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Klaus David, Elektriker in Rente bei der Deutschen Bahn, prüft auf einer Lokomotive im Nürnberger Bahnwerk den Stromabnehmer. Der 64-jährige arbeitet schon seit 49 Jahren bei der Deutschen Bahn, ist aber seit Anfang letzten Jahres im Ruhestand. Für ein paar Tage im Monat geht er weiter ins Werk.

Elke Ahlers, 10.05.2024: Arbeiten bis 70? Warum die betriebliche Arbeitswelt darauf nicht vorbereitet ist

Personalengpässe, Digitalisierung, Weiterbildung – nicht nur ältere Beschäftigte fühlen sich in vielen Unternehmen überfordert. Politischen Forderungen, über das Rentenalter hinaus zu arbeiten, stehen ungeeignete Rahmenbedingungen entgegen.

Die politische Debatte, ältere Beschäftigte zur Fachkräftesicherung länger im Erwerbsleben zu halten, trifft auf eine Arbeitswelt, die als schnelllebig und effizienzgetrieben gilt. Forderungen nach einer Anhebung der Altersgrenze in der Rentenversicherung gehen fehl, da bereits jetzt viele Menschen vor Erreichen der geltenden Altersgrenze aus dem Erwerbsleben ausscheiden. An vielen Arbeitsplätzen ändern sich die Anforderungen durch Digitalisierung und Umstrukturierungen rasant. Nicht nur ältere Beschäftigte fühlen sich angesichts Personalengpässen, des digitalen Wandels, wiederholter betrieblicher Reorganisationen und Weiterbildungsnotwendigkeiten überfordert. Berichte von Krankenkassen zu erschöpften Arbeitnehmer*innen (Baumgardt 2023) oder der Rentenversicherung zu hohen Abgängen in die Erwerbsminderungsrente aus psychischen Gründen (DRV 2021) bestätigen dies. Viele müssen das Erwerbsleben aus gesundheitlichen Gründen beenden. Allerdings können sich manche trotz erster gesundheitlicher Einschränkungen für einen Verbleib im Arbeitsleben entscheiden, wenn die Arbeitswelt als befriedigend und positiv wahrgenommen wird (Schmiederer 2020). Die individuelle Wahrnehmung der betrieblichen Arbeitswelt kann also ein Faktor sein, der über Verbleib oder Rückzug aus dem Arbeitsleben entscheidet.

Vieles jedoch deutet darauf hin, dass die heutige betriebliche Arbeitswelt wenig auf einen längeren Verbleib älterer Beschäftigter ausgerichtet ist und die Beschäftigten kaum als Menschen mit individuellen Bedürfnissen wahrgenommen werden. Stattdessen  werden die Beschäftigten mit politischen Forderungen nach längerer Erwerbstätigkeit konfrontiert - ohne die notwendige Unterstützung zu erfahren. Vielfältige Befunde des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zeigen politischen Handlungsbedarf, aber auch „Lichtblicke“, die für eine humanere Arbeitswelt und somit auch bessere Beschäftigungsbedingungen Älterer genutzt werden können.

Der empirische Blick in die betriebliche Arbeitswelt

Noch erhebliche Potenziale bei Weiterbildungsangeboten von Betrieben

In Zeiten des digitalen Wandels gilt der in Wirtschaft und Gesellschaft vermittelte Anspruch des lebenslangen Lernens für breite Kreise als selbstverständlich. Aber gerade ältere Beschäftigte beobachten dies mit gemischten Gefühlen oder sehen darin gar eine Bedrohung. Viele befürchten, bei Weiterbildungsmaßnahmen im Vergleich zu den jüngeren Kolleg*innen nicht mithalten zu können. Zudem fühlen sie sich mit ihren Ängsten und Befürchtungen im Hinblick auf Veränderungen am Arbeitsplatz nicht wahrgenommen. In vielen Weiterbildungsmaßnahmen fehlt die nötige Sensibilität für die Belange Älterer. Auch Betriebs- und Personalräte sehen hier Schwierigkeiten und Herausforderungen: Nur 12 Prozent von ihnen gibt an, dass es spezielle Weiterbildungsangebote für besondere Beschäftigtengruppen gibt, etwa für ältere Beschäftigte (Erol/Ahlers 2023). Zudem können nur 38 Prozent bestätigen, dass den Beschäftigten für Weiterbildung im betrieblichen Alltag genügend Zeit zugestanden wird. Und 52 Prozent halten die finanzielle Unterstützung der Beschäftigten für unzureichend. Damit müssen die Rahmenbedingungen für die Weiterbildung Älterer als unzureichend beurteilt werden – sie hemmen die Weiterbildungsbereitschaft alternder Belegschaften eher, als dass sie sie fördern. Zwar sind mit Blick auf Weiterbildung mitbestimmte Betriebe im Vergleich zu Unternehmen ohne Betriebsrat deutlich besser aufgestellt (Lammers et al. 2022),  doch finden sich auch hier erhebliche Lücken, die sich auf die Beschäftigung Älterer auswirken  können

