zurück
Magazin Mitbestimmung

Debatte: Solidarität in zwei Richtungen

Ausgabe 06/2013

Die tiefe Spaltung des Arbeitsmarktes kann nicht allein über Proteste vom Rand der Gesellschaft her überwunden werden. Ohne gewerkschaftliches Engagement zur Stärkung der Mitte wird Inklusion nicht funktionieren. Von Klaus-W. West

Der Soziologe Klaus Dörre scheint die Aktivitäten der Gewerkschaften, atypische Beschäftigung zu regulieren, nicht sonderlich zu wertschätzen. Diesen Eindruck gewinnt man bei der Lektüre seines Beitrages in Heft 1+2/2013 dieser Zeitschrift. Zwar hat es den Gewerkschaften neue Anerkennung eingebracht, aber angeblich auf Kosten der Verfestigung der Spaltung des Arbeitsmarktes; zwar waren sie erfolgreich beim Krisenmanagement für die Stammbelegschaften, aber die Gewerkschaften tendieren dazu, wie Dörre schreibt, zu „Mediatoren der exklusiven Solidarität“ zu werden. Diese angebliche Tendenz zu „exklusiver Solidarität“ sollen Befragungen mit Beschäftigten belegen, die gegenüber Leiharbeitern und Langzeitarbeitslosen eine gewisse Distanz zum Ausdruck brachten. Es ist allerdings fraglich, welche Verantwortung Betriebsräte und Gewerkschaften für solche Befunde tragen.

Welcher Anteil ist der anthropologisch tief verankerten Neigung von Menschen zuzuschreiben, zwischen „drinnen“ und „draußen“ zu unterscheiden und Nicht-Zugehörige als „Fremde“ zu identifizieren? Immerhin: Viele Fremde bleiben nicht Fremde, weder in unserer Gesellschaft noch in den Unternehmen. Viele Menschen setzen sich mit Fremden auseinander, nehmen sie auf, lassen sich von ihnen inspirieren und sind solidarisch. Gleichzeitig gibt es Menschen mit fremdenfeindlichen und rassistischen Einstellungen, die aufgrund sozialer Abgrenzungen verunsichert sind oder die aus Überzeugung handeln. Gegen diese Formen „starker“ Exklusion haben sich die Gewerkschaften stets eingesetzt.

Die Gewerkschaften haben auch zur Integration von Leiharbeitern wichtige Beiträge geleistet. Die Bemühungen der IG Metall wurden von Klaus Dörre in seinem Text bereits genannt. Ich möchte weitere Beiträge der IG BCE erwähnen. Diese hat im Dezember 2011 einen Tarifvertrag für Leiharbeitnehmer abgeschlossen, der dafür sorgt, dass diese je nach Lohngruppe und Einsatzzeit bis zu 665 Euro mehr im Monat erhalten. Zudem hat ihr Vorsitzender Michael Vassiliadis gefordert, dass die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte auf Leiharbeitsverhältnisse ausgeweitet werden müssen. Beide Initiativen stärken die Solidaritätskraft der Betriebsräte und Beschäftigten. Damit ließen sich die Rahmenbedingungen für die vielfach gelobte gute Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Betriebsräten während der letzten Wirtschaftskrise weiter verbessern.

ÜBER DIE KORREKTUR VON MISSBRAUCH HINAUS

Solche Aktivitäten gehören in den Kontext einer durch die Tarifpolitik ergänzten bzw. korrigierten Sozialstaatspolitik, die auf Vorsorge und Inklusion angelegt sein muss. Dafür müssen die sozialstaatlichen Institutionen stärker mit den individuellen Lebenslagen verbunden und deutlicher am Bedarf der Menschen ausgerichtet werden. Mithilfe von Beziehungsnetzwerken wie etwa der „Weinheimer Bildungskette“ und mit­hilfe von sozialen Akteuren wie Erzieherinnen und Erziehern oder Lehrerinnen und Lehrern, die über Professionalität, Anerkennung und ausreichende Ressourcen verfügen, ließe sich die Wirksamkeit der sozialstaatlichen Inklusionspolitik wesentlich steigern. Dies würde auch die Arbeitsmarktchancen vieler verbessern, denn der Arbeitsmarkt ist ein offenes gesellschaftliches System, das auf gut ausgebildete Menschen angewiesen ist. Allerdings dürfen die Vorzüge der Arbeitsmarktflexibilität durch Missbrauch wie Lohndumping nicht in ihr Gegenteil verkehrt werden. Dies geschieht, wenn sozial verantwortungslose Arbeitgeber ihre Interessen zulasten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durchsetzen. Hier müssen Korrekturen erfolgen.

Klaus Dörre hält solchen Missbrauch allerdings nicht für einen Bestandteil des immerwährenden Feilschens um den Preis der Arbeit auf einem Markt, sondern für systemisch. Er spricht von einem „Wettkampfsystem“. Dies bedeutet: Bestimmten Akteuren, die er nicht nennt, soll es gelungen sein, ihre partikularen Interessen in Form eines geplanten Wettkampfs gegen die funktional differenzierten Eigenschaften von Märkten durchzusetzen. Seit Michel Foucault jedoch die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland analysiert hat, ist es unwahrscheinlich, dass die Durchsetzung eines solchen Systems, das in der Tradition von „Überwachen und Strafen“ und der „Gouvernementalität ohne Begrenzung“ steht, erfolgreich sein kann. Foucault sagt, dass der Markt und seine Prinzipien von Wettbewerb und Nützlichkeit die alte Gouvernementalität abgelöst haben.

