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HBS Böckler Impuls

Mindestlohn: Lösungsweg Entsendegesetz

Ausgabe 14/2007

Die Große Koalition hat sich darauf geeinigt, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf weitere Branchen auszuweiten. Verfassungs- wie europarechtlich steht dem nichts entgegen, zeigt ein Gutachten.

Die Tarifvertragsparteien in Branchen, in denen mindestens die Hälfte der Beschäftigten nach Tarif entlohnt wird, können bis zum 31. März 2008 gemeinsam einen Antrag stellen, ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen zu werden. Nach dem Gesetz kommt eine Allgemeinverbindlicherklärung von Mindestlöhnen für alle in der jeweiligen Branche Beschäftigten bislang nur im Bauhaupt- und Nebengewerbe sowie im Gebäudereinigerhandwerk in Betracht. Erster Testfall für die Ausweitung eines Tarifvertrags nach den neuen Regeln könnten die Postdienstleister werden.

In der deutschen Rechtsordnung sei es zwar "grundsätzlich Aufgabe der Gewerkschaften, das Verhandlungsgleichgewicht für die Arbeitnehmer herzustellen und über Tarifverträge mit den Arbeitgebern Mindestlöhne festzulegen", schreiben Karl-Jürgen Bieback, Professor für Arbeits- und Sozialrecht, und Privatdozentin Eva Kocher von der Universität Hamburg. Ein allgemeinverbindliches Mindestentgelt könne jedoch das Ungleichgewicht zulasten einzelner Arbeitnehmer bei der Aushandlung des Arbeitslohns beseitigen und das Existenzminimum jenes Teils der Bevölkerung garantieren, das in Vollzeit arbeitet.

Dabei dürfe der Gesetzgeber jedoch niemals unberücksichtigt lassen, dass er mit einer Allgemeinverbindlicherklärung in die Tarifautonomie der Tarifparteien eingreift, und damit in die im Grundgesetz verankerte Koalitionsfreiheit: "Wenn ein (nicht-distributives) Kollektivgut wie ein Tarifvertrag auch von solchen genutzt werden kann, die sich für seine Schaffung oder Erhaltung nicht eingesetzt und organisiert haben (‚Trittbrettfahrer‘), verlieren die Verbände an Attraktivität", geben die Rechtsexperten zu bedenken. Ein Eingriff in die Tarifautonomie müsse daher unter den sozioökonomischen Bedingungen der jeweiligen Branche notwendig und damit im öffentlichen Interesse sein.

Existieren für denselben Geltungsbereich zwei Tarifverträge miteinander konkurrierender Koalitionen, dann muss der Staat einen der beiden Tarifverträge als Basis für einen Mindestlohn auswählen. Dabei komme das Auswahlkriterium "niedrigstes Entgelt" keinesfalls in Betracht, urteilen Bieback und Kocher. Tarifverträge seien Regelungskomplexe, bei denen das niedrigste Grundgehalt unter dem Existenzminimum liegen könne, das gesamte Leistungspaket aber darüber. Auch die Auswahl nach der Spezialität des Tarifvertrags - also die passgenaue Geltung nur für eine bestimmte Region, einen Betrieb oder eine Beschäftigtengruppe - halten die Autoren nicht für sachgerecht. Denn bei der Festsetzung von Mindestentgelten gehe es "immer um allgemein geltende Regelungen, die gerade keine ‚punktgenaue‘, sondern eine annähernde, weil generell gültige Festlegung treffen".

Bei der Auswahl des "richtigen" Tarifvertrags empfehlen die Rechtsexperten das Kriterium der Repräsentativität der tarifvertragsschließenden Koalitionen. Allerdings sollten alle Tarifvertragsparteien ein Recht auf Anhörung im Verfahren der Verbindlicherklärung haben - auch die jenes Tarifvertrags, gegen den sich der Gesetzgeber entschieden habe. Der übergangene Tarifvertrag, dessen Löhne möglicherweise unter den nun festgesetzten Mindestentgelten liegen, könne dann von diesen verdrängt werden. Auch das sei zwar ein Eingriff in die im Grundgesetz garantierte Koalitionsfreiheit. Doch liege es im öffentlichen Interesse, das Existenzniveau der Beschäftigten abzusichern. Die unterlegene Koalition könnte zusätzlich ein Klagerecht gegen die Verdrängung ihres Tarifvertrags erhalten. So sei ein Mindestmaß an "Inhaltskontrolle" durch rechtsstaatliche Verfahren gewährleistet.

Auch mit der Dienstleistungsfreiheit innerhalb der EU sei die Allgemeinverbindlicherklärung nach dem Entsendegesetz vereinbar, so die Hamburger Rechtsexperten. In seiner Rechtsprechung habe der Europäische Gerichtshof anerkannt, dass die Mitgliedstaaten ihre Rechtsvorschriften über Mindestlöhne auf alle Personen ausdehnen können, die in ihrem Staatsgebiet unselbstständig erwerbstätig sind - egal, in welchem Land der Arbeitgeber ansässig ist.

  • Mindestlöhne nach dem Entsendegesetz durchzusetzen ist ein langwieriger Prozess. Zur Grafik

Karl-Jürgen Bieback, Eva Kocher: Juristische Fragen der gesetzlichen Festlegung eines Mindestentgelts durch erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung oder Verweis auf unterste Tarifentgelte, in: Karl-Jürgen Bieback u.a.: Tarifgestützte Mindestlöhne, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2007.

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