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HBS Böckler Impuls

Krankenversicherung: Europäische Reformrezepte - Finanzierungsmix statt Radikalkur

Ausgabe 18/2005

Die Finanzierung der Krankenversicherung über einkommensabhängige Beiträge steht nicht nur in Deutschland unter Druck. Das zeigt ein Vergleich unter 16 europäischen Ländern. Ein Patentrezept fürs Gesundheitssystem sucht man auch im Ausland vergeblich - aber ein wichtiger Trend geht zu einer stärkeren Steuerfinanzierung.

Wenn der Arzt kommt, ist das alte Europa der EU-15 auf den ersten Blick ziemlich exakt zweigeteilt: In acht Staaten finanziert sich die Krankenversicherung über Beiträge, die auf das Arbeitseinkommen fällig werden. So wie in Deutschland, wo der Name für diese Ausrichtung entstand: "Bismarck-Typ". In sieben Ländern werden Doctores, Medikamente und Spitäler dagegen traditionell aus dem allgemeinen Steuertopf bezahlt. Neben Großbritannien und Irland sind das die nordischen Staaten Dänemark, Finnland, Schweden sowie Spanien und Portugal. Europas Exot in Sachen Krankenkassenfinanzierung ist die Schweiz, die der Frankfurter Professor für Sozialpolitik Diether Döring und Gutachter der Hessen Agentur im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung zusätzlich zur alten EU unter die Lupe genommen haben.

Seit 1996 zahlen die Eidgenossen Kopfpauschalen, unabhängig von Einkommen, Geschlecht und Alter. Lediglich für Kinder und Jugendliche gibt es Ermäßigungen. Zur Insel der Seligen ist die Schweiz dadurch nicht geworden. Die Gesundheitsausgaben pro Kopf, seit langem die höchsten in Europa, sind nicht gesunken. Der Trend nach oben habe sich seit Einführung der Kopfpauschale im Gegenteil "eher beschleunigt", stellen die Forscher fest. Die durchschnittliche Pauschalprämie ist dementsprechend drastisch gestiegen - von 173 Schweizer Franken im Jahr 1996 auf 280 Franken 2004. Ein knappes Drittel der schweizerischen Haushalte erhält Subventionen aus dem Staatssäckel, weil sie sonst mehr als zehn Prozent ihres Einkommens für die Krankenversicherung ausgeben müssten. Generell müssen die Versicherten bei den Krankheitskosten überdies einen Selbstbehalt von 300 Franken im Jahr tragen. Die Konsequenz: Ernüchterung. Die Prämienentwicklung "in Verbindung mit steigenden privaten Zuzahlungen hat die Akzeptanz dieses Finanzierungssystems sinken lassen", analysieren die Wissenschaftler.

Trotzdem sind die Diskussionen um Kostendämpfung und Gesundheitsreform in der Schweiz weniger heftig als in Frankreich oder gar in Deutschland. Und das, obwohl die Gesundheitsausgaben in diesen beiden Staaten pro Kopf und bezogen auf den Anteil am Bruttoinlandsprodukt niedriger sind.

Aus Sicht der Forscher hat das zwei Gründe: Wirtschaft und Beschäftigung entwickeln sich bei den Eidgenossen besser als bei ihren Nachbarn, insbesondere den Deutschen. Auch sind die Schweizer Arbeitgeber nicht direkt an der Krankenkassenfinanzierung beteiligt. In Deutschland und Frankreich gehen die Gesundheitsausgaben dagegen "in Form von lohngebundenen Beiträgen sichtbar in die Lohnkosten ein". Dies bringe den "Bismarck-Typ" europaweit unter "erheblichen wirtschaftspolitischen Legitimationsdruck", so die Forscher. Hohe Lohnnebenkosten gelten als Bremsfaktor im internationalen Wettbewerb. Beitragsfinanzierte Gesundheitssysteme könnten sich folglich "diesem von der Globalisierung beschleunigten Druck nicht ohne weiteren Wandel entziehen".

Also radikal umsteuern? Großen Lösungen im Sinne eines kompletten Systemwechsels geben die Forscher kaum Chancen. Das liegt nicht nur daran, dass Institutionen und Sozialrecht in jedem Land auf das seit Jahrzehnten existierende System zugeschnitten sind.  Die möglichen Alternativen haben selber ihre Schwachstellen, wie der europäische Vergleich deutlich zeigt:

  • In Ländern mit Kopfpauschalen steigen die Gesundheitsausgaben, siehe Schweiz, tendenziell besonders stark. Außerdem belastet das Schweizer Modell nach Erkenntnis der Forscher insbesondere Familien mit mittlerem Einkommen und ältere Menschen überproportional. Insgesamt dürften Pauschalprämien durch derartige "verteilungspolitische Verwerfungen" politisch eher unattraktiv bleiben und allenfalls zur Finanzierungs-Ergänzung eingeführt werden.
  • Aus Steuern finanzierte Gesundheitssysteme weisen wiederum zwar oft relativ niedrige Gesundheitsausgaben auf, weil der Staat als Financier die Aufwendungen direkt lenken kann. Doch was in den Haushaltsbilanzen gut aussieht, führt in Praxen und Kliniken nicht selten zum Behandlungsstau. So müssen Patientinnen und Patienten etwa in Großbritannien, Irland und Spanien nach wie vor lange auf Operationen oder sogar auf manche Untersuchungen warten.

