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Mindestlöhne steigen langsamer Böckler Impuls

Europa: Mindestlöhne steigen langsamer

Ausgabe 05/2021

Die Coronakrise bremst den Anstieg der Mindestlöhne in Europa. Dabei wären Erhöhungen, wie sie auch die EU-Kommission erreichen will, gerade jetzt besonders wichtig. Davon könnten auch in Deutschland viele Beschäftigte profitieren.

Die MindeStlöhne in Europa steigen weniger stark als in den Vorjahren – obwohl die Corona-Pandemie deutlich gemacht hat, dass viele gesellschaftlich wichtige, „systemrelevante“ Tätigkeiten zu niedrig bezahlt werden. In den 21 EU-Staaten, die über eine gesetzliche Lohnuntergrenze verfügen, stiegen die Mindestlöhne zum 1. Januar 2021 im Mittel nominal um 3,1 Prozent. Nach Abzug der Inflation blieb ein Zuwachs von 1,6 Prozent. Anfang 2020 hatte der reale Anstieg noch bei 4,5 Prozent gelegen. Das ergibt der neue Mindestlohnbericht des WSI.

18 EU-Staaten haben ihre Mindestlöhne in jüngster Zeit erhöht, das ehemalige EU-Mitglied Großbritannien wird dies in den kommenden Wochen tun. Der deutsche Mindestlohn ist mit aktuell 9,50 Euro pro Stunde weiterhin niedriger als in den meisten westeuropäischen EU-Staaten plus Großbritannien. Auch gemessen am Medianlohn fällt der Mindestlohn in Deutschland mit lediglich 48 Prozent niedrig aus. Im EU-Vergleich liegt Deutschland in dieser Hinsicht auf dem 14. von 21 Plätzen. Insgesamt wird lediglich in Frankreich, Portugal und Bulgarien die Marke von mindestens 60 Prozent des Medians erreicht. Ein Mindestlohn, der bei mindestens 60 Prozent des jeweiligen Medianlohns beziehungsweise 50 Prozent des Durchschnittslohns liegt, gilt in der internationalen Forschung als angemessen. Dies hat auch die EU-Kommission in ihrem neuen Richtlinienentwurf für europäische Mindestlöhne herausgestellt. Würden die Untergrenzen an diesen Richtwert angepasst, erhielten in Deutschland rund 6,8 Millionen und EU-weit gut 25 Millionen Menschen erstmals einigermaßen auskömmliche Stundenlöhne – bei gesamtwirtschaftlich überschaubaren Kosten. In Deutschland entsprechen 60 Prozent des Brutto-Medianlohns rund 12 Euro pro Stunde.

Paradigmenwechsel der EU-Kommission

Mit ihrer im Oktober 2020 vorgelegten Mindestlohninitiative verfolge die EU-Kommission offensiv eine Strategie, die „die Reduzierung sozialer Ungleichheit als eine wesentliche Voraussetzung für eine nachhaltige ökonomische Entwicklung“ ansieht, schreiben die WSI-Experten Malte Lübker und Thorsten Schulten. Dieser „Paradigmenwechsel“ sei umso bedeutender, als die EU-Spitze nicht nur höhere gesetzliche Lohnuntergrenzen favorisiere, sondern auch eine Stärkung von Tarifverträgen. Konkret sollen alle Mitgliedsstaaten, in denen die Tarifbindung unter 70 Prozent der Beschäftigten liegt, unter anderem Aktionspläne zur Förderung von Tarifverhandlungen entwickeln. Handlungsbedarf besteht auch in Deutschland, wo nach Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung lediglich 52 Prozent der Beschäftigten von einem Tarifvertrag profitieren. Höhere Tarifbindung und angemessene Mindestlöhne, so die WSI-Studie, seien die beiden zentralen Hebel, um gute Löhne für alle Beschäftigten zu erreichen.

Bei ihrer Initiative könne sich die Kommission „auf die neuere internationale Mindestlohnforschung stützen, die auch bei der Durchsetzung eines strukturell höheren Mindestlohnniveaus – zum Beispiel 60 Prozent des Medianlohns – keine relevanten negativen Beschäftigungseffekte sieht“, betonen die Forscher. Sie verweisen etwa auf eine großangelegte Übersichtsstudie im Auftrag der britischen Regierung sowie auf Erfahrungen aus Spanien und Neuseeland, wo die Regierungen solche substanziellen Erhöhungen in mehreren größeren Schritten ansteuern. Auf ein Niveau von 60 Prozent des Medians – alternativ 50 Prozent vom Durchschnittslohn – bezieht sich die EU-Kommission zwar nicht explizit im Gesetzestext der Richtlinie, wohl aber in den für die Interpretation des Gesetzes wichtigen Erwägungsgründen.

Zuwächse fallen schwach aus

Die Wissenschaftler begrüßen ausdrücklich, dass die EU-Kommission ihre Initiative gerade in der Corona-Pandemie vorantreibt. Schließlich gebe es Hinweise darauf, dass die Krise Beschäftigte mit niedrigen Einkommen finanziell besonders hart trifft. Auch die Dynamik bei den Mindestlohnanpassungen hat nach der WSI-Analyse deutlich nachgelassen. Zwar haben bis auf Estland, Griechenland und Spanien alle EU-Länder mit Mindestlöhnen ihre Untergrenzen zwischen Anfang 2020 und Anfang 2021 angehoben, doch die Zuwächse fielen oft vergleichsweise schwach aus. Die prozentual stärksten Anstiege verzeichneten wie in den Vorjahren die meisten mittel- und osteuropäischen EU-Länder, wo die nominalen Zuwachsraten Anfang 2021 zwischen 3,1 Prozent in Rumänien und 16,3 Prozent in Lettland liegen. Der deutsche Mindestlohn wurde zum Jahresanfang nominal um 1,6 Prozent erhöht und soll nach dem Beschluss der Mindestlohnkommission zur Jahresmitte um weitere 1,1 Prozent steigen. 

Keinen Mindestlohn haben Österreich, die nordischen Länder und Italien. In diesen Staaten besteht aber eine sehr hohe Tarifbindung, die auch vom Staat stark unterstützt wird. Faktisch ziehen dort also Tarifverträge eine allgemeine Untergrenze ein. Diese liege, so Schulten und Lübker, außer in Italien oberhalb der gesetzlichen Mindestlöhne in Westeuropa. Davon weicht Zypern ab, wo es trotz relativ niedriger Tarifbindung keinen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn gibt.

Malte Lübker, Thorsten Schulten: WSI-Mindestlohnbericht 2021: Ist Europa auf dem Weg zu angemessenen Mindestlöhnen? (pdf), WSI-Report Nr. 63, Februar 2021

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