Personalengpässe/hohe Arbeitsintensität als betriebliche Realität

Die betriebliche Arbeitswelt ist mittlerweile seit Jahren gekennzeichnet durch Personalengpässe und wachsende Schwierigkeiten, offene Stellen besetzen zu können. In der WSI-Betriebs- und Personalrätebefragung geben drei von vier Befragten an, sich in den vergangenen zwei Jahren mit der zu geringen Personalstärke im Betrieb beschäftigt zu haben (75 Prozent). Fast jede vierte Arbeitnehmervertretung, die mit Stellenbesetzungsschwierigkeiten konfrontiert ist (24 Prozent), sieht die Ursache dafür in den schlechten Konditionen der offenen Stellen, etwa im Hinblick auf Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen (vgl. Ahlers/Villalobos 2022). Wenn die Arbeitsbedingungen von Betriebsrat und Belegschaft als schlecht wahrgenommen werden, ist zu erwarten, dass dies eine hohe Fluktuation im Personalbestand begünstigen und einen Teufelskreis aus weiterer Arbeitsintensivierung, schlechtem Betriebsklima und letztendlich weiterem Personalabgang auslösen kann. Ein solches Umfeld ist damit auch für Ältere im Betrieb wenig unterstützend.

Wenig betriebliche Initiativen zur Beschäftigungsfähigkeit und Mitarbeiterbindung Älterer

Zwar sind Betriebs- und Personalräte überzeugt, dass Unternehmen etliche Mitarbeiter*innen länger im Job halten könnten, wenn sie sich stärker um alternsgerechte Arbeitsbedingungen bemühen würden. Zugleich betonen sie aber, dass die Arbeitgeber dafür nicht genug tun: 40 Prozent der Betriebs- und Personalräte bewerten die bisherigen betrieblichen Bemühungen um bessere Arbeitsbedingungen für Ältere mit den Schulnoten 5 oder 6. Knapp 28 Prozent geben lediglich eine 4 (Blank/Brehmer 2023). Diese Zahlen legen nahe, dass zu wenig getan wird, um ältere Beschäftigte im Betrieb zu halten.

  • Einschätzung der Beschäftigungsbedingungen für Ältere

Potenziale der Betrieblichen Gesundheitsprävention besser nutzen

Potenziale für eine Verbesserung der Situation liegen im Betrieblichen Gesundheitsmanagement (Ahlers/Villalobos 2023). Sowohl Angebote an präventiven Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) als auch zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) zur Wiedereingliederung nach längeren krankheitsbedingten Fehlzeiten sind zumindest in größeren und mitbestimmten Betrieben seit einigen Jahren zunehmend häufiger zu finden. Allerdings ist die Umsetzung des BEM gesetzlich verpflichtend. Auch die ebenfalls gesetzlich vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilungen nach dem Arbeitsschutzgesetz werden in mitbestimmten Betrieben von Jahr zu Jahr stärker umgesetzt. All dies trägt im Idealfall  zu einer alternsgerechten und gesundheitsförderlichen Gestaltung von Arbeit bei. Gerade über Gefährdungsbeurteilungen und das BEM können die faktischen Arbeitsbedingungen und -belastungen, aber auch die individuellen Bedürfnisse der älter werdenden Beschäftigten (z.B. Arbeitszeitwünsche, Qualifizierungsbedarfe etc.) systematischer in den Blick genommen werden. Die – auf den ersten Blick – erfreulichen und gestiegenen Umsetzungsquoten sind jeoch noch kein Garant dafür, dass deren Potenzial auch ausgeschöpft wird. Zu oft werden Gefährdungsbeurteilungen nur halbherzig und technokratisch „abgearbeitet“ oder geraten unmittelbar nach der Analyse ins Stocken, weil im Unternehmen die Bereitschaft für nötige Handlungsschritte fehlt (etwa Eingriffe in die gewohnte Arbeitsorganisation oder in das gewohnte Führungsverhalten). Und tatsächlich setzt auch nur ein Teil der Betriebe und Dienststellen die im Zuge der Gefährdungsbeurteilungen entstandenen Ideen und abgeleiteten Maßnahmen in den Betrieben vollständig um. Dennoch zeigen die Befunde eine veränderte Aufgeschlossenheit, sich mit Fragen der Gesundheit am Arbeitsplatz zu beschäftigten. Wenn also die Möglichkeiten des Betrieblichen Gesundheitsmanagements ernsthafter und bedachter genutzt würden, käme dies einer nachhaltigen Gestaltung besserer und individuell passenderer Arbeitsbedingungen zunutze. Gerade auch ältere Beschäftigte würden davon profitieren.

