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HBS Böckler Impuls

Hartz IV: Im Spannungsfeld zwischen Statuserhalt und Grundsicherung

Ausgabe 02/2010

Die Hartz-IV-Reform von 2005 hat die Akzente der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik deutlich verschoben. Dennoch bricht sie nicht mit der wohlfahrtsstaatlichen Tradition, sondern setzt frühere Entwicklungen fort.

Der Umgang von Gesellschaften mit ihren Armen ist seit Jahrhunderten vom Zwiespalt zwischen Versorgung und Kontrolle geprägt. Politik zur Armutsbekämpfung soll einerseits unverschuldet in Not Geratenen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Diese Zielsetzung ist in erster Linie durch Mitgefühl und Solidarität motiviert. Demgegenüber steht eine "armenpolizeiliche Perspektive", so der Soziologe Markus Promberger vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Sie ist eher vom Misstrauen gegenüber abweichenden Lebensweisen gekennzeichnet. Ihr geht es darum, Menschen am Rande der Gesellschaft, die sie unterstützt, entweder auszugrenzen oder zu normgerechtem Verhalten zu bewegen. In diesem Spannungsfeld stand die Armenfürsorge des 19. Jahrhunderts ebenso wie die Sozialhilfe und auch die vierte Hartz-Reform.

Hartz IV habe den Sozialstaat zwar deutlich verändert, damit aber eine Verschiebung der Prioritäten fortgesetzt, die lange vor 2005 begann, analysiert Promberger. Schon seit den 1980er-Jahren weiche der "fürsorgende" zugunsten des "aktivierenden" Sozialstaats zurück. Das Anliegen, so schnell wie möglich den Leistungsbezug zu beenden, rückte nicht erst mit Hartz IV, sondern bereits in den 1990er-Jahren an die erste Stelle des sozialpolitischen Zielkatalogs, erläutert der Forscher. Hartz IV sei ein Meilenstein auf diesem Weg gewesen, aber nicht der Ausgangspunkt eines Paradigmenwechsels. Auch der mit Hartz IV eingeführte Leitbegriff "Aktivierung" knüpfe an frühere Modelle an. So sei die Idee der Hilfe zur Selbsthilfe stets im deutschen Wohlfahrtsstaat verankert gewesen. "Aktivierende" Elemente wie die Möglichkeit, Arbeitslose oder Arme zu öffentlichen Arbeiten heranzuziehen, wurden in der Geschichte immer wieder genutzt.

Allerdings treten mit Hartz IV die Charakteristika einer längerfristigen Entwicklung besonders deutlich zutage. Statuserhalt versus Grundsicherung - hier treffen zwei gegenläufige Gerechtigkeitskonzepte aufeinander. Das vorherige Berufsleben und die gewohnte soziale Stellung spielen für die Höhe der Unterstützung eine immer geringere Rolle. Mit der Reform gilt nun die "Logik der letzten sozialen Solidarität": Nach einer bestimmten Zeit ohne Beschäftigung werden alle gleich behandelt, das Arbeitslosengeld II knüpft nicht mehr an frühere Verdienste an. Der IAB-Forscher spricht von Entbiografisierung und Entdifferenzierung.

Laut Promberger hat sich auch das hinter dem Sozialstaat stehende Menschenbild gegenüber den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten verändert. Von den Leistungsempfängern wird nun ein höheres Maß an Selbstkontrolle, rationaler Lebensführung und Anpassungsfähigkeit erwartet. Der Wissenschaftler schreibt, "die volle Unterstützung" werde vor allem denjenigen zuerkannt, die für willens und in der Lage erachtet werden, sich in "marktwirtschaftliche Verwertungszusammenhänge" einzufügen. Die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik müsse jedoch im Auge behalten und respektieren, dass auch die Bürger, die diesem Bild nicht entsprechen können, Zugang zum Grundrecht auf Sozialhilfe erhalten müssen.

Erfolge und ungelöste Probleme

Insgesamt fällt das Urteil des Forschers zwiespältig aus. Hartz IV versorgte von Anfang an mehr Menschen als vorher die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen. Damit habe die Reform zum Abbau der verdeckten Armut beigetragen: Mehr Menschen lösen nun ihren Rechtsanspruch auf Unterstützung ein. Frühere Sozialhilfeempfänger freuen sich, dass wieder ernsthaft jemand mit ihnen Jobchancen bespricht. Die Grundversorgung funktioniert im Großen und Ganzen.

