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NRW muss Tarifflucht stoppen Böckler Impuls

Arbeitsbedingungen: NRW muss Tarifflucht stoppen

Ausgabe 12/2022

Beschäftigte mit Tarifvertrag verdienen mehr und haben kürzere Arbeitszeiten. Dennoch tut die Politik zu wenig, um das Tarifsystem zu stärken. Das zeigt sich am Beispiel NRW.

In Nordrhein-Westfalen werden aktuell 57 Prozent der Beschäftigten nach Tarif bezahlt. Damit weist das industriell geprägte NRW zwar die höchste Quote unter allen Bundesländern auf, sie ist aber seit Mitte der 1990er-Jahre deutlich gesunken. Andere Länder tun inzwischen mehr zur Sicherung und Stärkung der Tarifbindung. „Während Nordrhein-Westfalen einmal über das fortschrittlichste Landestariftreuegesetz verfügte, ist es mittlerweile bundesweit vom Vorreiter zum Nachzügler geworden“, erklären Thorsten Schulten und Malte Lübker vom WSI zusammen mit ihrem Co-Autor Reinhard Bispinck. Denn während andere Bundesländer umfassende Regelungen zur Tariftreue einführten, habe NRW sein Vergabegesetz in den vergangenen Jahren stark eingeschränkt, so die Forscher. Für ihre Studie über „Tarifverträge und Tarifflucht in Nordrhein-Westfalen“ haben die WSI-Experten die neuesten verfügbaren Daten des IAB-Betriebspanels sowie die Verdienststrukturerhebung des Statistischen Bundesamtes ausgewertet und zahlreiche Tarifauseinandersetzungen analysiert.

Die wichtigsten Ergebnisse:

  • 57 Prozent der Beschäftigten werden aktuell in NRW nach einem Tarifvertrag bezahlt. Im bundesweiten Durchschnitt liegt die Tarifbindung bei 51 Prozent.
  • Der Anteil der Beschäftigten, die in NRW nach Tarif bezahlt werden, lag 1996 noch bei 82 Prozent. Seither ging er erheblich zurück und erreichte Mitte der 2000er-Jahre nur noch 65 Prozent. Einige Jahre verharrte die Tarifbindung auf diesem Niveau, seit Mitte der 2010er-Jahre sank sie wieder und erreichte in den Jahren 2019 und 2020 ihren bisherigen Tiefpunkt.
  • Die Tarifbindung der Beschäftigten in NRW reicht von 34 Prozent im Einzelhandel bis zu 97 Prozent in der öffentlichen Verwaltung. Die Wahrscheinlichkeit, nach Tarif bezahlt zu werden, steigt insgesamt mit der Größe des Betriebes. Gleiches gilt für das Betriebsalter: Während 46 Prozent der vor 1990 gegründeten Betriebe tarifgebunden sind, sind es unter den seit 2010 gegründeten lediglich 25 Prozent.
  • Tarifbindung funktioniert dann besonders gut, wenn Betriebsräte sich um die Umsetzung der Tarifverträge kümmern. In NRW arbeiten allerdings nur 45 Prozent aller Beschäftigten in einem Unternehmen mit Betriebs- oder Personalrat. Lediglich 38 Prozent sind in einem Betrieb mit Betriebsrat und Tarifvertrag tätig. Ähnlich wie die Tarifbindung ist auch die Verbreitung von Betriebsräten in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen.
  • In NRW wie bundesweit haben Beschäftigte in tarifgebundenen Unternehmen kürzere Arbeitszeiten. 2019 arbeiteten sie in NRW im Durchschnitt 38,4 Stunden pro Woche und damit eine Stunde weniger als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne Tarifvertrag.
  • Beschäftigte verdienen deutlich weniger, wenn ihr Arbeitgeber nicht an einen Tarifvertrag gebunden ist. Auch das ist in ganz Deutschland so. In NRW beträgt der unbereinigte Rückstand beim Entgelt knapp 18 Prozent. Dies lässt sich teilweise mit den Unterschieden zwischen den Betrieben erklären, wie zum Beispiel der Branche, der Betriebsgröße und der Qualifikation der Beschäftigten. Aber selbst wenn diese Unterschiede statistisch berücksichtigt werden, beträgt der Lohnrückstand für Beschäftigte in tariflosen Betrieben im Mittel noch immer knapp 8 Prozent gegenüber Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben mit ähnlichen Merkmalen – bei längerer Arbeitszeit.

Für eine Stärkung der Tarifbindung sei ein Bündel von Maßnahmen notwendig, betonen Schulten, Bispinck und Lübker. Dabei müssten alle relevanten Akteure, also Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, aber auch Staat und Gesellschaft, ihren Beitrag leisten. Während die Gewerkschaften ihre eigene Organisationsmacht ausbauen müssten, seien die Arbeitgeberverbände gefordert, offensiv für das Tarifvertragssystem einzustehen und Tarifflucht über sogenannte „OT-Mitgliedschaften“ (ohne Tarifbindung) zu beenden. Die Politik sollte unterstützend wirken, indem sie Tariftreuegesetze für öffentliche Ausschreibungen einführt und bessere Möglichkeiten schafft, Tarifverträge allgemeinverbindlich zu erklären.

Thorsten Schulten, Reinhard Bispinck, Malte Lübker: Tarifverträge und Tarifflucht in Nordrhein-Westfalen, WSI-Study Nr. 30, Düsseldorf, Mai 2022

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