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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Die Furcht vor dem Weniger"

Ausgabe 01/2016

In der unteren Mittelschicht entscheidet sich, ob Aufstiegsversprechen einer demokratischen Gesellschaft noch gelten, sagt der Göttinger Soziologe Berthold Vogel, der auf dem WSI-Herbstforum 2015 zur sozialen Spaltung referierte. Das Gespräch führte Annette Jensen

Herr Vogel, erodiert in Deutschland die Mittelschicht, wie vielfach behauptet wird?

Die Mittelschicht löst sich nicht auf, sie hat in Deutschland zu weiten Teilen ihr Auskommen. Da gibt es stabile Verdienste, berufliche Karrieren, soziale Aktivitäten. In der unteren Mittelschicht jedoch liegen die Dinge anders. Hier ist die Furcht vor dem Weniger weit verbreitet. Der Kampf um Status und Position verbraucht Energie. Viele haben das Gefühl, sich anzustrengen und trotzdem, wie in einem Hamsterrad, nicht vom Fleck zu kommen oder sogar abstiegsbedroht zu sein. 

War das immer so?

Nein, denn traditionell ist die untere Mittelschicht der Transmissionsriemen zwischen Arbeiterschaft und stabiler Mitte. Hier eröffnen sich soziale und berufliche Perspektiven. Fleiß, Bildungsorientierung, Konkurrenzbereitschaft und die Fokussierung auf Erwerbsarbeit sind zentrale Werte. Typisch ist aber auch eine Statusnervosität, man will das Erreichte absichern. Zudem ist der Blick auf die nächste Generation ein zentraler Punkt, das ist so etwas wie das Lebenselixier der unteren Mittelschicht: Es wird besser werden. Genau das ist heute oft nicht mehr einzulösen. Diese Gruppe steht stark unter Druck, ihre beruflichen Perspektiven sind unklar, obwohl die Menschen eine Ausbildung haben. Ihre Lebensführung wird immer volatiler, mal läuft es ganz gut, mal wird das Geld ziemlich knapp. 

Hat das auch Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft? 

Wenn die untere Mittelklasse immer stärker ihre Rolle als Transmissionsriemen für den Aufstieg verliert, ist das von zentraler Bedeutung auch für die Demokratie. Das ist eine Bruchstelle: Hat soziales Vorwärtskommen keine Basis mehr, dann schadet das einer Gesellschaftspolitik, die um Ausgleich und Gerechtigkeit bemüht ist. Die untere Mittelklasse fühlt sich von der Politik ignoriert. Diese Menschen sehen sich selbst als diejenigen, die den Laden zusammenhalten, die die Steuern und Sozialbeiträge zahlen. Zugleich haben sie den Eindruck, nicht wahrgenommen zu werden mit ihren Sorgen, im toten Winkel zu existieren – anders als Hartz-IV-Bezieher, Flüchtlinge oder Alleinerziehende, die offenbar weit mehr politische Beachtung bekommen. Vor allem in Ostdeutschland, in der Altersgruppe der 30- bis 45-Jährigen oder auch in ausführenden Berufen des öffentlichen Sektors ist diese Furcht vor dem Weniger stark verbreitet. Hier entwickelt sich der Nährboden für Ressentiments, Politikverdrossenheit und Demokratieskepsis. 

Was heißt das für die Gewerkschaften?

Die untere Mittelschicht verspricht sich von den Gewerkschaften Unterstützung in ihrer Orientierung, sich zu etablieren und vorwärts zu kommen. Kaufmännische Angestellte, Verwaltungsfachkräfte, Industriemeister oder Techniker in den öffentlichen Infrastruktureinrichtungen – sie alle haben zwar oberflächlich betrachtet eine gute Position, bekommen aber immer häufiger nur noch befristete Stellen, Leiharbeits- oder Werkverträge. Die Gewerkschaften haben das Problem, dass sie vielfach mit in Haftung genommen werden für diese prekären Entwicklungen. Dabei engagieren sich die Einzelgewerkschaften gerade in jüngerer Zeit sehr intensiv, prekäre Beschäftigung zu begrenzen. Vielleicht sollten die Gewerkschaften diese Entwicklung aber noch stärker als ein Generationenproblem begreifen. 

Heißt das: mehr Einsatz für die Jungen?

Den Gewerkschaften gelingt es bis heute sehr gut, den Status der Älteren und der Stammbelegschaften zu verteidigen. Dagegen bekommen die Jüngeren die Unsicherheit massiv zu spüren. Viele der 20- bis 35-Jährigen sind gezwungen, sich von einer prekären Anstellung zur nächsten zu hangeln. In einem Lebensabschnitt, in dem sich ihre Eltern längst etabliert hatten, haben sie noch immer keinen festen Grund unter den Füßen, obwohl schon 15 Jahre im Beruf. Zu lange kämpfen zu müssen, um den eigenen Ort in der Arbeitswelt finden zu können, zehrt aus. 

Hat das Folgen?

Ja. An den jungen Leuten der unteren Mittelschicht, an ihren Aufstiegsperspektiven und an ihrem Engagement wird sich die Zukunft einer demokratischen Arbeitsgesellschaft entscheiden. Wer nur mit sich selbst und mit der Organisation des prekären Arbeitsalltags beschäftigt ist, wird schwerlich betriebliche oder gesellschaftliche Funktionen übernehmen.

WSI-Herbstforum

„Soziale Ungleichheiten – was tun gegen die Spaltung der Gesellschaft?“ fragte das WSI-Herbstforum 2015 und traf einen Nerv. Das Interesse an dem wissenschaftlich-­gewerkschaftlichen Dialog war enorm: über 300 Besucher.

Die Ausgangslage ist ernüchternd: Trotz guter Konjunktur und einem boomenden Arbeitsmarkt in Deutschland geht die Einkommensungleichheit nicht zurück, ändert sich nichts an der Verteilung, konstatierte WSI-Abteilungsleiter Reinhard Bispinck. Seit der Wiedervereinigung hat sich Deutschland wegbewegt vom idealtypischen konservativen Wohlfahrtsstaat, konstatierte Martin Seeleib-Kaiser von der Oxford University. Zunehmend muss, wer kann, fürs Alter privat oder betrieblich vorsorgen, was in der Auto- oder Versicherungsbranche üblich ist, in der Gastronomie nur die Ausnahme. Dies sorgt auch innerhalb der Gewerkschaften für Spannungen, unterstrich IG-Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban. 

Nicht die Mittelklasse erodiert, sondern ihr unteres Ende. „Die Furcht vor dem Weniger ist bei der unteren Mittelklasse weit verbreitet“, sagte Berthold Vogel vom Göttinger SOFI beim WSI-Herbstforum. Zunehmend sind die Haushalte der unteren Mittelklasse – die 60 bis 80 Prozent des durchschnittlichen Einkommens erwirtschaften – darauf angewiesen, dass der Staat ihre Einkünfte aufstockt, sie können heute nur noch 57 Prozent ihrer Einnahmen selbst erwirtschaften. Nach staatlicher Umverteilung durch Steuern und Transferleistungen zählen gegenwärtig knapp ein Fünftel (18 Prozent) der Gesamtbevölkerung zur unteren Mittelschicht; ohne staatliche Eingriffe würden sie zur Gruppe der Armen gehören. Von daher sind deren Ängste berechtigt, machte Thorsten Kalina vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) deutlich. 

Nicht nur die Spaltung zwischen Arm und Reich ist krasser geworden, zugleich hat auch die gesellschaftliche Durchlässigkeit abgenommen, wie eine Untersuchung von WSI-Verteilungsexpertin Dorothee Spannagel belegt. „Das bedeutet zunehmend: „Einmal arm, immer arm.“ War es in den 1980er Jahren noch fast 35 Prozent der Menschen gelungen, aus der unteren Mitte aufzusteigen, so waren es zwischen 2005 und 2012 nicht einmal mehr 23 Prozent. Zugleich rutschten in diesem Zeitraum fast 16 Prozent in die Armut ab. 

Was also tun gegen die Spaltung der Gesellschaft? Wichtige Maßnahmen sind die Verringerung von Lohnungleichheiten, die Stärkung der Tarifbindung sowie die Anhebung des Mindestlohns. Für einen Abbau von Armut sind höhere ALG-II-Sätze, eine Förderung von bezahlbarem Wohnraum und verbesserte Bildungschancen notwendig, so das Fazit der Tagung.

Zur Dokumentation der Tagung 

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