Allerdings gibt es Einschränkungen: "Der faktische Wegfall der einmaligen Leistungen durch die Pauschalierung ignoriert die Realität in Haushalten mit geringem Einkommen, in denen Sparen für längerfristige Anschaffungen kaum möglich ist", so Promberger. Das stark vereinheitlichte System der Armutsbekämpfung tue sich überdies schwer, auf verschiedene Lebenslagen einzugehen - bei Alleinerziehenden, Familien mit Kindern, bei nur eingeschränkt Erwerbsfähigen. Dies betrifft die materielle Versorgung, Aktivierungsmaßnahmen sowie die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Bei der "Aktivierung" werden langfristiger Bildungs- und Qualifikationsbedarf oft vernachlässigt. Auf manche Maßnahme folgt Frust, wenn der Markt danach immer noch keinen Job hergibt. Auch fehlen den Grundsicherungsstellen Möglichkeiten, ausreichend auf den Einzelfall einzugehen, hat der IAB-Forscher beobachtet: "Kompetenzen und Spielräume zur fallspezifischen Problemlösung sind bei den betreuenden Stellen nicht genug gegeben." Und auch die Frage der Anerkennung von Lebensleistung, von biografischer Gerechtigkeit, sei nicht abschließend gelöst. Sie nähre einen Gutteil der fortbestehenden Kritik an Hartz IV.  

 

Textbox:

Entwicklungslinien der Sozialpolitik: Nicht alles neu nach Hartz IV

Vereinheitlichung der Armutspolitik. Das soziale Netz ist im Lauf des vergangenen Jahrhunderts dichter geworden, überregionale Institutionen haben an Einfluss gewonnen. So gibt es in Deutschland seit 1927 eine einheitliche Arbeitslosenversicherung. Die zahlreichen Unterscheidungen früherer Zeiten, etwa nach Berufsgruppen oder unterschiedlichen Gründen für Hilfebedürftigkeit, entfielen im Laufe der folgenden Dekaden zu großen Teilen. Der vorläufig letzte Schritt dieser Vereinheitlichung war 2005 die Abschaffung der zuvor faktisch 80 Jahre lang bestehenden Arbeitslosenhilfe, so Promberger.

Von Armenspeisung und Arbeitshaus zur Sozialleistung als Bürgerrecht. Bis in die 1950er-Jahre dominierte in Westdeutschland die Vorstellung, der Staat stelle den Ärmsten seiner Untertanen quasi freiwillig und von oben herab Geld zur Verfügung, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Dieser Anschauung widersprach das Bundesverwaltungsgericht 1954 in einem Grundsatzurteil. Die Richter folgerten aus dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes, dass Arme nicht Objekt staatlichen Handelns, sondern Subjekte mit eigenständigen Ansprüchen seien. So entstand das Bürgerrecht auf eine staatliche Mindestsicherung, das 1961 im Bundessozialhilfegesetz seinen Niederschlag fand. Die "armenpolizeiliche Seite" der Sozialpolitik wurde, so Promberger, in der Folge weitgehend auf Bedürftigkeitsprüfungen, Mitwirkungspflichten und Bekämpfung des Leis­tungs­missbrauchs reduziert. Heute, also auch nach der Hartz-IV-Reform, orientiere die Armutspolitik sich "einigermaßen konsistent an den staatsbürgerlichen Grundrechten".

Der Weg zu Leistungskürzung und Ein-Euro-Job. Die ersten zweieinhalb Nachkriegsjahrzehnte waren von einem schrittweisen Ausbau der sozialen Sicherungssysteme begleitet. Die Leistungshöhe nahm zu und immer weitere Be­­­völker­ungsgruppen wurden in den Kreis der Anspruchsberechtigten aufgenommen. In der Arbeitsmarktkrise der 1970er-Jahre bekamen Arbeitsförderung und -beschaffung größeres Gewicht. Ursprünglich waren die Programme als Heranführung an reguläre Erwerbsarbeit gedacht, entwickelten sich Promberger zufolge aber tendenziell zu Ersatzarbeitsmärkten, teils sinnvoll, teils kritikwürdig. Mit den heutigen Ein-Euro-Jobs, die den früheren Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oft "aufs Haar" glichen, werde diese Entwicklung fortgesetzt. Ebenfalls nicht neu ist der Versuch, durch Leistungskürzungen öffentliche Mittel zu sparen und die Erwerbslosen zu mehr Engagement bei der Jobsuche anzuspornen. Im Zuge des wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsels vom Keynesianismus zu Monetarismus und Neoklassik veränderten sich auch Armuts- und Arbeits­­marktpolitik: "Einschnitte in den Leistungen von Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe sind seit etwa 1980 Ausdruck dieses Strategiewechsels."

  • Nicht einmal die Hälfte derer, die Hartz IV hinter sich lassen, hat eine reguläre Beschäftigung gefunden. Zur Grafik
  • Gut die Hälfte der Bedürftigen steckt nach einem Jahr noch immer im Hartz-IV-System, nach zwei Jahren sind es noch über 30 Prozent. Zur Grafik
  • Ehemalige Hartz-IV-Empfänger, die einen Job gefunden haben, verdienen in aller Regel schlecht. Zur Grafik

Markus Promberger: Fünf Jahre SGB II - Versuch einer Bilanz, in: WSI-Mitteilungen 11/2009

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