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Magazin Mitbestimmung

: Zeitenwende in der Energiepolitik

Ausgabe 04/2011

GEWERKSCHAFTEN Kernkraft ist keine Brückentechnologie, wir brauchen einen Neustart. Von Michael Vassiliadis

MICHAEL VASSILIADIS ist Vorsitzender der IG Bergbau, Chemie, Energie und Mitglied in der von der Kanzlerin am 22. März eingesetzten 14köpfigen "Ethikkommission zur sicheren Energieversorgung"/Foto: Armin Weigel, dpa

Seit mehr als drei Wochen schon halten uns die Schreckensbilder aus Japan in ihrem Bann. Von furchtbaren Naturkatastrophen schwer getroffen, sind weite Gegenden dieses hoch entwickelten Landes buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht. Erdbeben und Tsunami haben viele Tausend Menschen das Leben gekostet, viele andere werden immer noch vermisst. Unser Mitgefühl und unsere Solidarität gelten den Opfern und ihren Angehörigen. Es ist bewundernswert, wie gefasst und wie diszipliniert sich die Menschen dieser Tragödie stellen. Sie bewahren Haltung, obgleich immer zu befürchten ist, dass ihnen noch schlimmeres Unheil droht. Das Kernkraftwerk Fukushima ist zerstört und außer Kontrolle. Die Strahlenbelastung steigt offenbar, und die bisherigen Versuche der Schadensbekämpfung wirken angesichts der Bedrohung durch einen Super-GAU schlicht hilflos. Die nukleare Katastrophe scheint die Verantwortlichen vor Ort zu überfordern.

In Japan ist eingetreten, was man zuvor für ausgeschlossen gehalten hatte. Ein so gewaltiges Erdbeben von der Stärke 9,0, begleitet von einem verheerenden Tsunami, das hatte beim Kraftwerksbau niemand für möglich erachtet. Und doch ist eingetreten, was als verantwortbares und akzeptables Restrisiko galt - mit Folgen für die Menschen, für Umwelt und Ökonomie, die vollständig heute noch keineswegs abschätzbar sind. Natürlich gibt es keine Technologie, die gänzlich frei von Risiken wäre. Aber die Dimension der Schäden, die Dauer bis zum Abklingen der Strahlenbelastung, das unterscheidet die Kernkraftnutzung.

Auch in Deutschland wird seit der Katastrophe von Fukushima die Frage neu gestellt, wie beherrschbar Kernkraft ist und wie verantwortbar die Risiken ihrer Nutzung sind. Unter dem Eindruck des japanischen Desasters hat die Bundesregierung zunächst die - erst im Sommer 2010 beschlossene - Laufzeitverlängerung für die hiesigen Kernkraftwerke für drei Monate ausgesetzt. Diesem Moratorium folgte kurz darauf die Blitzabschaltung von sieben älteren Reaktoren. Beides mag rechtlich umstritten sein, aber die politische Entscheidung ist spätestens mit den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gefallen. Diese Form der Energieversorgung hat in Deutschland keine politische Zukunft mehr.

LAUFZEITVERLÄNGERUNG KRITISIERT_ Die IG BCE hat bereits im vergangenen Jahr die Laufzeitverlängerung als falsch kritisiert. Mit dieser Entscheidung hat die Bundesregierung den zuvor befriedeten gesellschaftlichen Konflikt um die Kernenergie neu eröffnet. Der Widerstand gegen die Castor-Transporte zeugt davon. Kernenergie ist jenseits der Sicherheitsbedenken keine Option für die Zukunft der deutschen Energieversorgung. Zum einen ist die Endlagerung des nuklearen Abfalls ungeklärt. Das bleibt eine Aufgabe, die es auch bei einem Ausstieg aus der Kernenergie noch zu lösen gilt. Und zwar in nationaler Verantwortung und nicht etwa durch Exportstrategien in weniger sichere Länder.

Zum anderen bewirkt Kernenergie eine gesellschaftliche Spaltung, obgleich gerade in den langfristig zu beantwortenden Fragen der Energiepolitik ein Grundkonsens wichtig wäre. In der Entsorgungsfrage etwa braucht es eine möglichst breite Übereinstimmung, die nur mit einem umfassenden, politisch und gesellschaftlich vermittelten Energiekonzept zu erzielen ist. Alle politischen Kräfte sprechen sich für einen beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie aus, die hierzulande rund 22 Prozent des Strombedarfs deckt. Dabei ist von Bedeutung, dass es sich um sogenannte Grundlast handelt, also um den Strom, der rund um die Uhr zur Verfügung steht.

Was der möglichst rasche Verzicht auf Kernenergie für die Energieversorgung unseres Landes tatsächlich bedeutet, ist trotz der Vielfalt der Diskussionsbeiträge bislang kaum erkennbar. Sie werden zu einem Gutteil von Illusionen oder Irrationalität geprägt - und das macht ein Umsteuern in der Energiepolitik nicht leichter. Die Bundesregierung ist mit ihrer Vorstellung gescheitert, die Kernkraft könne eine Brücke in das Zeitalter der erneuerbaren Energien bauen. Zu hoffen ist, dass die Politik aus diesem Scheitern die richtigen Lehren zieht. Wir brauchen einen Neustart in der Energiepolitik, der alle maßgeblichen Akteure in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in die Entwicklung eines neuen Energiekonsenses einbezieht - und auch mit in die Verantwortung nimmt. Zu einem tragfähigen Energiekonzept für die Zukunft kommen wir nur, wenn wir uns als Gesellschaft der damit verbundenen Zielkonflikte bewusst sind, sie also benennen und diskutieren, um danach Entscheidungen zu treffen und zu vermitteln.

Die IG BCE hat sich zuletzt 2010 detailliert für ein Umsteuern in der Energiepolitik ausgesprochen. Wir wollen die erneuerbaren Energien so rasch wie möglich ausbauen, aus Gründen des Klimaschutzes und um der Endlichkeit fossiler Rohstoffe willen. Wir sehen allerdings auch die Grenzen einer solchen energiepolitischen Strategie. Windstrom beispielsweise ist nur verfügbar, wenn irgendwo ein Lüftchen weht, Solarstrom nur tagsüber und auch das im Winter nur eingeschränkt. Nach wie vor fehlt es an Möglichkeiten, den Strom aus erneuerbaren Energien zu speichern, und solange das nicht gegeben ist, so lange brauchen wir zusätzliche Erzeugungskapazitäten. Nach allem, was wir wissen, wird dieser Zeitraum eher in Jahrzehnten als in Jahren bemessen sein.

Ein Beispiel: Die Bundesregierung geht in ihrem Energiekonzept vom vergangenen Sommer davon aus, bis 2020 insgesamt 10 000 Megawatt Windstrom aus Offshore-Anlagen zu installieren. Bis heute gibt es aber nur zwölf Versuchsanlagen zu je fünf Megawatt Leistung, also 60 Megawatt insgesamt. Um das Ziel des Energiekonzepts zu erreichen, müssten also jedes Jahr mindestens 200 solcher Anlagen gebaut werden. Doch es fehlt sowohl an Fertigungskapazität als auch an Fachpersonal, um auf See Anlagen in dieser Größenordnung zu errichten. Und es gibt immer noch kein Leitungsnetz, mit dem wir den Strom dann von der Küste zu den Verbrauchern im Süden bringen könnten.

Handfeste Probleme dieser Art muss man zur Kenntnis nehmen. Sie sind nicht durch Beschlusslagen lösbar, sondern nur durch ein viele Milliarden schweres Investitionsprogramm. Ein Ausstieg aus der Kernenergie und ein Umsteuern hin zu erneuerbaren Energien sind notwendig, aber nur schrittweise realisierbar. Und ein solcher Neuaufbau in der Energieversorgung muss auch volkswirtschaftlich verkraftbar bleiben, um letztlich erfolgreich zu sein. Niemandem in Deutschland ist mit Atomstrom aus Frankreich gedient oder mit einem Abwandern energieintensiver Industrien in Länder, die weniger Wert auf Umwelt- und Klimaschutz legen.

Als Grundpfeiler der Energie-Brücke werden wir also noch für eine gute Weile auf Kohle und Gas angewiesen sein, um eine sichere und wettbewerbsfähige Energieversorgung mit der Begrenzung der Erderwärmung zu vereinbaren. Strom muss auch zukünftig zuverlässig und rund um die Uhr für Haushalte, Industrie, Gewerbe und Dienstleistungen bereitstehen. Dazu müssen wir uns auf einen neuen, geeigneten Energiemix verständigen, der Strom aus erneuerbaren Energien eine vorrangige Einspeisung in das Stromnetz garantiert. Und der zum anderen auf moderne Kohle- und Gaskraftwerke setzt, um im Wesentlichen die Grundlast zu decken.

Das Umsteuern hat zweifellos seinen Preis. Wir werden daher auch klären müssen, wie wir für das produzierende Gewerbe zuverlässig Strom zu Wettbewerbspreisen bereitstellen. Gerade die energieintensiven Industrien sind als Motor von Innovation unverzichtbar, um die erneuerbaren Energien weiterzuentwickeln und ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Von daher macht es auch aus energiewirtschaftlicher und umweltpolitischer Sicht Sinn, neue Formen einer effektiven Kompensation politisch bedingter Energiepreiserhöhungen zu finden.

MÖGLICHST KLIMANEUTRALE KOHLEKRAFT_ Weil wir nicht gleichzeitig aus der Kernkraft und der Kohle aussteigen können, müssen wir zumindest sicherstellen, dass der Kohleeinsatz so klimaneutral wie eben möglich erfolgt. Das setzt voraus, bei der Braunkohle endlich die Möglichkeit für ein Abscheiden und Speichern von CO2 zu schaffen. Wir müssen diese CCS-Technologie in der Praxis erproben und weiterentwickeln. Dazu gehört, die politische Blockade des CCS-Gesetzes endlich aufzulösen. Wenn wir die Klimaziele Deutschlands erreichen wollen, müssen wir zudem in moderne Kohlekraftwerke mit einem höheren Leistungsgrad investieren. Wir brauchen allerdings gesellschaftliche Akzeptanz für das Ziel, alte Kohlekraftwerke, die vergleichsweise viel CO2 emittieren, durch neue, CO2-arme zu ersetzen.

Der Weg zu einer modernen Energieversorgung durch erneuerbare Energien ist nicht im Sprint zu schaffen, sondern verlangt Beharrlichkeit und Ausdauer. Aber das Ziel ist erreichbar, wenn wir Schritt für Schritt vorgehen und uns dabei nicht überfordern. Für eine solche Strategie steht die IG BCE. Und wir wollen möglichst viele Menschen dabei mitnehmen.

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