Kein Wunder, dass auch die Bürger dieser Länder ihren Gesundheitssystemen selten gute Noten geben. Bei Umfragen zur Zufriedenheit  finden sich die niedrigsten Werte "nahezu ausschließlich in Ländern mit steuerfinanzierten Gesundheitssystemen und vergleichsweise geringen Gesundheitsausgaben pro Kopf", beobachten Döring und die Hessen Agentur. Die Regel gilt mit zwei Ausnahmen: In Deutschland fließt viel Geld in den Medizinbetrieb, gleichwohl ist nur jeder Zweite zufrieden. Dagegen geben die Finnen weniger aus als der europäische Durchschnitt - und blicken über Versorgungslücken mit erstaunlichem Gleichmut hinweg.

Realistischer als groß angelegte Systemveränderungen sind nach Analyse der Frankfurter Forscher deshalb "Kombinationslösungen", bei denen auch in "Bismarck"-Ländern künftig ein höherer Anteil aus Steuermitteln fließt. Einige dieser Länder sind auf dem Weg zu einer Mischfinanzierung auch schon weit fortgeschritten, wie eine tiefere Analyse der gesundheitspolitischen Europakarte offenbart: In  Luxemburg, Österreich, Belgien oder Griechenland spielen Steuertransfers längst eine wesentliche Rolle, in Italien steht das Beitragsprinzip sogar eigentlich nur auf dem Papier.

Lediglich Frankreich, die Niederlande und Deutschland speisen ihre medizinische Infrastruktur noch weit überwiegend aus Beiträgen. In Frankreich ist der Anteil öffentlicher Mittel, die nicht aus der gesetzlichen Krankenversicherung stammen, europaweit am niedrigsten: lediglich 2,5 Prozent kommen aus Steuern. Aber das dürfte sich bereits im Jahr 2007 ändern. In Deutschland stammen derzeit 6,3 Prozent aus Transfers, unter anderem aus der Tabaksteuer. "Erste eher verhaltene Ansätze", konstatieren die Forscher, aus denen aber ebenfalls mehr werden könnte. Mit Blick auf den Trend im Ausland halten sie es für wahrscheinlich, dass künftig etwa die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern aus dem Steuertopf gedeckt wird. Die gilt bei vielen Ökonomen ohnehin als "gesamtgesellschaftliche Aufgabe", für die nicht nur die abhängig beschäftigten Beitragszahler aufkommen sollten. Und auch "Ausgleichssysteme für Bevölkerungsgruppen mit übermäßigen finanziellen Belastungen dürften verstärkt steuerfinanziert werden", schätzen die Autoren der Böckler-Studie.

Das Ende der Debatten über die Kosten der modernen Medizin wäre damit freilich nicht erreicht - weder in Deutschland noch in den anderen EU-Ländern oder der Schweiz. Drei Entwicklungen machen die Stabilisierung der Krankenversicherungssysteme zu einem Langzeitversuch, diagnostizieren die Wissenschaftler:

  • Die Alterung der Bevölkerung,
  • der medizinische Fortschritt und
  • die Globalisierung.

Dabei erproben die meisten Länder einen Cocktail aus höheren Zuzahlungen, mehr Wettbewerb zwischen Leistungserbringern und unter den Krankenkassen. Dazu kommen Tests mit Hausarztmodellen oder elektronische Patientenkarten. In ganz Europa gilt: Die Aktivität ist groß, Trends sind absehbar. Doch ein Patentrezept hat niemand.

  • Die Finanzierung der Krankenversicherung über einkommensabhängige Beiträge steht nicht nur in Deutschland unter Druck. Das zeigt ein Vergleich unter 16 europäischen Ländern. Ein Patentrezept fürs Gesundheitssystem sucht man auch im Ausland vergeblich - aber ein wichtiger Trend geht zu einer stärkeren Steuerfinanzierung. Zur Grafik
  • Die Finanzierung der Krankenversicherung über einkommensabhängige Beiträge steht nicht nur in Deutschland unter Druck. Das zeigt ein Vergleich unter 16 europäischen Ländern. Ein Patentrezept fürs Gesundheitssystem sucht man auch im Ausland vergeblich - aber ein wichtiger Trend geht zu einer stärkeren Steuerfinanzierung. Zur Grafik

Prof. Dr. Diether Döring, Bettina Dudenhöffer, Jürgen Herdt: Europäische Gesundheitssysteme unter Globalisierungsdruck. Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Wiesbaden 2005, Hessen Agentur Report Nr. 689.

Siehe auch das von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Projekt: "Finanzierung der Gesundheitssysteme der EU".

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