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Magazin Mitbestimmung

Solidarität: Damals Chile, heute die Welt

Ausgabe 04/2014

Als 1973 die demokratisch gewählte Regierung Salvador Allende gestürzt wurde, wurde ein Solidaritätsfonds für Verfolgte gegründet, an dem sich Böckler-Stipendiaten finanziell beteiligten. Bis heute leistet er Hilfe über alle Grenzen hinweg. Von Andreas Molitor.

Jochen Fuchs, Juraprofessor an der Hochschule Madgeburg-Stendal, ist ein Mensch, der das Unkonventionelle wie eine Fahne vor sich herträgt. Zu Konferenzen, die andere im Anzug besuchen, kommt er in Lederhose oder mit T-Shirt, auf dem steht: „Gib Nazis keine Chance“. Aber er ist auch ein Schwabe, einer, der sich freut, wenn „in einem Projektantrag mit Gebrauchtrechnern statt mit Neuware kalkuliert wird“. Fuchs ist Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung und Mitglied der Vergabekommission des Solidaritätsfonds. Dreimal im Jahr berät das Gremium darüber, welche Projekte, Initiativen und Kampagnen der Solidaritätsfonds mit maximal 5000 Euro fördert.

Auch im 40. Jahr seines Bestehens sind die 2000 Böckler-Stipendiaten aufgerufen, ein Prozent ihres Stipendiums zu spenden; die Stiftung stockt den Beitrag um die gleiche Summe auf. Die Vertrauensdozenten wiederum verzichten ganz oder teilweise auf ihre Aufwandsentschädigungen. Allein von Anfang Oktober 2012 bis Ende September 2013 kamen so gut 100.000 Euro zusammen. Die Anträge können von den Projekten selbst, aber auch von Stipendiaten, Altstipendiaten, Gewerkschaftern und Betriebsräten eingereicht werden. In der Vergabekommission gilt das Einstimmigkeitsprinzip: Alle müssen hinter dem Antrag stehen.

Bei der Oktober-Tagung fand unter anderem die Reise eines bolivianischen Theaterensembles nach Deutschland und sein Stück über den Kampf um die Ressource Wasser einhelligen Zuspruch. Auch eine Zeitungsbeilage zur Situation rund um das Asylbewerberheim in Berlin-Hellersdorf, eine Broschüre zur Lage von Roma in Serbien, eine Kampagne gegen die polizeiliche Praxis des „racial profiling“ und Gedenkstättenfahrten im Rahmen einer „antifaschistischen Geschichtsvermittlung“ überzeugten die Jury.

In einigen Fällen war die Kostenkalkulation nicht nachvollziehbar, in anderen war auch bei großem Wohlwollen kein politischer Impact zu erwarten. Da hilft auch gestelzte Antragsprosa nicht. „Was ist denn ‚körperliche Dekolonisierung, die sich an Brechts episches Theater anlehnt‘?“, fragte ein Kommissionsmitglied genervt. Die Initiatoren einer Werkstatt für missbrauchte Frauen im Kongo hatten sich auf die Bitte um eine detaillierte Kostenaufstellung nicht mehr gemeldet. Wie soll man unter solchen Voraussetzungen einen Zuschuss bewilligen?

AM ANFANG WAR PINOCHET „So ähnlich lief das Verfahren auch vor 40 Jahren“, erinnert sich Gabriele Eissenberger, eine der Pionierinnen des Soli-Fonds. Am Schreibtisch ihrer kleinen Mietwohnung in Berlin-Kreuzberg entstand ein Buch über die ersten zwei Jahrzehnte.* Wer der geistige Vater des Fonds war? Aus der Küche, wo Eissenberger gerade einen Tee aufbrüht, klingt ein kurzes, bellendes Lachen herüber. „Augusto Pinochet!“ Die Geschichte des Fonds ist untrennbar mit den Ereignissen nach dem Militärputsch am 11. September 1973 gegen die Regierung Allende verbunden. „Im Fernsehen sahen wir die Panzer und die Inhaftierten“, erzählt Eissenberger, damals Aktivistin bei Amnesty International.

