsratsmehrheit und einer antigewerkschaftlichen Zweidrittel-Mehrheit im Betrieb beispielsweise für zehn Jahre gegen Tarifierungsversuche jeglicher Art immunisieren kann", meint Streeck. Und was passiert, wenn das Bündnis ausläuft? Kehrt der Betrieb zu dem Tarif zurück, wie er bei Bündnisbeginn bestand oder wie er aktuell besteht? Letzteres könnte einen erheblichen Kostensprung bedeuten. Müssen Arbeitgeber, Betriebsrat und Belegschaft der Rückkehr zustimmen, oder reicht es, wenn nur der Betriebsrat oder nur die Belegschaft zurückkehren wollen?

Welche Gegenleistungen soll ein Betriebsrat für seine Zustimmung zu einem Bündnisvorschlag verlangen dürfen?

Verboten oder nicht - Paket- und Koppelgeschäfte wären nach Meinung des Max-Planck-Forschers in der Praxis kaum zu verhindern. Betriebsräte können ihre Mitbestimmungsrechte mehr oder weniger entgegenkommend ausüben. Oder für ihre Bemühungen, die erforderliche Mehrheit in der Belegschaft beschafft zu haben, erweiterte Mitbestimmungsrechte fordern. Damit könnten sie sich Zuständigkeiten verschaffen, die unter normalen Umständen nur der Gewerkschaft zustehen, insbesondere bei Lohn- und Gehaltsfragen. "Kann man sicher sein," fragt Streeck, "dass sie diese immer nur nutzen werden, um den Flächentarifvertrag zu unterbieten?"  Zwar dürfen Betriebsräte keine Arbeitskämpfe führen, in der Praxis können sie im Zweifelsfall aber, ohne selbst Organisator zu sein, für deutlichen Druck sorgen, etwa durch spontane Versammlungen oder "wilde" Warnstreiks.

Sollen auch Betriebsräte die Initiative zu einem betrieblichen Bündnis ergreifen können?

Da es ja um "günstigere" Regelungen für die Belegschaft geht, könnte man dies kaum verbieten. Der Betriebsrat mag es beispielsweise sinnvoll finden, Beschäftigungssicherung und Beschäftigungsaufbau durch einen betrieblich erweiterten Kündigungsschutz oder eine Azubi-Einstellungsverpflichtungen für den Arbeitgeber zu erreichen. Streeck folgert: "Würde die betriebliche Verhandlungsmasse - also die betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungsmöglichkeiten des Betriebsrats - gesetzlich um die bisher vom Tarifvertrag geregelten Materien erweitert, könnte ein einfallsreicher Betriebsrat nicht nur Vorschläge machen, sondern auch beträchtlichen Druck ausüben." Mögliche Folge: Konflikte, die heute zwischen den Tarifparteien geregelt werden, würden auf die betriebliche Ebene verlagert.

  • Werden betriebliche Bündnisse per Gesetz vorbei an den Gewerkschaften möglich, sieht Professor Wolfgang Streeck ein "gigantisches Beschäftigungsprogramm" entstehen - für die Arbeitsgerichte. Der Leiter des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln stellt neun Fragen als "mehr oder weniger beliebig herausgegriffene Schwierigkeiten", mit denen Arbeitgeber und Betriebe rechnen müssten - ganz abgesehen von dem Aspekt der Verfassungsmässigkeit einer solcher Regelung. Zur Grafik
  • Werden betriebliche Bündnisse per Gesetz vorbei an den Gewerkschaften möglich, sieht Professor Wolfgang Streeck ein "gigantisches Beschäftigungsprogramm" entstehen - für die Arbeitsgerichte. Der Leiter des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln stellt neun Fragen als "mehr oder weniger beliebig herausgegriffene Schwierigkeiten", mit denen Arbeitgeber und Betriebe rechnen müssten - ganz abgesehen von dem Aspekt der Verfassungsmässigkeit einer solcher Regelung. Zur Grafik

Prof. Wolfgang Streeck, Vortrag vor dem Sozialwissenschaftlichen Forum der Hans-Böckler-Stiftung, Erfurt, September 2005.

Schwerpunktheft zur Tarifautonomie, Böckler Impuls Nr. 11/2005.

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