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Erste Hilfe fürs Tarifsystem Böckler Impuls

Arbeitsbedingungen und Löhne: Erste Hilfe fürs Tarifsystem

Ausgabe 10/2023

Die Tarifbindung geht seit Jahren zurück. Politische Unterstützung ist gefragt. Dafür gibt es verschiedene Ansatzpunkte.

Was geht den Staat das Tarifsystem an? Ist es nicht Sache der Gewerkschaften und Arbeitgeber, sich über Löhne und Arbeitsbedingungen zu einigen, juristisch gesprochen: ein Fall für die Privatautonomie? Dieser Sichtweise halten die WSI-Experten Martin Behrens und Thorsten Schulten entgegen: Das Tarifsystem ist mehr als die Summe einzelner privater Verträge, nämlich „eine Art öffentliches Gut“, von dem die Gesellschaft als Ganzes profitiert. Es gehe um die „Ordnung und Befriedung der Arbeitsbeziehungen, die gerechte Verteilung des erwirtschafteten Reichtums, die Steigerung von Produktivität, die Vermeidung von Schmutzkonkurrenz sowie die Senkung von Transaktionskosten“. Kurz: um sozialen Frieden und Wohlstand durch wirtschaftlichen Erfolg. Daher sieht die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor, dass der Staat die Aufgabe hat, die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sicherzustellen, so Behrens und Schulten. Auch die EU sieht ihre Mitgliedsstaaten in der Pflicht, ihr Tarifvertragssystem mit konkreten Aktionsplänen zu stärken – sofern es in einem Land weniger als 80 Prozent der Beschäftigten erfasst. Und das ist in Deutschland seit längerem der Fall. Nur noch für gut die Hälfte der Beschäftigten gilt ein Tarifvertrag. 

In der Diskussion ist eine Reihe von Maßnahmen, die dem Tarifsystem wieder zu mehr Geltung verhelfen könnten. Behrens und Schulten unterscheiden Ansätze der Revitalisierung von unten und von oben. „Von unten“ heißt: die Mitgliederbasis stärken, also Anreize für Beschäftigte schaffen, Gewerkschaften beizutreten, und Unternehmen dazu bringen, sich Arbeitgeberverbänden anzuschließen und sich an die von ihnen ausgehandelten Tarife zu halten. 

Ein zusätzlicher Anreiz für die Gewerkschaftsmitgliedschaft könnte – sofern man unterstellt, dass Menschen in erster Linie nach Kosten-Nutzen-Kalkülen handeln – in einer besseren steuerlichen Absetzbarkeit des Gewerkschaftsbeitrags bestehen. Der Beitrag würde dann nicht einfach in den allgemeinen Werbungskosten untergehen, sondern zu einer zusätzlichen Steuerersparnis führen, wie es zum Beispiel Spenden tun. Abgesehen von offenen steuerrechtlichen Fragen ist jedoch ungeklärt, wie stark ein solcher Ansatz wirken würde. Denn die wenigen Forschungsergebnisse, die zu diesem Thema vorliegen, deuten eher darauf hin, dass solche Nutzen-Abwägungen nicht ausschlaggebend sind, wenn sich Menschen für die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft entscheiden. 

Ein anderer Vorschlag sieht vor, Tarifgehälter steuerlich zu privilegieren. Das würde allerdings Beschäftigte in tariflosen Unternehmen benachteiligen – selbst wenn sie in der Gewerkschaft sind. Das führt zu der Idee der Differenzierungsklauseln: Gewerkschaften könnten für ihre Mitglieder bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen aushandeln als für Nichtmitglieder und so den Beitritt attraktiver machen. Das funktioniert natürlich nur dort, wo es schon Tarifverträge gibt, und die damit verbundenen Probleme sind vielfältig. So haben die Arbeitgeber kein Interesse daran, mehr Beschäftigte in die Gewerkschaften zu locken, und werden die übrigen Beschäftigten deshalb gleich behandeln. Oder sie könnten versucht sein, „mit unlauteren Mitteln“ den Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an der Belegschaft gering zu halten. Hinzu kommen Datenschutzfragen. Da niemand seinem Arbeitgeber eine Gewerkschaftszugehörigkeit offenlegen muss, müsste ein Treuhänder eingeschaltet werden, der die Bezahlung übernimmt. 

Der Staat kann nicht nur Anreize für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft setzen, sondern auch, „von oben“, mit verbindlichen Regeln die Tarifbindung fördern. Das hat er in der jüngeren Vergangenheit bereits getan. Etwa mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz von 2014, das die Möglichkeit für eine Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) deutlich erleichtern sollte. Allerdings war diese Reform kaum wirksam, da die Arbeitgeber nach wie vor mehrere Veto-Positionen haben, um eine AVE zu verhindern. Dementsprechend besteht hier nach wie vor Regelungsbedarf, um tatsächlich mehr allgemeinverbindliche Tarifverträge zu ermöglichen. Darüber hinaus geht es auch um eine „Renaissance umfassender Tariftreuevorgaben“. In immer mehr Bundesländern wird die Vergabe öffentlicher Aufträge an die Einhaltung von Tarifverträgen geknüpft. Mit einem „Bundestariftreuegesetz“ will nun auch der Bund eine entsprechende Regelung einführen. Solche Maßnahmen weisen laut Behrens und Schulten „den Vorteil auf, dass sie unmittelbar wirken und somit das gewünschte Verhalten direkt steuern können“. 

Insgesamt kommen Behrens und Schulten in ihrer Analyse zu dem Schluss, dass zwischen staatlichen Eingriffen und Tarifautonomie kein grundsätzlicher Widerspruch besteht, „denn ohne die Stützung durch staatliche Akteure – sei es in Form direkter Vorgaben für die Geltung von Tarifnormen, sei es über die Stärkung der tarifschließenden Koalitionen selbst – dürfte die Bereitstellung eines funktionsfähigen Tarifsystems kaum möglich sein“. Dass eine ungebremste Erosion des Tarifsystems negative Folgewirkungen hat, die „weit über die individuellen Einkommen der abhängig Beschäftigten hinausweisen“, sei etwa in den USA zu beobachten.

Martin Behrens, Thorsten Schulten: Das Verhältnis von Staat und Tarifautonomie, WSI-Mitteilungen 3/2023

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