„Wir kannten die Berichte von Folterungen und Hinrichtungen, und wir wussten, dass die Gewerkschaftsbewegung völlig plattgemacht worden war.“ In vielen Städten gründeten sich damals Chile-Komitees. Auch bei den Stipendiaten der Stiftung begann nach dem Putsch eine Diskussion über Solidarität mit den verfolgten Chilenen. Aus dem Kreis der Stipendiaten und Vertrauensdozenten entsprang die Idee für einen Spendenfonds, der geflohenen chilenischen Studenten ein Studium in Deutschland finanzieren sollte. Am 5. Februar 1974 beschloss der Vorstand der Stiftung die Gründung eines Chile-Solidaritätsfonds.

In den ersten Jahren nach dem Putsch finanzierte er vorrangig Stipendien und Sprachkurse für Chilenen, die geflüchtet waren oder deren Gefängnisstrafe in ein Zwangsexil umgewandelt worden war. „Das waren verängstigte, entwurzelte Menschen, die zum Teil unvorstellbare Qualen und Erniedrigungen erlitten hatten“, erinnert sich Gabriele Eissenberger. Geschickt nutzte die Stiftung ihren kurzen Draht zu etlichen Arbeitsdirektoren, vor allem in Montanunternehmen. Sie setzten sich dafür ein, dass einige der Exil-Chilenen einen Job bekamen. Oft gelang es, besonders bedrohte Menschen dem Zugriff der Repression zu entziehen.

Später, als der Terror allmählich nachließ, unterstützte der Soli-Fonds die in der Halblegalität wieder aufkeimende Gewerkschaftsbewegung. „Meist ging es um ganz banale Dinge“, erzählt Gabriele Eissenberger, die in jenen Jahren etliche Male nach Chile reiste. „Wir mieteten Busse, damit sie zu Demos fahren konnten, oder kauften Papier und Matrizen, damit sie Unterlagen drucken konnten.“ Gewährsleute vor Ort oder Stipendiaten, die nach Chile reisten, versorgten die Stiftung mit Einschätzungen über die Antragsteller. Kommunisten sollten bei den Projekten nicht in vorderster Front stehen; damit hatte der DGB-Vertreter in der Vergabekommission wiederholt Probleme. Insgesamt spendete der Chile-Soli-Fonds in 20 Jahren mehr als 1,5 Millionen Euro.

NEUE AUFGABEN Mit der Rückkehr Chiles zu demokratischen Verhältnissen Anfang der 90er Jahre stellte sich die Frage nach der Zukunft des Fonds. Die meisten Chile-Gruppen lösten sich auf. „Pinochet war weg“, erinnert sich Gabriele Eissenberger, „und damit war die Sonderstellung Chiles nicht mehr zu rechtfertigen.“ Es gab Länder, in denen Gewerkschaften und politische Opposition weit rücksichtsloser verfolgt wurden als in Chile. Außerdem formierte sich im wiedervereinigten Deutschland der rassistische Mob. Der Gedanke solidarischer Unterstützung wurde nun in neue Bahnen gelenkt. Der Fonds öffnete sich für Projekte aus dem In- und Ausland. So ist es bis heute geblieben.

Immer wieder aber kommt es in der Vergabekommission zu Diskussionen, was im Einzelfall unter förderungswürdiger politisch-emanzipatorischer Arbeit zu verstehen ist. Kein Wunder, schließlich vereint das Gremium Menschen zwischen Anfang 20 und Anfang 60. Die einen wurden in den frühen 70er Jahren politisch sozialisiert, für die anderen klingen schon die Erzählungen vom Kampf um die 35-Stunden-Woche altväterlich. Der eine oder andere Vertreter der Stipendiaten hat ein gerüttelt Maß an Sympathie für fantasievolle Sponti-Aktionen, hart am Rande der Legalität oder auch darüber hinaus, was die Vertrauensdozenten nur schwer nachvollziehen können.

Gleichzeitig ist man sich aber einig, Projekte ohne eine politische Komponente nicht zu fördern. Eine Gratwanderung für alle Beteiligten. Meist aber gelingt der Brückenschlag. Wer einfach nur irgendwo einen Brunnen bauen will, der hat keine Chance. Wenn aber eine „gewerkschaftlich-indigene Basisorganisation“ in den bolivianischen Anden einem abgelegenen Dorf Zugang zur knappen Ressource Wasser verschaffen will, sind sich alle einig, das Vorhaben zu unterstützen.

Jede geförderte Initiative muss einen Rechenschaftsbericht über die Verwendung der Mittel abgeben, „aber letzten Endes“, sagt Jens Becker, der in der Hans-Böckler-Stiftung für den Solidaritätsfonds zuständig ist, „muss man sich auf seine Konfidenten verlassen können“. Eine solide Evaluation ist im Ausland oft schwer möglich. Im vergangenen September besuchte Vertrauensdozent Jochen Fuchs auf eigene Initiative Projekte in Togo und Benin. Sein Fazit fiel, gelinde gesagt, zwiespältig aus. So war die Ausbildung von Schneidern, Friseurinnen und Webern zwischenzeitlich zum Erliegen gekommen; das schwarz-rot-gold angestrichene Ausbildungsgebäude lag verwaist da.

Auch der Elan der Frauengruppen, die Flächen für den Anbau von Nutzpflanzen gerodet hatten, war deutlich verebbt. Fuchs’ Fazit: „Es handelt sich um reine Charity-Maßnahmen, die keinen unmittelbaren Einfluss auf die politische Situation des Dorfes gehabt haben.“ Das passt ihm nicht: „Zunehmend werden Mittel nicht mehr nur für die Unterstützung des ‚harten‘ politischen Kampfes beantragt“, kritisiert Fuchs in einem Zeitungsbeitrag über den Soli-Fonds, „sondern für Projekte, die entweder in der Grauzone zwischen Politik und Alternativkultur angesiedelt sind oder aber gar ‚reine‘ sozialpädagogische Fördermaßnahmen für ‚Mühselige und Beladene‘ darstellen.“

Manches gutwillig bezuschusste Projekt mit politischem Anspruch wäre ob seiner Breitenwirkung durchaus einer Diskussion würdig – die aber nicht immer geführt wird. Zum Beispiel die „Massenzeitung“ gegen einen Neonazi-Aufmarsch, die während der Sitzung der Kommission herumgereicht wird. Schon beim Lesen der ersten Zeilen wird klar, dass das im Agitprop-Jargon verfasste Blatt nur für das Häuflein Insider genießbar ist, die eh zur Gegendemo kommen. „Ach kommt, Kinders, Zeitung ist doch gut“, sagt schließlich einer aus der Runde. Der Zuschuss wird bewilligt. Viele Kampagnen und Projekte werden durch die Anschubfinanzierung des Soli-Fonds erst ermöglicht. 1000 Euro mögen keine weltbewegende Summe sein, für eine lokale Initiative kann ein solcher Betrag entscheidend sein.

Der Fonds unterstützte unter anderem ein Straßentheaterprojekt einer Gewerkschaftsorganisation im südindischen Bundesstaat Karnataka. Doch gibt es solche politisch fundierten, aussichtsreichen Auslandsprojekte, zumal mit gewerkschaftlichem Bezug, nicht im Übermaß. So hat sich auf dem Festgeldkonto des Fonds ein stattlicher Betrag angesammelt. Zwar absolvieren immer mehr Studenten Auslandssemester, doch gibt es keine nennenswerte international ausgerichtete Soli-Szene mehr, die Kontakt zu lokalen Initiativen hält. Schon gibt es Diskussionen über das Geld. Stimmen, die kritisch fragen, „ob der Soli-Fonds das Geld weiter dem Finanzmarktkapitalismus, der Spekulation zur Verfügung stellen soll“, wie es ein Stipendiatenvertreter formulierte. Jochen Fuchs teilt diese Bedenken nicht. „Momentan ist nun mal keine revolutionäre Situation erkennbar“, sagt er halb im Scherz, „da ist es doch besser, das Geld zurückzulegen als Tanzkurse in Kinshasa zu fördern. Es könnte ja sein, dass es mal drauf ankommt. Und dann ist es doch von Vorteil, wenn man richtig klotzen kann.“


INTERVIEW 

„Menschenrechte stehen an erster Stelle“

Jens Becker, in der Stiftung zuständig für den Soli-Fonds, über dessen Selbstverständnis und die Chancen von Antragstellern

Wo soll der Soli-Fonds Hilfe leisten?
Wir fördern nationale und internationale Solidaritätsarbeit, die einen „emanzipatorischen“ Ansatz aufweist – mit den Schwerpunkten Bildung, Unterstützung demokratischer Strukturen und gewerkschaftlicher Aktivitäten. Für uns muss erkennbar sein, dass wir damit politisch Verfolgten helfen und eklatante Verstöße gegen Menschenrechte verhindern oder mildern, etwa gegen Frauen- und Minderheitenrechte oder gegen Gewerkschaftsrechte. Die gibt es in Demokratien und Diktaturen. Jeder kann Anträge stellen, und jeder Antrag wird geprüft.

Warum wird klassische Entwicklungshilfe nicht gefördert?
Weil jedes Projekt eine politische oder gewerkschaftspolitische Dimension haben sollte. Zudem achten wir darauf, dass die Projekte nicht schon andere staatliche oder suprastaatliche Hilfe erfahren. Rund 60 Prozent der Anträge lehnen wir ab.

Lange schien die Welt im Fonds sehr einfach: Links war gut, rechts böse. Trägt dieser Gegensatz noch?
Die Frage der Menschenrechte und der Menschenwürde steht an erste Stelle, von daher ist die politische Ausrichtung eines Projektes sekundär. Traditionell haben wir überwiegend Projekte aus dem linken Spektrum gefördert – so in Deutschland sehr viele antirassistische und antifaschistische Projekte. Hier besteht Korrekturbedarf. Internationale Projekte sollten fortan stärker im Fokus stehen. Auch jemand, der in China freie, staatsferne Gewerkschaften gründen will oder in einem islamischen Land die Frauenemanzipation fördert, muss mit unserer Hilfe rechnen können.

Wie viele Leute machen mit?
Bei den Vertrauensdozenten sind es weit über 50 Prozent, die sich finanziell am Soli-Fonds beteiligen. Bei den Stipendiaten sind die Spenden, gemessen am Volumen der ausgezahlten Stipendien, rückläufig.

Ein gutes Argument, warum man als Stipendiat mitmachen sollte?
Wir helfen nicht nur anderen. Der Solidaritätsfonds ist auch Teil der stipendiatischen Selbstverwaltung. Hier kann man sich ausprobieren und erfahren, wie man die Welt im Kleinen verändern kann. Mehr Gestaltungsspielraum geht kaum.

Mehr Informationen

Gabriele Eissenberger: NICHT NUR EIN STÜCK GESCHICHTE CHILES. Solidaritäts-Arbeit der Hans-Böckler-Stiftung und ihrer Stipendiaten für die chilenische Gewerkschafts- und Menschenrechtsbewegung 1973–1992. Schriftenreihe der Hans-Böckler-Stiftung. Verlag Westfälisches Dampfboot 2014. 24,90 Euro

Der Soli-Fonds im Netz:
www.boeckler.de/98.htm

 

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