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HBS Böckler Impuls

Gesundheitsschutz: Die neuen Formen der Arbeitsbelastung

Ausgabe 13/2010

Widersprüchliche Vorgaben und gezielte Überforderung setzen viele Angestellte unter Stress. Der klassische Arbeitsschutz hat keine wirksamen Mittel gegen psychische Belastungen -  ein neues betriebliches Gesundheitsmanagement ist nötig.

Obwohl der Krankenstand insgesamt zurückgegangen ist, nahmen die Fehlzeiten wegen seelischer Krankheiten seit 1998 deutlich zu. Nach Angaben der AOK fielen 2008 gut 60 Prozent mehr Arbeitstage wegen psychischer Erkrankungen aus als zehn Jahre zuvor. Die Psyche ist zum wichtigten Grund für einen Aufenthalt im Krankenhaus geworden: Seelische Gebrechen verursachen laut Barmer GEK 17 Prozent aller Kliniktage. 1990 waren es noch 8 Prozent.

Die Zunahme psychischer Nöte ist mit auf einen Wandel der Arbeitswelt zurückzuführen. Stress und das Gefühl der Überforderung verbreiten sich auch, weil die Unternehmen ihre Leistungspolitik radikalisieren, sagen Forscher des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung in München. Nick Kratzer, Wolfgang Menz und Wolfgang Dunkel haben untersucht, wie sich neue Organisations- und Steuerungsformen auf die Beschäftigten auswirken. In ihrer Bilanz des vom Bundesforschungsministerium geförderten Projektes "Partizipatives Gesundheitsmanagement" machen sie deutlich, dass Zielvorgaben und ähnliche Instrumente der Leistungspolitik die Beschäftigten erheblich belasten. Und sie skizzieren, wie ein neues betriebliche Gesundheitsmanagement darauf reagieren könnte.

Die Wissenschaftler sehen die Ursache der seelischen Lasten weniger in der gestiegenen Arbeitsintensität, sondern vor allem in den veränderten Anforderungen. Für viele Dienstleistungs- und Büroberufe gelte: "Das Verhältnis von Aufwand und Ergebnis wird umgedreht: Am Anfang des Prozesses stehen definierte Ertrags- oder Marktziele, die dann kaskadenförmig über die einzelnen Organisationseinheiten runter gebrochen werden". Die zur Verfügung stehenden Ressourcen spielen bei der Zielsetzung kaum mehr eine Rolle; die Beschäftigten müssen selbst sehen, wie sie die verlangten Ziele erreichen. Die Wissenschaftler sprechen von einem "grundlegenden Wandel in der Organisation und Steuerung von Arbeit". Da sich viele Firmen in den vergangenen Jahren zudem fast pausenlos umstrukturiert haben, leiden die Beschäftigten unter Unsicherheit und der Angst, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein.

Das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Im Fallbeispiel eines Finanzdienstlers sollen alle Vertriebsmitarbeiter - dazu gehören alle Beschäftigten mit Kundenkontakt - vorgegebene Ertragsziele eigenverantwortlich anstreben. Das kann zum Vorteil des Einzelnen sein, denn "es eröffnet Chancen auf Erfolgserlebnisse", so die Forscher. In der Praxis wird es jedoch als "permanent wachsende Beanspruchung erlebt", denn die Ziele sind stetig wachsend angelegt, und ob sie erreicht wurden, wird in sehr kurzen Zeitabständen überprüft. Viele Vertriebsmitarbeiter fragen sich, ob sie den ständig steigenden Vorgaben weiterhin gerecht werden können, etliche denken, schon jetzt an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angelangt zu sein. Mangelnde Flexibilität des Arbeitgebers erhöht zudem den Leistungsdruck: Wird ein Beschäftigter krank, dann ändert sich das Ertragsziel der Abteilung nicht. Intensives Controlling soll zum Erfolg anspornen - tatsächlich reduziert es aber die Zeit, sich der eigentlichen Arbeit zu widmen, weil es umfangreiche Dokumentationspflichten verlangt. Die Vertriebskräfte des Finanzdienstlers wollen die Kunden zwar zufrieden stellen, können aber auf deren Wünsche kaum eingehen, weil sie die Zielvorgaben im Nacken haben. Trotzdem beschweren sich die Beschäftigten darüber nur sehr selten beim Arbeitgeber, denn sie sehen "die steigenden Leistungsanforderungen keineswegs als Ergebnis spezifischer Intensivierungsstrategie, sondern vielmehr als Ausdruck unhintergehbarer ökonomischer Zwänge", so die Studie.

