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Digitalisierung: Betriebliche Weiterbildung allein reicht nicht Böckler Impuls

Arbeitswelt: Digitalisierung: Betriebliche Weiterbildung allein reicht nicht

Ausgabe 15/2021

Um fit für die Digitalisierung zu sein, sollen sich Beschäftigte weiterbilden. Doch das wird oft nicht ausreichen. Möglicherweise werden viele nicht umhinkommen, in der Mitte ihres Erwerbslebens Betrieb und Tätigkeit zu wechseln.

Industrie 4.0 ist nichts weiter als ein Marketingbegriff. Und ein irreführender noch dazu, findet Matthias Knuth von der Universität Duisburg-Essen. Denn der Begriff suggeriert, dass Digitalisierung heute in erster Linie auf der Ebene der industriellen Fertigung abläuft. Dabei wird übersehen, dass der Wandel viel tiefer greift. Nicht einzelne Produktionsprozesse verändern sich, ganze Geschäftsmodelle und Wirtschaftsbereiche sind im Umbruch. Unternehmen müssen sich neu erfinden oder sie verschwinden. Auch die Beschäftigten werden sich laut Knuth vielfach neu orientieren müssen. Weiterbildung, um im Job „mithalten“ zu können, wird in vielen Fällen nicht ausreichen, weil es den bisherigen Betrieb oder die bisherige Abteilung nicht mehr geben wird. Dann hilft nur ein Wechsel von Arbeitgeber und Tätigkeit, im Extremfall auch das Erlernen eines neuen Berufs. Die Strukturen dafür müssen jetzt geschaffen werden, niedrigschwellig und mit einem Milliardenbudget, argumentiert der Sozialwissenschaftler in einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Analyse.

Transformationsprozesse treffen zusammen

Knuth spricht von „konfluenter Digitalisierung“, weil sie mit anderen Transformationsprozessen zusammentrifft. Auch Energiewende, Mobilitätswende oder Agrarwende laufen letztlich darauf hinaus, dass nicht mehr zeitgemäße Geschäftsmodelle aus dem Markt gedrängt werden, sei es durch Bepreisung von Emissionen oder durch gesetzlich erzwungenen Ausstieg aus bestimmten Technologien. Damit stehen beispielsweise Autohersteller vor einer doppelten Herausforderung: Neu entwickelte Fahrzeuge müssen umfassend digitalisiert, wenn nicht sogar vollständig automatisiert, und emissionsarm zugleich sein. 

Die aktuellen Veränderungen unterscheiden sich nach Knuths Ansicht grundsätzlich von früheren Digitalisierungsschüben. Als etwa in den 1980er- und 1990er-Jahren die Computer in den Büros Einzug hielten, hätten alle Beschäftigten mehr oder weniger die gleichen Office-Programme erlernen müssen. In der Fertigung sei es um die digitale Steuerung von Werkzeugmaschinen, in den Konstruktionsbüros um den Übergang vom Zeichenbrett zum CAD-System gegangen. Die heutigen Entwicklungsschritte spielten sich aber gerade nicht primär auf der Tätigkeitsebene, sondern auf der systemischen Ebene ab, so der Sozialwissenschaftler. 

Arbeitsförderung ist nicht gut gerüstet

Was bedeutet das für die Beschäftigten und ihre Arbeitsplätze? Wenn zutrifft, dass es zu einem grundlegenden Umbruch in Wirtschaft und Arbeitsmarkt kommt, dann laufen die üblichen Qualifizierungsoffensiven „weitgehend ins Leere“. Diese zielen darauf ab, dass sich Beschäftigte in ihrem Job weiterbilden und damit an neue Technologien anpassen. Weiterbildung soll ihnen „Schlüsselqualifikationen“ oder „Kernkompetenzen“ der Digitalisierung vermitteln. Laut Knuth geht das jedoch „am Thema vorbei“. Zum einen sei ohnehin kaum greifbar, was unter digitalen Kompetenzen zu verstehen ist. Zum anderen komme es möglicherweise weniger auf Weiterbildung innerhalb der Betriebe an. „Weiterbildungserfordernisse würden dann weniger durch Digitalisierung der bisherigen Tätigkeit als vielmehr durch den Wegfall des Arbeitsplatzes aufgrund von Strukturwandel entstehen“, schreibt der Forscher. 

