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Magazin Mitbestimmung

: Wider die neue Billiglohnlinie

Ausgabe 01+02/2011

METALLINDUSTRIE Wie IG-Metall-Betriebsräte Equal Pay verhandeln. Von Mario Müller

Mario Müller ist Journalist in Frankfurt/Main./Foto:Gabi Senft/transitfoto

Wenn Bodo Grzonka vor Betriebsräten über Leiharbeit spricht, hat er zwar nicht das Strafgesetzbuch unter dem Arm. Aber zur Einstimmung auf das Thema verweist der Sekretär des IG-Metall-Bezirks Berlin-Brandenburg-Sachsen gerne auf § 233 StGB. Unter der Überschrift "Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft" heißt es dort: Wer eine Person zu Arbeitsbedingungen zwingt, "die in einem auffälligen Missverhältnis zu Arbeitsbedingungen anderer Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer stehen, welche die gleiche oder eine vergleichbare Tätigkeit ausüben", muss mit einer Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren rechnen. Schon "der Versuch ist strafbar". Im Anschluss an die Präsentation des Gesetzestexts verblüfft Grzonka das Publikum mit der schlichten Frage: "Ist Leiharbeit keine Ausbeutung der Arbeitskraft?"

Für den deutschen Gesetzgeber offenbar nicht. Denn was das Strafrecht zu verbieten scheint, lässt das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) massenhaft zu: Es setzt Leiharbeiter Bedingungen aus, die in einem auffälligen Missverhältnis zu jenen stehen, unter denen Stammkräfte beschäftigt werden. Sie müssen sich meist nicht nur mit deutlich niedrigeren Einkommen begnügen, sondern tragen auch ein besonders hohes Risiko, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, wie die jüngste Krise zeigte.

Nun, im Aufschwung, erlebt die Leiharbeit einen neuen Boom. Und bringt die Vertreter der IG Metall vollends in Harnisch. "Der Missbrauch der Leiharbeit nimmt rasant zu", wetterte Detlef Wetzel, der Zweite Vorsitzende der Gewerkschaft, als er vor einigen Wochen das Ergebnis einer großen Betriebsrätebefragung vorstellte. Ihr zufolge decken Unternehmen den aufschwungbedingten zusätzlichen Bedarf an Arbeitskräften mehrheitlich durch "prekäre" Beschäftigung ab. Leiharbeit, ursprünglich zur Bewältigung von Auftragsspitzen gedacht, habe sich "zu einem massiven Dumpingwerkzeug entwickelt" und werde "zunehmend als strategisches Instrument zur Etablierung einer neuen Billiglohnlinie eingesetzt", schließt Wetzel.

Was tun? Die IG Metall verfolgt eine Doppelstrategie. Zum einen setzt sie auf Lösungen in den Betrieben. Die Interessenvertretungen vor Ort sollen Leiharbeit möglichst verhindern und erst dann, wenn sie sich als unabwendbar erweist, versuchen, ihren Umfang zu begrenzen und bessere Bedingungen für die Betroffenen auszuhandeln. Entsprechende Vereinbarungen sind der Gewerkschaft zufolge in mehr als 800 Betrieben getroffen worden. Dies reiche aber nicht, um Leiharbeit "flächendeckend sozial zu gestalten und einzudämmen", sagt Detlef Wetzel. Vielmehr müsse die Politik handeln und den Grundsatz "Gleiche Arbeit - gleiches Geld" in geltendes Recht umsetzen. "Wir brauchen Equal Pay."

DAIMLER STOCKT AUF_ Die großen Autohersteller sind diesem Ziel ein ganzes Stück nähergekommen. Beispiel Daimler. Dort habe die Arbeitnehmerseite zwar nicht alle ihre Forderungen durchsetzen können, die Betriebsvereinbarung sei gleichwohl "ziemlich gut", meint Thomas Klebe, Justiziar der IG Metall und Mitglied des Aufsichtsrats von Daimler. Nach dem im vergangenen Jahr 2010 ausgehandelten Vertragswerk stocken die Stuttgarter die Löhne, die die Leiharbeitnehmer von ihrem Verleiher erhalten, um mehr als das Doppelte auf. Da diese aber keine Zuschläge erhalten und von Daimlers Altersversorgung ausgeschlossen sind, entsprechen ihre Einkommen "nicht ganz Equal Pay", sagt Klebe. Ebenfalls unverändert blieb die Regelung, die den Anteil von Leiharbeitern und befristet Beschäftigten in der Produktion auf jeweils vier Prozent beschränkt. Die für beide Gruppen bis dato geltende Obergrenze von maximal 2500 Köpfen wurde allerdings aufgehoben.

Ein wichtiger Punkt der Betriebsvereinbarung bei Daimler: Wird die Leiharbeitsquote überschritten, sollen neue, unbefristete Stellen eingerichtet werden. So geschah es im vergangenen Jahr 2010 auch im Werk Rastatt. Doch das grundsätzliche Problem ist damit nicht gelöst. Denn den übernommenen Leiharbeitern stehen jene gegenüber, deren Hoffnungen auf eine Festanstellung enttäuscht werden, sagt der dortige Betriebsratsvorsitzende Karlheinz Fischer. Und er verweist auf die "erschreckenden Umstände", unter denen von häufigen Jobwechseln und geringen Einkünften gebeutelte Leiharbeiter zu leiden haben. Aus der Stammbelegschaft habe es deshalb Forderungen gegeben, mehr für diese Kollegen zu tun.

"Wir lassen Leiharbeit zu, aber nur geregelt", sagt Jörg Schlagbauer, Leiter des IGM-Vertrauenskörpers und Mitglied des Audi-Betriebsrats sowie des Aufsichtsrats bei der VW-Tochter. Um zu verhindern, dass sie Usus wird, "muss Leiharbeit teuer sein". Sie soll lediglich für Auftragsspitzen infrage kommen. Wie in der gesamten Branche schwanken Produktion und Beschäftigung auch in Ingolstadt im Rhythmus der Modellwechsel. Nachdem Audi bis dato in den Anlaufphasen neuer Baureihen auf befristete Einstellungen gesetzt hatte, wurden 2002 erstmals Leiharbeiter geholt. Dies gab den Anstoß für ein umfassendes Regelwerk, das Betriebsrat und Gewerkschaft in den folgenden Jahren aushandeln konnten. Die Kernpunkte: Der Einsatz von Leiharbeit in der Produktion ist auf maximal fünf Prozent begrenzt, und ein Tarifvertrag mit den Personaldienstleistern Adecco und Tuja hievt deren Lohnzahlungen durch Zulagen von Audi automatisch auf das Niveau der bayerischen Metall- und Elektroindustrie. 2009 wurde zudem erstmals in Deutschland eine Beschäftigungsgesellschaft gegründet, die von der Entlassung bedrohte Leiharbeiter auffangen sollte.

Als "tollen Erfolg" wertet Schlagbauer, dass es gelungen sei, alle Leiharbeiter gewerkschaftlich zu organisieren. Sie wurden sogar in die Verhandlungen der Tarifkommission eingebunden. Johann Horn, der Erste Bevollmächtigte der IG-Metall-Verwaltungsstelle Ingolstadt, verweist auf einen interessanten Nebeneffekt der Audi-Vereinbarungen: Andere Leiharbeitsfirmen in der Region müssten ebenfalls höhere Löhne anbieten, weil sie sonst keine Leute fänden.

VORREITER FORD_ Wenn es um Equal Pay geht, liegt jedoch Ford an der "Spitze in der Autoindustrie". Das sagt jedenfalls Thomas Freels, Vorsitzender des Vertrauenskörpers und Geschäftsführer des Gesamtbetriebsrats in Köln. Ob Flächentarif, Eingruppierung, Weihnachts- oder Urlaubsgeld: Die Leiharbeiter seien den Stammbeschäftigten finanziell gleichgestellt. Eine entsprechende Betriebsvereinbarung, die zudem die Leiharbeitsquote in der Produktion auf maximal acht Prozent begrenzt, wurde bereits 2003 abgeschlossen, als sich "andeutete, dass das Problem verstärkt auf uns zukommt". Die Unternehmensleitung wolle zwar "raus" aus der Vereinbarung, weiß Freels. Falls sie dieses "heiße Thema" anpacke, hätte sie aber "sofort die hochorganisierte Belegschaft auf der Straße". Darunter wohl auch die 500 Leiharbeiter, die Mitte November im Werk Saarlouis einen unbefristeten Arbeitsvertrag von Ford erhielten.

Von neuen festen Arbeitsplätzen kann bei Miele dagegen keine Rede sein. Das Management des Hausgeräteherstellers denke trotz steigender Absatzzahlen nicht daran, die Stammbelegschaft aufzustocken, berichtet Heiner Sürken, der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats. "Wachsen, ohne zu wachsen", laute die Devise bei Miele rund um Gütersloh. Um die Kosten betriebsbedingter Kündigungen zu vermeiden und die höchstmögliche Flexibilität zu erreichen, stelle Miele nur noch befristet ein oder setze auf Leiharbeit. Letztere konnte immerhin durch eine Betriebsvereinbarung geregelt werden. Ihr zufolge darf die Anzahl der Leiharbeiter höchstens 4,5 Prozent der Beschäftigten in den einzelnen Werken betragen. Für die Montagegruppen an den Bändern gilt eine Höchstquote von 22,5 Prozent. Diese Begrenzung soll verhindern, dass nur aus Leiharbeitern bestehende Teams gebildet werden. Sie kämen, sagt Sürken, gerne zu Miele, wollten aber nicht Leiharbeiter bleiben. Schon weil das Geld oft nicht reicht. Trotz des Zuschlags von 38 Prozent auf den Leiharbeitstarif, den das Unternehmen zahlt, finden sich unter den Betroffenen auch "Aufstocker", berichtet Sürken.

HERKULESAUFGABE BEI HÖRMANN_ Ein Fremdwort ist Equal Pay bei der Hörmann-Gruppe, einem großen Hersteller von Toren, Türen und anderen Bauelementen mit rund 6000 Beschäftigten. Da es sich um ein ausgeprägtes Saisongeschäft handele, "werden wir die Leiharbeit nicht wegkriegen", erkennt Thomas Reckmeier. Aber der 52-Jährige, der seit Juni dem Betriebsrat der Hörmann KG Werk Brockhagen bei Bielefeld angehört, macht sich dafür stark, das Thema endlich anzupacken und auf eine "Besser-Regelung" hinzuarbeiten. Er sei "am Rotieren", erzählt Reckmeier, weil "viel im Argen" liege: Der Betriebsrat werde nicht gefragt, wenn es um den Einsatz von Leiharbeitern gehe. Da diese in den untersten Lohnstufen eingruppiert würden und keine Schichtzulagen erhielten, hätten sie oft "so wenig Geld, dass sie ihre Familien nicht ernähren können".

Inzwischen sei auch die Stammbelegschaft "wachgerüttelt", sagt Reckmeier. Die Kollegen ärgere, "dass die Leiharbeiter nicht anständig bezahlt werden". Gleichzeitig fühlen sie sich unter Druck gesetzt. Denn in der Hoffnung auf eine Festanstellung würden die Leiharbeiter "reinhauen wie verrückt" mit der Folge, dass das Management die Leistungsanforderungen für alle hochschraube. Ein neuer Leiharbeitsausschuss des Betriebsrats soll nun mit der Geschäftsleitung über das Thema verhandeln. Reckmeier befürchtet "harte Gespräche". Zumal bei Hörmann ohnehin schwierige Bedingungen herrschen: Die Gruppe hat eine besondere Konstruktion aus vielen Einzelgesellschaften, mit der Mitbestimmungsrechte etwa eines Konzernbetriebsrates umgangen werden sollen. Und die Hörmann KG Brockhagen ist aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten, zahlt unter Tarif und mutet auch der Stammbelegschaft "enorm flexible Arbeitszeiten" zu, sagt das Betriebsratsmitglied.

IG METALL GIBT ANSTÖSSE_ "Patentrezepte für Betriebsräte, wie am besten mit der Leiharbeit umzugehen ist", gebe es wegen der unterschiedlichen Personaleinsatzkonzepte der Unternehmen nicht, heißt es in einem Memorandum des IG-Metall-Bezirks NRW, das Argumentationshilfen zum Thema bietet. Auch Verena zu Dohna-Jäger, Leiterin des Arbeitskreises Leiharbeit beim Gewerkschaftsvorstand in Frankfurt, spricht von einer "Sisyphosarbeit", die den Interessenvertretungen erhebliche Konfliktbereitschaft abverlange. "Betriebsräte müssen den Willen haben, das Problem anzupacken", nennt der Berlin-Brandenburger IG-Metaller Bodo Grzonka als entscheidende Voraussetzung. Die Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechte böten vielfältige Möglichkeiten, Leiharbeit zu verhindern, zu begrenzen oder zu regeln. Dreh- und Angelpunkt sei die Personalplanung. Dort könne etwa festgelegt werden, welche Funktionen von Stamm- und welche von Leihkräften zu übernehmen sind. Wenn das Management mit betriebswirtschaftlichen Argumenten Druck aufzubauen versuche, werde es allerdings schwieriger. Dann sollten Betriebsräte auf genauen Kalkulationen beharren, die auch die Folgekosten der Leiharbeit berücksichtigen, meint Grzonka.

Grundsätzlich lohne es sich für Betriebsräte immer, die scheinbar einfache und schnelle Lösung Leiharbeit infrage zu stellen, heißt es auch im NRW-Memorandum. Ein verstärkter Einsatz von Leiharbeit sei "nicht nur eine latente Bedrohung für die Stammbelegschaft", sondern könne auch den wirtschaftlichen Erfolg des Entleihers beeinträchtigen. Denn Leiharbeit demotiviere die Beschäftigten, störe eingespielte Arbeitsabläufe, gefährde unter Umständen die Qualität der Produktionen oder schade dem Image des Unternehmens. In der Sprache der Betriebswirtschaft heißt das: Sie rechnet sich oft nicht.


 

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