zurück
Magazin Mitbestimmung

Bildungs-Infrastruktur: Echt ätzend!

Ausgabe 09/2014

Schmutzig, lärmig, das Mobilar ist kaputt, die Bausubstanz marode – die Rede ist von Deutschlands Schulen. Auch Brand- und Arbeitsschutzvorschriften werden vielfach nicht eingehalten. Eine gute Lernumgebung sieht anders aus. Von Jeannette Goddar

Es kam der Tag, da reichte es Franziska Wodicka: In der Schule ihres Sohnes roch es auch in weiter Ferne der Toiletten wie auf dem Bahnhofsklo. Wenn der Junge nach Hause kam, konnte sie am Verschmutzungsgrad seiner Jeans sehen, ob er während der Schulzeit auf dem Boden gesessen hatte. Die Kreuzberger Mutter startete mit anderen Elternsprechern einen Rundruf, ob es anderswo auch so zugehe. In Scharen kamen Eltern gelaufen, berichteten von Schülern, die mit dem Bus zur nächsten Tankstelle fahren, wenn sie mal müssen, oder tagsüber nichts mehr trinken, und von Schulen, in denen die Eltern selber putzen oder gleich noch mit renovieren. Schnell war die „Initiative Schulschmutz“ nebst Website (http://schulschmutz.kaposty.de) gegründet. Nur wenig später wurde diese dadurch befeuert, dass das Gesundheitsamt einer Berliner Schule mit Schließung drohte, wenn dort nicht übers Wochenende grundgereinigt werde. 

„Es ist unglaublich, unter welchen Umständen Kinder lernen sollen“, erbost sich Franziska Wodicka, die seither mit der Initiative Schulschmutz versucht, der „Gemengelage von Sparmaßnahmen, die unsere Schulen verrotten lassen“, zumindest an einer Stelle Einhalt zu gebieten: nämlich zu erreichen, dass die Ausschreibungen für Schulreinigung so konkret gestaltet werden, dass die Anbieter, von denen am Ende der billigste genommen wird, wenigstens Angebote abgeben müssen, die dem tatsächlichen Putzbedarf gerecht werden. 

Wie ernst die Lage der sanitären Anlagen in der deutschen Bildungslandschaft ist, macht nicht zuletzt das Engagement einer Nichtregierungsorganisation deutlich, die sonst eher in Sambia und Indien aktiv ist: die German Toilet Organization (GTO), die sich aus gegebenem Anlass auch in Berlin einmal umhörte und herausfand, dass von 290 an zwölf Schulen befragten Schülern elf Prozent nie auf die Toilette gehen, 64 Prozent „nur im Notfall“. Seither veranstaltet die GTO einen Wettbewerb unter dem Titel „Toiletten machen Schule“. Der erste Preis: eine Toilettensanierung.

HERAUSBRECHENDE FENSTER

Viel gerettet werden kann mit derlei karitativem Engagement kaum – nicht nur weil der Erhalt von Schulen und die Sicherung von Bildung originär staatliche Aufgaben sind, sondern auch weil das Ausmaß der Hilfsbedürftigkeit über die Instandsetzung der sanitären Anlagen weit hinausgeht. So stürzte in Berlin Ende vergangenen Jahres binnen nur weniger Wochen an einer Schule ein Schüler durch eine Zwischendecke, an einer anderen wurde einer von einem herausbrechenden Fenster fast erschlagen. „Ich kenne keinen, der an einer völlig intakten Schule lernt“, konstatiert der Berliner Landesschulsprecher Janosch Jassim nüchtern. „Es gibt Schüler, die sitzen ab November mit Winterjacken im Unterricht, und welche, die lernen zwischen Eimern, in die es hineinregnet.“ Er selbst lernt an einer Schule, in der seit Jahren ein Container den Gemeinschaftsbereich ersetzt, auch das keine Seltenheit: Die Clay-Oberschule in Berlin-Neukölln zog kurz nach dem Mauerfall aus ihrem asbestverseuchten Gebäude in die „Übergangslösung“ Container. „Mit fünf Jahren hatten wir gerechnet. Nun sind wir immer noch dort“, erklärt der Schulleiter und Vorsitzende der Berliner GEW-Schulleitervereinigung, Lothar Semmel, „und hätten wir nicht so viel Druck gemacht, wäre vielleicht nie etwas geschehen.“ Erst nach Protestmärschen, Benefizaktionen und Anfragen im Abgeordnetenhaus unter Titeln wie „Wird es jemals eine neue Clay-Oberschule geben?“ ist seit Ende 2013 das Geld für einen Neubau da. Geschehen ist bisher allerdings noch nichts. „Vor 2019“, sagt Semmel, „rechnen wir kaum mit dem Umzug.“ Tatsächlich ist es mit der Bewilligung von Geldern nicht getan.