Unsicherheit durch permanente Veränderung. Für viele Beschäftigte gehören "langjährige und tief greifende Umbauten im Unternehmen ohne Aussicht auf ein gutes Ende" zum Arbeitsalltag, schreiben die Autoren. In einer untersuchten IT-Abteilung gab es 2001 eine Entlassungswelle, die mit der bisherigen Firmenkultur brach. Die verkleinerte Belegschaft musste nun die gleichen Aufgaben bewältigen. Seitdem wird der Betrieb permanent umstrukturiert, so "dass keine Zeit mehr bleibt, so etwas wie einen eingeschwungenen Zustand zu erreichen". Die Beschäftigten sind überfordert und enttäuscht, weil sie spüren: Ihre Arbeitsplätze sind nicht sicher, egal wie gut sie arbeiten. Die ISF-Forscher berichten von inneren Kündigungen, Erschöpfung und Zukunftsängsten: "Die Beschäftigten strengen sich auf der einen Seite an, um die aktuelle Arbeit befriedigend zu gestalten; zugleich müssten sie eigentlich auch darauf achten, ihre Arbeitskraft nicht zu verschleißen, um im Falle der Entlassung fit in den Arbeitsmarkt gehen zu können."

Gesundheit in eigener Verantwortung? Die Beschäftigten in den Untersuchungsbetrieben geben an, dass ihre Arbeit Stress erzeugt. Daraus folgern sie "aber nicht, dass es primär der Betrieb ist, der für die Gesundheit seiner Mitarbeiter verantwortlich ist und deren Arbeitsbedingungen entsprechend zu gestalten hätte". In den Belegschaften herrscht vielmehr die Auffassung vor: Der eine hält dem Stress stand, der andere nicht. "Sich gesund, fit und leistungsfähig zu halten wird immer mehr zur Aufgabe individueller Selbstsorge der Beschäftigten", so die Wissenschaftler. Angebote der Betriebe wie etwa Stress-Seminare werden nur selten angenommen - die Beschäftigten wollen keine Zweifel an ihrer Leistungsfähigkeit aufkommen lassen. Einzelne Beschäftigte nehmen stattdessen an privaten Verhaltenstherapien teil, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Andere verzichten auf berufliches Vorankommen und reduzieren enttäuscht ihr Engagement.

Am häufigsten aber reagieren Beschäftigte auf den Leistungsdruck, in dem sie ihre eigene Gesundheit gefährden, berichten die Wissenschaftler. Sie arbeiten länger, machen kaum Pausen. Etliche Befragte berichten von Burn-Out-Syndromen aus dem Kollegenkreis. Man registriert Erkrankungen sehr aufmerksam und wertet sie als Alarmzeichen  - ohne jedoch daraus eine Konsequenz abzuleiten. "Kehren die Erkrankten zurück an ihren Arbeitsplatz, verlieren sie die Privilegien der Krankenrolle und sollen wieder leistungsfähig sein", schreiben die Forscher.

Ein neues Gesundheitsmanagement. Die Wissenschaftler sehen in den Unternehmen einen erheblichen Nachholbedarf bei der Prävention psychischer Belastungen. Das betriebliche Gesundheitsmanagement der Unternehmen erschöpft sich meist im klassischen Arbeitsschutz, der körperliche Krankheiten verhindern soll. Auf die in Dienstleistungsbranchen weit stärker verbreiteten seelischen Lasten gibt es kaum Antworten. Kratzer, Menz und Dunkel nennen drei Punkte, die ein neues Gesundheitsmanagement berücksichtigen sollte.

=> Öffentlichkeit schaffen
Die meisten Beschäftigten halten es für ihr persönliches Problem, wenn sie sich dem Leistungsdruck nicht gewachsen fühlen - selbst wenn sie offenkundig überzogenen Ansprüchen ausgesetzt sind. Diese Individualisierung müsste ein wirksames Gesundheitsmanagement überwinden, so die Experten. Es sollte die Widersprüche zwischen übertriebenen Erfolgszielen und der Gesundheit der Belegschaft offen legen. Die nötige Firmen-Öffentlichkeit dafür können Betriebsräte schaffen.

=> Führungskräfte verstehen
Ob und wie sehr Beschäftigte die Arbeit als Belastung empfinden, hängt auch vom Verhalten der jeweiligen Führungskräfte ab. Die Wissenschaftler geben dabei zu bedenken: Die Führungskräfte reichen in der Regel die von der Firmenspitze festgelegten Ziele weiter, ohne selbst ein Mittel zu haben, um den Leistungsdruck ihrer Mitarbeiter zu mindern. Darum sollte auch die Belastungssituation der Führungskräfte zum Thema des betrieblichen Gesundheitsmanagements werden, rät das ISF.

=> Mitsprache bei der Leistungspolitik
Damit betrieblicher Gesundheitsschutz wirken kann, muss er systematisch mit der Leistungssteuerung verbunden sein, schreiben die Forscher. Betriebsräte benötigen Kenntnisse der neuen leistungspolitischen Verfahren. Das kann sie in die Lage versetzen, früh auf etwaige Überforderungen aufmerksam machen. "Leistungspolitik muss sich zentral an Kriterien von Gesundheit und Wohlbefinden orientieren", schließt die Studie. Nur dann sei betriebliche Gesundheitspolitik mehr als ein Reparaturbetrieb.


Die Belastungsprofile der neuen Arbeitswelt

Die Forscher des ISF München haben 110 qualitative Interviews mit Beschäftigten in Dienstleistungs- und Angestelltenberufen geführt. Sie identifizieren sechs typische Belastungsformen.

1. Das Gefühl des ständigen Ungenügens
Die Unternehmen formulieren die Ziele dynamisch, die gewünschten Erträge werden jährlich größer. Für die Beschäftigten bedeutet das: Die Erfolge von gestern sind heute nur noch Ausgangspunkt für neue Steigerungen. Was gerade mit möglicherweise letzter Kraft erreicht wurde, darf kein Grund zur Zufriedenheit ein. In der Folge breitet sich unter den Beschäftigten ein Gefühl des ständigen Ungenügens aus, so die Studie. Stolz auf die eigene Leistung wird systematisch erschwert.

2. Widersprüche zwischen Zielen und Aufgaben
Viele Beschäftigte zeigen ein ausgeprägtes Berufsethos. Die vorgegebenen Ergebnisziele stehen oft im Widerspruch dazu - kurzfristige Ertragssteigerung und dauerhafte Kundenzufriedenheit sind selten vereinbar. Die Beschäftigten sind darum oft gezwungen, gegen ihre eigenen Ansprüche zu verstoßen. Weil sie aber zugleich die Markt- und Erfolgsorientierung der Firma teilen, befinden sich die Beschäftigten in einem inneren Konflikt.

3. Vorschriften konterkarieren die geforderte Eigeninitiative
Die neue Leistungspolitik könnte den Beschäftigten im Prinzip mehr Autonomie verleihen - doch die Unternehmen schränken die Freiheits-Potenziale rasch wieder ein. So werden viele Tätigkeiten standardisiert, auch um das Controlling zu erleichtern.

4. Leistung und Erfolg entkoppeln sich
Zielvorgaben haben das erklärte Ziel, Anreize zur Leistung zu setzen. Doch ob sich Anstrengungen und gute Leistung tatsächlich lohnen, ist fraglich. Viele Beschäftigte haben das Gefühl, ihre tatsächliche Arbeitsleistung finde keine Anerkennung. Variable Vergütungsanteile bemessen sich nicht nach Leistung, sondern allein nach Erfolg. Zunehmend mehr Beschäftigte werden nach Umsatz und Renditen vergütet.

5. Leistung garantiert keine Beschäftigungssicherheit
Auch erfolgreiche Abteilungen und Betriebe werden erfahrungsgemäß geschlossen, verlagert oder verkauft. Gute Leistungen sichern demnach nicht zwingend den Arbeitsplatz. Wo Beschäftigte trotz guter Zahlen Personalabbau erlebt haben, ist das Vertrauen zum Arbeitgeber beschädigt.

6. Ein ständiger Ausnahmezustand
Bei auf Dauer angelegten Reorganisationsprozessen wird der Ausnahmezustand zur Regel. Obwohl das Unternehmen permanent umgebaut wird, muss die Arbeit geleistet werden. Zielvorgaben gehen üblicherweise von einer fiktiven Normalität aus: Sie berücksichtigen selten die regionalen Besonderheiten oder Eigenheiten der Kunden, sie vernachlässigen geschwundene Ressourcen und blenden eine gesamtwirtschaftliche Krise aus.

  • Arbeitgeber setzen die Beschäftigte mit ihrer Leistungspolitik unter Stress, sie kümmern sich aber erst auf Druck darum, die seelischen Belastungen. Zur Grafik

Wolfgang Dunkel, Nick Kratzer, Wolfgang Menz: Permanentes Ungenügen und Veränderung in Permanenz - Belastungen durch neue Steuerungsformen, in: WSI Mitteilungen 7/2010

Forschungsprojekt Pargema (PARtizipatives GEsundheitsMAnagement)

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