Die Herausforderung der Arbeitsmarktpolitik werde viel stärker als jemals zuvor darin bestehen, die Umverteilung von Arbeitskräften, also den Wechsel des Betriebes und der beruflichen Perspektive, selbst noch in einem relativ rentennahen Alter zu begleiten und zu ermöglichen. Die aktive Arbeitsförderung sei dafür sehr schlecht gerüstet. „Zwar gibt es die aus den Erfahrungen des ostdeutschen Strukturbruchs entstandenen und stetig weiterentwickelten Transfermaßnahmen, aber diese Instrumente greifen eher zu spät und viel zu selektiv, als dass sie allein ausreichen könnten, die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen“, schreibt der Forscher. Zudem seien die arbeitsmarktpolitischen Förderungen stark an den jeweiligen Erwerbs- beziehungsweise Sozialleistungsstatus gebunden. 

Sonderprogramm für den Umbau der Arbeitswelt

Eine Strukturreform der sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit oder Erwerbsarmut sowie der Arbeitsförderung würde mehrere Jahre in Anspruch nehmen und damit zu lange dauern, um schnell auf die anstehenden Herausforderungen reagieren zu können, vermutet Knuth. Stattdessen schlägt er ein Sonderprogramm „Transformation der Arbeitswelt“ vor, in das über zehn Jahre jährlich vier Milliarden Euro fließen – zusätzlich zu aktuellen Förder- und Weiterbildungsprogrammen, die dadurch nicht ersetzt werden sollen. Das Sonderprogramm soll sich an alle Erwerbspersonen, Betriebe und Dienststellen sowie alle Anbieter von Weiterbildung oder andere Einrichtungen zur Förderung der beruflichen Mobilität richten. Für die Teilnahme soll es nicht auf Alter, Geschlecht, bisherige Ausbildung oder den angestrebten Beruf ankommen. Auch Nichterwerbstätige sollen einbezogen sein. Entscheidend ist, dass es bei dieser besonderen Förderung nicht darum geht, ob sie individuell notwendig ist, um dem Risiko der Arbeitslosigkeit zu entgehen oder Hilfebedürftigkeit zu überwinden, sondern darum, ob sie zur „Transformation des Erwerbspersonenpotenzials“ beiträgt. Es geht nicht um die Kompensation individueller Defizite, sondern um die Eröffnung von Möglichkeitsräumen für kollektives und individuelles Handeln. „Das Sonderprogramm ist als ein Großexperiment zu verstehen“, schreibt der Wissenschaftler. Daraus ließen sich Erkenntnisse für einen späteren Umbau der Arbeitsmarktpolitik gewinnen.

Wandel hängt nicht allein vom Abschluss ab

Dass Transformation und Digitalisierung vor allem Menschen mit geringer Qualifikation betreffen, ist ein weit verbreiteter Irrtum. Betroffen sind auch Berufe, für die eine Ausbildung oder ein Hochschulstudium notwendig ist; teilweise verändern sie sich sogar noch stärker. So könnten zum Beispiel Piloten, Banker oder IT-Fachkräfte mit Routineaufgaben, die durch künstliche Intelligenz übernommen werden, gezwungen sein, sich beruflich neu zu orientieren. Auch im stationären Einzelhandel, im Reisegewerbe sowie in Konstruktionsabteilungen und der industriellen Arbeitsvorbereitung gibt es Menschen mit guten Bildungsvoraussetzungen und in gehobener beruflicher Position, deren Beschäftigungsmöglichkeiten wegzubrechen drohen. Sie könnten von der Förderung aus dem Sonderprogramm „Transformation der Arbeit“ profitieren, zum Beispiel, indem sie die Möglichkeit erhalten, in der Mitte ihres Erwerbslebens ein Studium zu beginnen beziehungsweise nachzuholen.

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