Als die versammelten Schulleiter aus Berlin Mitte vor ein paar Jahren in einem Brandbrief auf ihre Lage aufmerksam machten, taten sie das auch, weil es, selbst wenn Geld da ist, in den Bezirksämtern häufig niemanden gibt, der Kapazitäten hat, Anträge zu bearbeiten.

Die finanzielle Unterausstattung ist dennoch frappierend: Allein Berlins Schulen leiden unter einem Sanierungsstau von 860 Millionen Euro, der tatsächliche Bedarf ist nach Angaben der Bildungsverwaltung rund doppelt so hoch. Heruntergebrochen auf die Ebene der Bezirke – die, wie anderenorts die Kommunen, für Schulbauten zuständig sind –, rechnete die Stadträtin Cerstin Richter-Kotowski für Steglitz-Zehlendorf jüngst eindrücklich die Lage vor: Von 160 Millionen Euro, die sie zur Beseitigung des Sanierungsstaus benötigt, hat sie gerade mal 26 Millionen aus drei verschiedenen Töpfen – einem Landesprogramm zur Schul- und Sportstättensanierung, Bezirksmitteln zum Unterhalt von öffentlichen Gebäuden und einem Investitionsprogramm für den Neu- oder Ausbau von Schulen. 

WACHSENDER INVESTITIONSRÜCKSTAND

Die letzte umfassende bundesweite Erhebung des Investitionsbedarfs legte das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) 2008 pünktlich zum zweiten Konjunkturpaket vor: Für Sanierung und Aufrechterhaltung des Schulbetriebes der 44 000 Schulen bundesweit, so das Difu, würden bis 2020 rund 78 Milliarden Euro benötigt; die Schulen seien nach der Verkehrsinfrastruktur jener Bereich, der am meisten vernachlässigt worden sei. Ein Drittel des Geldes sollte in den Umbau der Schulen in moderne Lernstätten investiert werden – schließlich wird an der Schule von heute ganztägig und inklusiv gelernt, dafür braucht es Räume, Mensen, Spielbereiche, behindertengerechte Ausstattung. Aber auch für ganz Elementares fehlte Geld: vier Milliarden zum Beispiel für Feuerleitern, Rettungswege und Ähnliches, um bestehende Brandschutzvorschriften umzusetzen. Ist die Lage heute, ein Konjunkturpaket später, das immerhin in die energetische Gebäudesanierung einige Milliarden spülte, besser? Nein, erklärt Difu-Forscher Stefan Schneider und verweist auf das jüngste KfW-Kommunalpanel des Difu, das jährlich deutschlandweite Befragungen in Städten, Gemeinden und Landkreisen durchführt: Das attestiert Schulen und Sportstätten gar einen „wachsenden Investitionsrückstand“. 

Nicht besser wird die Lage durch das föderale Kompetenzwirrwarr, das nirgends so durchschlägt wie im Schulwesen: Denn nicht nur geht es bei dem Bemühen um Gelder zwischen Kommunen und Ländern zu „wie bei einer Schnitzeljagd, bis man ohne Resultat wieder am Anfang steht“, wie es die Mutter und Autorin Katrin Rönicke in einem Gastbeitrag für die „FAZ“ beschrieb. Auch das 2006 mit der Föderalismusreform eingeführte Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern steht nirgends (mehr) so unverrückbar wie im Schulwesen. „Die oberste Forderung kann nur lauten: Abschaffen!“, erklärt Jeanette Klauza, Schulexpertin im DGB-Bundesvorstand. Die DGB-Mitgliedsgewerkschaft GEW ermittelte jüngst über eine Befragung der Schulleiter, dass nahezu jede zweite Schule in dringend verbesserungswürdigem Zustand ist; Lärm, kaputtes Mobiliar, bauliche Mängel und zu wenig Räume standen ganz oben auf der Liste. DGB wie GEW machen seit Jahren beinahe schon gebetsmühlenartig darauf aufmerksam, dass es ja nicht nur unbequem und irgendwie lästig ist, unter unmöglichen Bedingungen zu lernen. Falsche Sitzmöbel führen zu Haltungsschäden, Lärm zu Gesundheitsschäden und psychischer Belastung, alles zusammen zu schlechteren Lernergebnissen. 