Was bedeuten nun diese Befunde mit Blick auf ältere Beschäftigte?

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die betriebliche Arbeitswelt in vielen Bereichen zu wenig sensibel ist für die Bedürfnisse älterer Belegschaften. Auch werden Instrumente, die schon jetzt für eine humane Gestaltung der Arbeitswelt zur Verfügung stehen und die auch Älteren zugute kommen, zu wenig genutzt. Die heutige Arbeitswelt ermöglicht es Beschäftigten kaum, auch nur bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter im Berufsleben stehen zu können. Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre, so wie sie derzeit von einigen politischen Akteuren diskutiert wird, erscheint aus diesem Blickwinkel illusorisch. Die hier gezeigten Rahmenbedingungen, die durch Personalengpässe in den Belegschaften und hohen Arbeitsdruck für die Beschäftigten gekennzeichnet sind, bieten für Ältere wenig Anreiz und Spielraum, sich für einen längeren Verbleib im Erwerbsleben zu entscheiden. Auch der digitale Wandel, der mit neuen Anforderungen und Weiterbildungsnotwendigkeiten einhergeht, ist für viele Ältere eher beängstigend, als dass er sie in ihrem Wunsch bestärkt, länger arbeiten zu wollen.

Gerade Gefährdungsbeurteilungen und das BEM würden bei ernsthafter Umsetzung deutliches Potenzial bieten – besonders mit Blick auf eine verstärkte Einbindung der Interessen und Bedürfnisse der einzelnen Beschäftigten im Zuge des Betrieblichen Gesundheitsmanagements. Die Nutzung dieses Potenzials erfordert jedoch ein deutlich stärkeres Aufeinanderzugehen von Arbeitgebern und Arbeitnehmer*innen, um die individuellen Interessen und Möglichkeiten in Übereinstimmung zu bringen. Unterstützung könnten hier Betriebs- und Personalräte bieten. Betriebsvereinbarungen eignen sich zur Stärkung von  Partizipationsmöglichkeiten für (ältere) Beschäftigte bei der Aushandlung und Gestaltung individuell passenderer Arbeitsbedingungen.

Was muss sich ändern?

In diesen Zeiten, in denen viel über Mitarbeiterbindung diskutiert wird, sind partizipative und ganzheitliche Ansätze nötig. Es gilt, stärker auf die individuellen Bedürfnisse der Beschäftigten sowie deren Arbeits- und Lebenswelt einzugehen und gemeinsam nach passfähigen Arbeitsbedingungen zu schauen. Dies gilt nicht nur für Ältere, sondern im Zuge einer wachsenden Vielfalt in der betrieblichen Arbeitswelt auch für Frauen, junge Eltern, Migrant*innen, gesundheitlich Beeinträchtigte oder Menschen, die sich in Weiterbildung befinden. Ein als fortlaufender Prozess angelegtes partizipatives BGM hat das Potenzial, die Beschäftigten mit ihren Bedürfnissen, etwa nach angepassten Arbeitszeitkonzepten oder besonderen Qualifizierungswünschen etc. stärker einzubinden. Gelingen kann dies etwa über gesundheitspräventive Führungskonzepte, bei denen eine vertrauensvolle und sensible Kommunikation mit den Beschäftigten im Vordergrund steht, und über ganzheitliche Gefährdungsbeurteilungen, die als laufender Prozess angelegt sind und im Idealfall über die betriebliche Interessenvertretung begleitet werden. Dies wären Ansätze, um das Vertrauen zum Unternehmen und in die Arbeitswelt zu steigern und damit die Mitarbeiterbindung zu erhöhen. Das BGM würde also nicht allein mit dem Ziel antreten, die Beschäftigten über Sportangebote oder Ernährung bis zum Rentenalter gesundheitlich fit zu halten (so wie es heute vielfach angelegt ist), sondern wäre ein Instrument zur Anpassung der Arbeitsbedingungen an die Bedürfnisse der Beschäftigten. Im Idealfall ließen sich so nicht nur die konkreten Arbeitsbedingungen verbessern,  sondern unter den Beschäftigten bereits in jüngeren Jahren eine Vertrauenskultur aufbauen, mit der frühzeitig auch Ängste und Unsicherheiten aufgefangen werden können. Notwendig dafür ist jedoch eine verbindliche politische und rechtliche Unterstützung durch tarifliche oder gesetzliche Regulierung sowie über Betriebsvereinbarungen, um die Beschäftigten abzusichern und um die Angebote nicht nur privilegierten Beschäftigtengruppen zukommen zu lassen.

 

Literatur

Ahlers, E./Quispe Villalobos, V. (2022): Fachkräftemangel in Deutschland? Befunde der WSI-Betriebs- und Personalrätebefragung 2021/22. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung: WSI Report Nr. 76, Juli 2022, Düsseldorf

Ahlers, E./Quispe Villalobos, V. (2023): Betriebliche Arbeitswelt und Potenziale des Betrieblichen Gesundheitsschutzes. Ergebnisse der WSI-Betriebs- und Personalrätebefragung 2021. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung: WSI Report Nr. 89, Oktober 2023, Düsseldorf

Baumgardt J. (2023): Wie geht es Angestellten in Deutschland? Ergebnis repräsentativer Beschäftigtenbefragungen im Rahmen des Fehlzeiten-Reports 2020 bis 2023, in: Badura B./Ducki, A./Baumgardt, J./Meyer, M./Schröder, H. (Hrsg.): Fehlzeiten-Report 2023. Zeitenwende – Arbeit gesund gestalten, Berlin, S. 147–170

Blank, F./Brehmer, W. (2023): Durchhalten bis zur Rente? Einschätzungen von Beschäftigten, Betriebs- und Personalräten. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung: WSI-Report Nr. 85, Juni 2023, Düsseldorf

Deutsche Rentenversicherung (2021): Psychische Erkrankungen häufigste Ursache für Erwerbsminderungen, Pressemitteilung vom 30. November 2021

DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) (2022): DGB-Index Gute Arbeit. Report 2022: Digitale Transformation. Veränderung der Arbeit aus Sicht der Beschäftigten

DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) (2019): DGB-Index Gute Arbeit. Report 2019: Arbeiten am Limit. Themenschwerpunkt Arbeitsintensität

Erol, S./Ahlers, E. (2023): Betriebliche Weiterbildung als Handlungsfeld der Betriebsräte in Zeiten der Transformation. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung: WSI-Policy Brief Nr. 77, April 2023

Hollederer, A./Wießner, F. (2015): Prevalence and Development of Workplace Health Promotion in Germany – Results of the IAB Establishment Panel 2012, in: International Archives of Occupational and Environment Health 88 (7), S. 861–873

Lammers, A./Lukowski, F./Weis, K. (2022): The Relationship between Works Councils and Firms’ further Training Provision in Times of Technological Change, in: British Journal of Industrial Relations 61 (2), S. 392–424

Schmiederer, S. (2020): Frühausstieg aus und Weiterverbleib im Erwerbsleben von  älteren Beschäftigten im Zusammenhang mit Gesundheit. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin: baua: Fokus, April 2020, 1. Aufl., Dortmund

Waltersbacher, A./Meschede, M./Klawisch, H./Baumgardt, J. (2023): Zukunftsfähigkeit von Organisationen, Zukunftsangst und die Gesundheit von Mitarbeitenden, in: Badura, B./Ducki, A./Baumgardt, J./Meyer, M./Schröder, H. (Hrsg.): Fehlzeiten-Report 2023. Zeitenwende – Arbeit gesund gestalten, Berlin, S. 115–145

 

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Autorin

Dr. Elke Ahlers leitet das Referat Qualität der Arbeit am WSI der Hans-Böckler-Stiftung. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der Wandel der Arbeit, Gesundheit, psychische Arbeitsbelastungen und die Rolle der betrieblichen Interessenvertretung.

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