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Florian Blank, 17.05.2022: Rente: Jag Älskar Sverige?

„Kann denn nicht jedes Land wie Schweden sein?“ sangen Die Ärzte 2003 in ihrem Lied „Jag Älskar Sverige“ („Ich liebe Schweden“). In der rentenpolitische Debatte scheint sich das bis heute so manche*r ebenso zu fragen. Was spricht gegen Schweden als Vorbild?

Im vergangenen Jahr haben Politiker der FDP das Beispiel Schweden in die rentenpolitische Diskussion gebracht (Vogel/Dürr 2021): „Um das deutsche Altersvorsorgesystem enkelfit zu machen, brauchen wir einen großen Wurf. Wir müssen nach unserer Überzeugung auch in der ersten Säule die Demographiefestigkeit deutlich steigern. Daher schlagen wir vor, hier dem schwedischen Beispiel zu folgen, und zwar in jeder Hinsicht!“ (ebda, S. 3)

Laut der Wochenzeitung „Die Zeit“ verweisen Experten und Politiker (sic!) besonders oft auf Schweden, wenn es um kapitalgedeckte Altersvorsorge geht. Tatsächlich ist im Kontext einer Reform der zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge oder allgemeiner im Zuge der Diskussion um einen Ausbau der Kapitaldeckung immer wieder auf Schweden hingewiesen worden (DIW, BMAS). Beispielsweise wurden beim Vorschlag einer „Deutschlandrente“, eines staatlichen Standardangebots für die zusätzliche, private Vorsorge mit Opt-out-Möglichkeit, die schwedischen Erfahrungen erwähnt. Und erst kürzlich sprach Stampfl auf der Seite des von Unternehmen der Finanzwirtschaft getragenen Deutschen Instituts für Altersvorsorge (DIA) von Schweden als einem „Erfolgsmodell“ und schrieb Roth zum Koalitionsvertrag der Ampelkoalition im ifo-Schnelldienst: „Von Schweden lernen“.

Den Horizont erweitern beim Blick über die Landesgrenzen

Ist Schweden denn nun ein „gottverdammtes Wohlfühlland“ (wieder Die Ärzte)? Tatsächlich finden sich auch Arbeiten (Wöss, Gasslander), die auf einige Aspekte und Probleme hinweisen, die an anderer Stelle eher ausgeblendet werden. Skeptische Anmerkungen lassen sich auch generell zur Finanzierungsmethode Kapitaldeckung machen, die in Schweden sowohl in der öffentlichen wie auch in der betrieblichen Sicherung eine Rolle spielt. In diesem Beitrag soll es um einige Aspekte gehen, die in der Debatte unterzugehen drohen. Diese Aspekte sind nicht einfach nur Details – es geht um wichtige Merkmale der schwedischen Rentenpolitik: um Leistungen und die Finanzierung.

Positiv hervorzuheben ist zunächst, dass die Garantierente (garantipension) für eine stabile Mindestsicherung sorgt – zumindest für die, die lange genug im Land waren, um nach 40 Jahren den vollen Anspruch zu erwerben. Diese Leistung fällt jedoch nicht sonderlich üppig aus und ist für sich genommen nicht armutssicher. Sie erscheint als systematisch einfacher als die deutsche Grundrente – die allerdings mit ihrem Ziel der Wertschätzung von Lebensleistung eine andere Stoßrichtung hat.  Andere Rentenleistungen werden auf die Garantierente angerechnet.

Oberhalb der Garantierente greift das öffentliche System der einkommensbezogenen Renten (zum größeren Teil umlagefinanziert, zum kleineren Teil kapitalgedeckt) bis zu einem Einkommen, das in etwa dem 1,13-Fachen des Durchschnittslohns nach OECD-Definition entspricht. Diese Grenze liegt niedriger als in Deutschland. Betriebsrenten stocken die öffentlichen Leistungen auf. Über der Beitrags- und Leistungsgrenze des öffentlichen Systems übernehmen Betriebsrenten die Funktion der Lohnersatzleistung. Das Betriebsrentensystem baut auf weit reichenden Tarifverträgen auf, die rund 90 Prozent der Beschäftigten erfassen.

Die Leistungen des schwedischen Gesamtsystems können im internationalen Vergleich nicht als besonders großzügig bezeichnet werden. Sowohl die Modellrechnungen der OECD als auch eine Betrachtung der aktuellen durchschnittlichen Rentenleistungen legen nahe, dass Schweden (wie Deutschland auch) insgesamt eher Mittelklasse ist. In Schweden beziehen Frauen allerdings höhere Renten als in Deutschland (relativ zum Durchschnitt bzw. zu den Männern). Hintergrund ist die höhere Erwerbsbeteiligung schwedischer Frauen.

Die OECD kalkuliert für ihre internationalen Vergleiche künftige Ersatzraten für idealtypische Personen, die gerade ins Erwerbsleben einsteigen. Ersatzraten setzen die erwarteten Rentenleistungen in Beziehung zum individuellen Durchschnittseinkommen. Für Durchschnittsverdiener*innen ergeben sich künftig Ersatzraten, die in Schweden einschließlich der Betriebsrenten brutto hinter denen in Deutschland einschließlich der privaten Vorsorge zurückbleiben. Werden die Bruttoersatzraten nur der öffentlichen Systeme betrachtet, liegen die Länder in etwa gleichauf. Bei halbem Durchschnittsverdienst nach OECD-Definition liegen die gesamten Bruttoersatzraten in Schweden etwas höher als in Deutschland. Die Nettoersatzraten liegen dagegen bei Durchschnittsverdiener*innen und Personen mit halbem Durchschnittsverdienst unter den deutschen Werten. Nicht berücksichtigt ist dabei, dass in Deutschland für die Mittelfrist eine Stabilisierung des Sicherungsniveaus angestrebt wird – mit entsprechend höheren künftigen Ersatzraten. Anzumerken ist außerdem, dass in den Berechnungen der OECD für Schweden noch eine um zwei Jahre kürzere Erwerbslaufbahn angenommen wird. Dennoch hat der Befund Bestand: Laut diesen Berechnungen sind die Leistungen der beiden Länder auf einem vergleichbaren Niveau.

Für Personen mit überdurchschnittlichem Einkommen allerdings – die OECD weist Ersatzraten auch für Personen mit doppeltem Durchschnittseinkommen nach OECD-Definition aus – ist das schwedische System großzügiger. Grund dafür sind die Betriebsrenten, in die erhebliche Mittel fließen.

Wer zahlt? Und ist das nachhaltig?

Zum Gesamtbild gehört auch die Finanzierung. Die Bedeutung von Sozialbeiträgen und der Lohnkosten für den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Entwicklung ist umstritten (IMK Study, WSI-Blog). Festzuhalten ist aber: In Schweden tragen die Arbeitgeber in einem ersten Schritt einen höheren Anteil an der Finanzierung im öffentlichen System (10,21 Punkte des Beitragssatzes von 17,21 Prozent). In einem zweiten Schritt werden Beschäftigten ihre Beiträge zum öffentlichen System aus Steuermitteln rückerstattet (MISSOC). Und mehr noch: Auch die betriebliche Altersversorgung wird größtenteils von den Arbeitgebern finanziert. Und zwar mit in der Regel 4,5 Prozent des Einkommens der Beschäftigten bis zur Grenze der Beitragsbemessung im öffentlichen System – und rund 30 Prozent (!) darüber. Vereinfacht gesagt: Die Renten werden von den Arbeitgebern und aus dem Staatshaushalt finanziert.

Allerdings: Der auch in der deutschen Debatte bekannte Ansatz, Stabilität und Nachhaltigkeit als finanzielle Nachhaltigkeit und stabile Beitragssätze zu interpretieren, wurde in Schweden radikal umgesetzt. Entwicklungen bei den Beitragseinnahmen und auf den Kapitalmärkten schlagen auf die Renten durch – bis hin zu nominalen Rentenkürzungen. Das System ist insofern risikofrei für Arbeitgeber und den Staat. Die Vergangenheit hat jedoch gezeigt, dass die Politik damit nicht aus dem Schneider ist, denn zu dem Zeitpunkt, zu dem Rentenkürzungen umgesetzt wurden, wurde über das Steuerrecht sichergestellt, dass die Verluste der Rentner*innen minimiert wurden.

Bei einer Bewertung der Finanzierung ist auch zu beachten, dass in Schweden das Risiko der Erwerbsminderung nicht über das Rentensystem abgewickelt wird. Den genannten Beitragssätzen stehen also nur die Ausgaben für Alterssicherung und die Hinterbliebenen gegenüber.

Also: Vorbild Schweden?

Wenn mehr Kapitaldeckung gewollt ist, dann liefert Schweden möglicherweise Hinweise für die Gestaltung kapitalgedeckter Altersvorsorge. Allerdings ist das der Grundentscheidung nachgelagert, wie denn das gesamte Alterssicherungssystem aufgebaut werden soll. Das schwedische System aufgrund dieser Facette als Vorbild zu behandeln, ist eine Verkürzung.

Auf der Habenseite kann Schweden aus Beschäftigtensicht die Finanzierung durch Arbeitgeber und aus Steuermitteln sowie eine Garantierente vorweisen. Zudem verfügt es über ein universelles Absicherungssystem. (Während es in Deutschland noch nicht mal eine Pflichtversicherung für Selbstständige in den Koalitionsvertrag geschafft hat.) Hier ließe sich durchaus Schweden als Vorbild nehmen. Was die Leistungsseite angeht, ist Deutschland zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit Schweden vergleichbar – der schwedische Weg würde in dieser Hinsicht kaum zu Verbesserungen führen. Schon die dauerhafte Stabilisierung des Rentenniveaus, wie von der Koalition angestrebt, könnte dazu führen, dass Deutschland in Bezug auf die öffentlichen Sicherungssysteme Schweden davonzieht. Und das rein auf die Beitragssatzstabilität fokussierte Verständnis von Nachhaltigkeit und die damit verbundenen Risiken für die Beschäftigten und Rentner*innen sind sozialpolitisch nicht überzeugend.

 

Zum Weiterlesen:

Florian Blank (2022): Rente: Eignet sich Schweden als Vorbild für Deutschland? WSI Policy Brief Nr. 69, April 2022 (pdf)

Autor

Dr. Florian Blank ist Experte für Sozialpolitik und forscht insbesondere zu Fragen der Sozialversicherung in Deutschland und Europa.

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