SCHÖNERE SCHULEN, BESSERE ERGEBNISSE

Und zwar nachgewiesenermaßen. Gerhart Tiesler ist Arbeitswissenschaftler und Diplomingenieur, der sich an der Uni Bremen mehr als drei Jahrzehnte mit den Bedingungen des Lernens und Lehrens und ihren Auswirkungen beschäftigte und auch nach seiner Pensionierung keine Ruhe gibt. Er hat es alles erforscht: Wie laut es in Schulen werden kann. In welchem Verhältnis schlechter Lärmschutz zur sogenannten Halligkeit von Räumen steht – und in welchem Verhältnis diese zur Arbeitszufriedenheit von Pädagogen wie zu Lernergebnissen von Schülern. Denn erstens unterrichten zufriedene Lehrkräfte entspannter und trauen sich eher an moderne Unterrichtsformen heran. Zweitens sind auch Schüler darauf angewiesen, dass nicht jeder, der etwas sagt, lauter wird als der Vorredner. Und drittens lässt sich das wirklich messen: „Gleicher Lehrplan, gleiche Lehrkräfte – und die Schüler kommen zu besseren Ergebnissen, wenn sie in Räumen arbeiten, in denen es leise zugeht und die gut durchlüftet sind“, sagt Tiesler.

ARBEITSSTÄTTENVERORDNUNG VERPFLICHTET

„Der Raum als dritter Pädagoge“ ist ein stehender Begriff für die Bedeutung der Architektur für Lernerfolg wie Schulatmosphäre. Überprüfen lässt sich das bundesweit an Vorzeigeschulen, an denen bedacht wurde, was man längst weiß – allein es bleibt, wie so häufig, bei Modellversuchen. Die Koblenzer Architekturpsychologin Rotraut Walden, die sich diese Vorzeigeschulen seit Jahren genauer anschaut, hat beobachtet, dass Schüler, die sich in eine liebevoll gestaltete Umgebung einbezogen fühlen, sich mit ihrer Schule auch ganz anders identifizieren: „Sie pflegen sie, anstatt sie zu zerstören.“ Und, weil das ja so ein beliebtes Argument ist: So lässt sich auch Geld sparen!

Und auch die Gesundheit der Pädagogen taugt neben allem anderen für eine volkswirtschaftliche Betrachtung: Allein in Berlin sind mehr als 1000 Lehrer dauerkrank; bundesweit erreichen sechs von zehn das Pensionsalter nicht. Und auch wenn hinter ihren Leiden so viele Schicksale wie Einzelfälle stecken, hat eine Studie der DAK ergeben: Zeitdruck und fehlende Erholungspausen im Schulalltag sind die Belastungsfaktoren Nummer eins, Lärm und die Belastung der Stimme Nummer zwei.

Der Verweis auf die Gesundheitsgefährdung der Arbeitsplätze kann dabei auch ein Hebel sein, etwas zu verändern: „Die Arbeitsstättenverordnung verpflichtet den Arbeitgeber, für einen gesunden Arbeitsplatz Sorge zu tragen“, sagt Manfred Triebe, Berliner GEW-Experte für Gesundheit, „und der Arbeitgeber ist das Land, nicht die Kommune.“ Triebe appelliert an die Personalräte –, gern gemeinsam mit Elterninitiativen – aktiv zu werden und Initiativanträge zu stellen. Tatsächlich ist es in Baden-Württemberg in den vergangenen Jahren geglückt, an Schulen mithilfe von Arbeitssicherheitsexperten Gefährdungsbeurteilungen durchzuführen und erst einmal herauszufinden, wie der Ist-Stand ist. Der Rechtsanwalt Ulrich Faber, der auch für die Hans-Böckler-Stiftung Gutachten erstellt, macht in einem jüngst vorgestellten Handkommentar zum Arbeitsschutzrecht darauf aufmerksam, dass mit Geldmangel nicht alles zu entschuldigen ist: Wenn es um die Einhaltung gesetzlicher Verpflichtungen geht, habe der Verweis auf die Haushaltslage keine Bedeutung. 

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen