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Lückenhafte Grundsicherung Böckler Impuls

Europa: Lückenhafte Grundsicherung

Ausgabe 03/2022

In Europa schützt Mindestsicherung meist nicht gegen Armut. Das Problem lässt sich nur lösen, wenn die Lücken in der allgemeinen Sozialversicherung geschlossen werden.

In fast allen europäischen Ländern gibt es eine Grundsicherung. Wie unterscheiden sich die verschiedenen Ansätze? Wie steht Deutschland im Vergleich da? Und wäre es besser, die bisherigen Systeme durch ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle Bürger zu ersetzen? Diese Fragen beantwortet Thomas Bahle von der Universität Mannheim in einem Beitrag für den von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Sammelband „Grundsicherung weiterdenken“. Der Sozialwissenschaftler vergleicht die verschiedenen Systeme sozialer Mindestsicherung in Europa und erklärt, welche Rolle sie im Gefüge des Wohlfahrtsstaats einnehmen.

Ziel der Mindestsicherung ist es, das soziale Existenzminimum der Empfängerinnen und Empfänger zu sichern. Darunter fallen in der Regel die Ausgaben für die notwendigen Dinge des Lebens wie zum Beispiel Nahrung, Kleidung oder Unterkunft. In vielen Ländern werden darüber hinaus Bedürfnisse wie Mobilität, Kommunikation oder Teilnahme an kulturellen und Freizeitaktivitäten berücksichtigt. Auch der Zugang zu Gesundheit, Bildung, Kinderbetreuung oder Pflege gehört meistens dazu. Damit soll die Mindestsicherung zum einen ein letztes Auffangnetz spannen, zum anderen gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen.

Die Mindestsicherung allein könne jedoch „kein effektives Mittel zur Bekämpfung von Armut sein“, schreibt Bahle. Dafür seien die Leistungen zu niedrig, die Systeme zu heterogen und lückenhaft, in manchen Ländern generell zu wenig ausgebaut. In den meisten europäischen Ländern entsprechen die Zahlungen weniger als 50 Prozent des verfügbaren äquivalenzgewichteten Medianeinkommens. Nur in Finnland, Dänemark und den Niederlanden sowie in Irland und Großbritannien liegen sie darüber. Auch wenn sich die Mindestsicherungssysteme in Europa in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten einander etwas angenähert haben, bleiben grundlegende Unterschiede bestehen. Bahle differenziert zwischen fünf verschiedenen „Wohlfahrtsregimen“.

Südeuropa: In den südeuropäischen Ländern übernimmt die Familie nach wie vor einen großen Teil der Versorgung – entsprechend dürftig fällt die Absicherung durch den Staat aus. Bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 war Portugal das einzige Land in Südeuropa, das überhaupt ein Mindestsicherungssystem auf nationaler Ebene besaß. Nach der Krise haben Spanien, Italien und Griechenland mit dem Aufbau solcher Systeme begonnen. Der Zugang ist jedoch nach wie vor restriktiv.

Liberale Wohlfahrtsregime: Im liberalen Wohlfahrtsregime spielt die Mindestsicherung eine große Rolle. Der Grund dafür ist, dass die anderen Systeme der sozialen Sicherung schwach entwickelt sind, etwa die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit oder die gesetzliche Rente. Die Mindestsicherung übernimmt also wesentliche Teile der wohlfahrtsstaatlichen Funktion. Das gilt zum Beispiel für Großbritannien und Irland. 

Sozialdemokratische Wohlfahrtsregime: Im sozialdemokratisch geprägten Wohlfahrtsstaat sind die Leistungen der Mindestsicherung vergleichsweise gering. Das liegt daran, dass die anderen Systeme der sozialen Sicherung hoch entwickelt sind. Der Zugang zu diesen allgemeinen Systemen ist inklusiv, viele davon sind auf die ganze Bevölkerung gerichtet. Nur wenige Menschen, hauptsächlich solche mit persönlicher Migrationserfahrung, fallen überhaupt ins letzte Auffangnetz der Mindestsicherung. Schweden und Norwegen sind Beispiele für diesen Typ.

Konservative Wohlfahrtsregime: Zum konservativen Wohlfahrtsregime zählt der Forscher unter anderem Deutschland und Frankreich. Im Vergleich zu den südeuropäischen Ländern sind soziale Risiken weit stärker durch den Wohlfahrtsstaat als durch die Familie abgesichert. Es existiert aber meistens kein einheitliches Mindestsicherungssystem für alle Bewohnerinnen und Bewohner. Nicht nur werden verschiedene Gruppen unterschiedlich behandelt, einige sind de facto von der Mindestsicherung ausgeschlossen, in Deutschland zum Beispiel Studierende, für die es gesonderte Unterstützungsregeln gibt. Ältere, Arbeitslose und Alleinerziehende sind die Gruppen, die am häufigsten auf Mindestsicherung angewiesen sind. Auch was die anderen Systeme der sozialen Sicherung angeht, liegen die konservativen Länder zwischen den liberalen und den sozialdemokratischen Staaten. 

Osteuropa: In den osteuropäischen Ländern ist das Niveau der Mindestsicherung in der Regel sehr niedrig, weshalb nur die extrem Bedürftigen überhaupt Leistungen bekommen. Strukturell ähneln die meisten osteuropäischen Länder den konservativen Wohlfahrtsstaaten, aber auf deutlich niedrigerem Niveau. In den südosteuropäischen Ländern spielt außerdem ähnlich wie in Südeuropa die Familie noch eine große Rolle. Insgesamt haben diese Länder eher rudimentäre Mindestsicherungssysteme, die nur wenige Bedürftige tatsächlich erreichen.

Fazit: Gefahr einer wachsenden sozialen Spaltung 

Auf den ersten Blick sei die Mindestsicherung ein geeignetes Instrument, um sozial benachteiligte Menschen aufzufangen, erklärt Bahle. Allerdings stehe sie zum einen oft nur bestimmten Gruppen und erst nach einer Prüfung der Bedürftigkeit offen. Zum anderen könne ein Ausbau als Vorwand dienen, um die Leistungen in den allgemeinen Sicherungssystemen zu senken, wie das Beispiel der „liberalen Staaten“ zeigt. Aus dem gleichen Grund ist der Autor gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle Bürgerinnen und Bürger. Auch hier sieht er die Gefahr, dass die etablierten Systeme unter Druck geraten oder scheinbar überflüssig werden. „In einigen radikalen Vorschlägen zum bedingungslosen Grundeinkommen geht es tatsächlich um nichts anderes als um die Abschaffung des Sozialstaats.“ 

Besser, wenn auch mühsamer sei es, die allgemeinen, für alle offenen Sozialversicherungssysteme auszubauen. In Deutschland würde dies bedeuten, Selbstständige und Menschen mit niedrigen Einkommen in diese Systeme zu integrieren. Statt alte Menschen auf die Grundsicherung zu verweisen, wäre eine Mindestrente innerhalb der allgemeinen Alterssicherung sinnvoll. Alleinerziehende sollten durch besser ausgebaute Maßnahmen zur Vereinbarung von Familie und Beruf zusätzlich unterstützt werden. „Jede Form der Mindestsicherung birgt die Gefahr einer wachsenden sozialen Spaltung. Lücken in der sozialen Absicherung sollten deshalb bevorzugt innerhalb und nicht unterhalb bestehender allgemeiner Systeme geschlossen werden“, schreibt der Forscher.

Thomas Bahle: Mindestsicherung im europäischen Vergleich, in: Florian Blank u.a. (Hg.): Grundsicherung weiterdenken, Transcript 2021

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