Die gegen Exklusionen gerichteten gewerkschaftlichen Aktivitäten gehen weit über die Korrektur von Missbräuchen hinaus. Die Gewerkschaften wirken auch an der Stabilisierung der Systeme Wirtschaft, Politik, Bildung oder Gesundheit mit. Ihr wichtigstes politisches Instrument dazu ist die Tarifpolitik, die bundesweit Korridore für unterschiedliche Einkommensgruppen schafft; oder die in Not geratene Unternehmen mit befristeten Ausstiegsklauseln unterstützt; oder die mit gezielten Angeboten zur Weiterbildung oder zur Gesundheit den Beschäftigten dabei hilft, mit dem demografischen Wandel zurechtzukommen. Die Industriegewerkschaften wirken mit ihrem industriepolitischen Engagement darauf hin, dass beispielsweise die Energiewende nachhaltig gestaltet wird – also wirtschaftliche, ökologische und soziale Interessen ausgleichend.

Hierher gehört auch eine Stellungnahme der IG BCE und des Arbeitgeberverbandes BAVC zur Finanzkrise, mit der sie ihr politisches Gewicht in die Waagschale warfen, um der Verselbstständigung des Finanzsystems gegenüber der Realwirtschaft ein Ende zu setzen. Aktivitäten dieser Art suchen eines zu verhindern: dass unser Gesellschaftssystem die Möglichkeiten der Problemlösung verliert, die es zu seiner Bestandserhaltung braucht. Wenn der Satz von Jürgen Habermas zutreffend ist, dass die Steuerungsprobleme einer Gesellschaft Gefährdungen der Systemintegration sind und die Sozialintegration unmittelbar bedrohen, dann sind die gewerkschaftlichen Beiträge zur Stärkung beider unverzichtbare Bestandteile für eine wirksame Inklusionsstrategie. Über den Erfolg von Inklusion und Solidarität entscheidet nicht allein die gegenseitige Hilfe vor Ort. Das zentrale Teilhabefeld Arbeit lässt sich nicht vom Rand her sichern, der Rand und das Zentrum der Gesellschaft müssen zusammengebracht werden, um das Zentrum der Gesellschaft zu stärken. Entsprechend begrenzt ist die Reichweite des Konzepts eines offensiven Organizing.

Die Sprache der Inklusion_ Systemintegration und Sozialintegration sind der Kern der gewerkschaftlichen Solidarität in Deutschland. Dieses Solidaritätsverständnis funktioniert in beide Richtungen: Es sucht die funktional differenzierte Gesellschaft, in der wir leben – man mag sie Rheinischen Kapitalismus oder Soziale Marktwirtschaft nennen –, mitzugestalten; und es ist sensibel für die Arbeits- und Lebensverhältnisse der sozial Schwachen. Allerdings muss dieses traditionelle Konzept angesichts der Tatsache, dass unsere Gesellschaft tiefer gespalten ist als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten, neu ausgelegt werden. Solidarität muss heute auch systembezogen sein, sie muss die Sozialintegration stärken und gegenseitige Hilfe unterstützen.

Der Begriff der „exklusiven Solidarität“ verwandelt allerdings das notwendig komplementäre Verhältnis von System- und Sozialintegration in einen Gegensatz. Das systemerhaltende Engagement der Gewerkschaften in der Krise soll nur den Stammbelegschaften genutzt haben, schreibt Dörre. Tatsächlich aber hatte der Erhalt der Funktions- und Arbeitsfähigkeit der Unternehmen große Vorteile – aller unterschiedlicher Krisenbetroffenheit von Branchen, Unternehmen und Beschäftigten zum Trotz: Die Stammbelegschaften konnten sich mit anderen Beschäftigten solidarisch verhalten; es profitierten die Beschäftigten der Zuliefererindustrie und der regionalen Dienstleister; die Wirtschaft insgesamt hätte nach der Krise nicht so schnell Tritt gefasst.

Begriffe wie „exklusive Solidarität“ oder „Wettkampfsystem“ haben das Potenzial, falsche Identifikationen in die Welt zu setzen. Das scheint an ihrer verbalen Radikalität und hochtourigen Moral zu liegen. Es besteht die Gefahr, dass sie in den Gewerkschaften polarisierend wirken. Sie können, infolge der unterschiedlichen Betroffenheit von Krise oder Leiharbeit, dazu führen, dass die Arbeitsbedingungen in der Industrie für idyllisch gehalten werden und die Industriegewerkschaften angeblich nur mit hochleistungsfähigen Beschäftigten zu tun haben – während andere Branchen und Gewerkschaften mit den wirklichen Problemen konfrontiert sind.

Inklusion und Exklusion erfordern eine andere Sprache. Viele Angehörige meiner Generation schätzen die Sachlichkeit, weil die Metaphorik des Kampfes und die Stilisierung von Konflikten nach 1968 allgegenwärtig waren. Die linke Sprachmaschine hat nur einen Modus. Dies entwertet sinnvolle und produktive Dialoge. Und es verstellt den Blick darauf, dass bei politischen Materien wie Weiterbildung, Gesundheit oder Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch etwas anderes notwendig ist als „Kampf“.

Mehr Informationen

Michel Foucault: GESCHICHTE DER GOUVERNEMENTALITÄT. Band 2, Frankfurt a.M. 2006

Lutz Leisering: DESILLUSIONIERUNGEN DES MODERNEN FORTSCHRITTSGLAUBENS. In: Thomas Schwinn (Hrsg.): Differenzierung und soziale Ungleichheit. Frankfurt a.M. 2004

Wolfgang Schroeder: VORSORGE UND INKLUSION. Berlin 2012

Rudolf Stichweh: DIE BEGEGNUNG MIT FREMDEN UND DIE SELBSTBEOBACHTUNG VON GESELLSCHAFTEN. 2011

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen