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Magazin Mitbestimmung

: Wertschätzung und Wertschöpfung

Ausgabe 11/2006

Industrielle und handwerkliche Facharbeit stand und steht - zumal in Deutschland - für berufliche Identität und selbstbewusstes Arbeiten, aber auch für ökonomische Wertschöpfung und gesellschaftliche Wertschätzung.



Von Bernd Bienzeisler
Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart. bernd.bienzeisler@iao.fraunhofer.de



Die Folgen einer neuen weltweiten Arbeitsteilung, wie sie sich derzeit herausbildet, werden primär als Phänomen der Güterproduktion wahrgenommen. Im Fokus steht die globale Reorganisation industrieller Wertschöpfungsketten und die Verlagerung von Produktionsstätten in Niedriglohnländer. Im Dienstleistungssektor sind ähnliche Entwicklungen im Gange. Sie vollziehen sich jedoch weniger spektakulär und öffentlichkeitswirksam - auch deshalb, weil dabei in Deutschland nicht nur Beschäftigung abgebaut, sondern auch neue Beschäftigung geschaffen wird.

Die Transformation der Dienstleistungswirtschaft

Weite Teile der Dienstleistungswirtschaft sind von einer global ausgerichteten Industrialisierungswelle erfasst. Diese entfaltet ihre Wirkung überall dort, wo Menschen mit Informationen und Daten umgehen. Und das ist in nahezu allen Dienstleistungsbranchen der Fall. Mit Hilfe neuer Informations- und Kommunikationstechnologien werden Daten digitalisiert, Prozesse automatisiert und Wertschöpfungsketten disaggregiert.

Es entstehen neue Schnittstellen zwischen Kunde und Dienstleistungsanbieter, neue Formen der Selbstbedienung und erweiterte Möglichkeiten, den Kunden in den Prozess der Leistungserstellung einzubinden. Die Industrialisierung der Dienstleistungswirtschaft gestaltet sich weitgehend offen, zentrale Entwicklungsstränge zeichnen sich jedoch bereits ab:

- Tätigkeiten, deren Charakter stark transaktionsbezogen ist (zum Beispiel EDV-Eingaben, einfache Sachbearbeitung etc.), werden verstärkt automatisiert oder in Niedriglohnländer verlagert.

- Tätigkeiten, die Sachkompetenz, Erfahrungskompetenz und kommunikative Beratungskompetenz verknüpfen, nehmen zu, weil Kunden aufgrund einer steigenden Komplexität ihrer Lebens- und Arbeitswelten mehr und besser beraten werden wollen.

- Weil die Industrialisierung der Dienstleistungswirtschaft auf Informationstechnologien basiert, vollzieht sich der Transformationsprozess um ein Vielfaches schneller als die Industrialisierung der Sachgutproduktion.

Wie sich dies auf die Beschäftigungszahlen im Dienstleistungssektor auswirken wird, ist schwer vorherzusagen. Es deutet jedoch wenig darauf hin, dass eine reife Dienstleistungswirtschaft mehr Beschäftigungspotenziale für gering qualifizierte Arbeitskräfte bietet als die heutige Sachgutwirtschaft - zumal beide Sektoren immer stärker zusammenwachsen.

Neue Aufgaben- und Qualifikationsprofile

Mit Sicherheit lässt sich jedoch sagen, dass sich die Anforderungs- und Kompetenzprofile von Dienstleistungstätigkeiten verändern. Dies ist schon heute bei neuen Dienstleistungen besonders gut erkennbar. Neue Dienstleistungen entstehen vor allem dort, wo menschliches Wissen und Know-how die Sollbruchstellen digitalisierter Informations- und Kommunikationsflüsse bearbeiten muss.

Deshalb ist gerade bei neu gestalteten Dienstleistungstätigkeiten eine Kompetenzverschiebung von transaktionsbezogenen Fachkompetenzen hin zu interaktionsbezogenen Sozialkompetenzen zu beobachten. Gefragt sind "soft skills" wie Empathie, Stressresistenz, Kommunikationsfähigkeit etc.

Die wachsende Bedeutung extrafunktionaler Qualifikationen stellt besonders Tätigkeiten mittlerer Qualifikation vor Herausforderungen. Dieses Segment, das zwischen rein akademisch orientierten und einfachen Dienstleistungen angesiedelt ist, steht zwar selten im Fokus von Dienstleistungsdebatten. Der Bereich repräsentiert jedoch den größten Anteil an Beschäftigung im Dienstleistungssektor.

Die Kompetenzverschiebung führt hier zu einem doppelten Problem: Zum einen spielen zertifizierte Kompetenznachweise und Formalqualifikationen im Bereich mittlerer Qualifikation eine traditionell wichtige Rolle. Jedoch existieren diese bislang kaum für extrafunktionale Qualifikationen. Die neuen Anforderungen erscheinen daher nicht mehr berufsspezifisch.

Zum anderen sind im Bereich mittlerer Qualifikation die Wertschöpfungsbeiträge extrafunktionaler Kompetenzen besonders diffus, weil diese Fähigkeiten in erster Linie zum Einsatz kommen, um den reibungslosen Ablauf von bereits definierten Prozessen und Abläufen zu gewährleisten. In der betrieblichen Praxis jedenfalls sind im Segment mittlerer Qualifikation immer häufiger neue Qualifikations- und Professionalisierungsmuster zu beobachten:

Beispiel Finanzdienstleistungen: Das Berufsbild Bankkaufmann/Bankkauffrau hat einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen. Die Kreditinstitute suchen vermehrt vertriebsorientiertes Personal, welches aktiv Kunden anspricht. Dies konfligiert mit dem klassischen Berufsbild des Beratungsspezialisten. Inzwischen werden auch Personen ohne branchenspezifische Ausbildung eingestellt.

Beispiel Callcenter: Bis heute existiert für Callcenter-Tätigkeiten kein klar umrissenes Berufsbild. Während Callcenter-Tätigkeiten bislang als einfache, standardisierte Arbeiten gelten, gehen erste Callcenter-Anbieter dazu über, die Arbeit an der Schnittstelle zum Kunden aufzuwerten. Das Personal dazu wird in der Regel selber ausgebildet.

Beispiel Hotellerie: In der Hotel-Branche hat sich ein tiefgreifender Wandel in Richtung Systemgastronomie vollzogen. In diesem Zusammenhang denkt eine führende Hotelkette darüber nach, ein Berufsbild "Gastgeber" zu konzipieren, welches die Beschäftigten zum Umgang mit individuellen Kundenwünschen bei gleichzeitig begrenzter Varianz des Service-Angebotes befähigt.

Bei genauerem Hinschauen zeigt sich, dass die veränderten Anforderungsprofile nicht pauschal durch eine Kompetenzabnahme, wohl aber durch eine Verschiebung in Richtung weniger griffiger Kompetenzen gekennzeichnet sind. Diese Kompetenzen werden nur unzureichend in den beruflichen Aus- und Weiterbildungssystemen generiert und vermittelt.

Sie besitzen damit faktisch für die Beschäftigten keinen nachweisbaren Wert. Nicht zuletzt deshalb spielen sie bei Fragen der monetären Bewertung von Tätigkeiten eine untergeordnete Rolle, werden Produktivitäts- und Wertschöpfungsbeiträge überwiegend der Technisierung und Automatisierung zugeschrieben und tritt das Personal hauptsächlich als Kostenfaktor in Erscheinung.

Konturen guter Dienstleistungsarbeit

Ergebnis dieser Missverhältnisse ist, dass viele Dienstleistungstätigkeiten inzwischen durch das Bewertungsraster guter Arbeit fallen - und zwar sowohl im Hinblick auf die soziale als auch im Hinblick auf die materielle Wertschätzung, die sie erfahren. Dies liegt auch daran, dass die gängigen Bewertungskriterien für gute Arbeit noch immer vom industriellen Denken dominiert werden. Genauer: Sie speisen sich aus einem lange Zeit verbindlichen Leitbild guter industrieller Facharbeit.

Kennzeichen industrieller Facharbeit sind unter anderem zertifizierbare Basisqualifikationen, ein darauf aufbauendes Erfahrungswissen, ein breiter Zugang zum Arbeitsmarkt, ein gewisser Stolz der Beschäftigten auf die Tätigkeit, ein hohes Maß an sozialer Anerkennung und eine den Wertschöpfungsbeiträgen angemessene Entlohnung der Arbeit.

Zweifellos ist das Leitbild industrieller Facharbeit in den vergangenen Jahren von verschiedenen Seiten unter Druck geraten. Wenn aber Wertschöpfung, Wachstum und Beschäftigung zunehmend von Dienstleistungen abhängen und gesellschaftliche Teilhabe und soziale Anerkennung mehr denn je über Erwerbsarbeit erfolgen, stellt sich die Frage, ob und wie mit einem neuen Leitbild attraktiver und wertgeschätzter Dienstleistungsarbeit die Zusammenführung dieser Entwicklungslinien positiv unterstützt werden kann. Diese Überlegungen knüpfen unmittelbar an der Pionieraktivität "Produzentenstolz als Innovationsressource im Dienstleistungsbereich" an - siehe Kasten. Im engeren Sinn wirft dies folgende Fragestellungen auf:

- Mit welchem Leitbild attraktiver Dienstleistungsarbeit kann die beschleunigte Transformation der Dienstleistungswirtschaft bewältigt werden?

- Wie können die Wertschöpfungs- und Innovationsbeiträge von Dienstleistungen transparenter gemacht werden?

- Wie lässt sich bei Dienstleistungstätigkeiten eine bessere Übereinkunft von Wertschöpfung und Wertschätzung der Arbeit erzielen?

- Was sind dienstleistungsspezifische Kernkompetenzen, auf denen Spezialisierung und Kompetenzentwicklung aufsetzen kann?

- Wie kann im Dienstleistungsbereich die Akzeptanz von Qualifikationen und Kompetenzen erhöht und die Flexibilität auf den inner- und außerbetrieblichen Arbeitsmärkten gesteigert werden?

Die Beförderung eines neuen Leitbildes guter Dienstleistungsarbeit kann nicht eine unreflektierte Übertragung von Konzepten industrieller Facharbeit auf die Dienstleistungswirtschaft zum Ziel haben. Es geht auch nicht um die Ausdifferenzierung weiterer Berufsbilder in einer ohnehin fragmentierten Ausbildungslandschaft. Im Vordergrund steht die Identifikation, Erforschung und Beschreibung von dienstleistungsspezifischen Basisprozessen und Basiskompetenzen, die für eine gute Service-Performance und eine effiziente Gestaltung von Dienstleistungsprozessen bei gleichzeitig hoher Dienstleistungsqualität unerlässlich sind.

Der gewerkschaftliche Fokus

Gewerkschaften leisten zur Beförderung eines Leitbildes guter Dienstleistungsarbeit wichtige Beiträge, etwa indem sie auf problematische und prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Dienstleistungssektor aufmerksam machen. Seltener im Fokus gewerkschaftlicher Betrachtungen hingegen steht die Qualität von Dienstleistungsprozessen. Bei der Fokussierung der Dienstleistungsqualität rückt neben den Beschäftigten der Kunde stärker in das Blickfeld.

Denn Dienstleistungen sind im Wesentlichen dadurch charakterisiert, dass Beschäftigte und Kunden in einem gemeinsamen Interaktionsprozess die (Dienst-)Leistung erbringen. Deshalb leidet die Qualität von Dienstleistungen zwangsläufig dort, wo die Leistungsbeiträge von Beschäftigten und Kunden geringgeschätzt werden, wo elementare Bedürfnisse auf Kundenseite und auf Seiten der Beschäftigten nicht berücksichtigt werden und wo Kunden und Mitarbeiter mit unzureichenden Anreiz- und Motivationssystemen konfrontiert sind.

Kunden und Dienstleistungsbeschäftigte wissen inzwischen, dass die Verheißungen der Dienstleistungsgesellschaft nicht selten enttäuscht werden, dass in vielen Bereichen die Qualität von Dienstleistungen eher ab- als zunimmt. Unerreichbare Callcenter, überforderte Mitarbeiter, gereizte Kunden oder unzumutbare Selbstbedienungskonzepte sind dafür nur einige Beispiele.

Die Modernisierung und Industrialisierung der Dienstleistungswirtschaft erscheint aus Kunden- und Mitarbeiterperspektive vor allem dann als Zumutung, wenn auf Basis des Einsatzes neuer Technologien völlig reibungslose Abläufe und Prozesse suggeriert werden, die aufgrund einer wachsenden Komplexität kaum einzuhalten sind, und wenn zugleich zu wenig Kompetenzen und Ressourcen vorgehalten werden, um die negativen Nebenfolgen der Nichteinhaltung abzupuffern.

Gewerkschaftliche Arbeit, die stärker die Qualität von Dienstleistungsprozessen fokussiert, könnte nicht nur einen Beitrag zur Qualitätssteigerung leisten. Ein solcher Ansatz könnte auch mehr Transparenz in die komplizierten Wertschöpfungszusammenhänge von Dienstleistungen bringen und zugleich bei allen Beteiligten die Einsicht fördern, dass eine hohe Dienstleistungsqualität nicht zum Nulltarif zu haben ist.

 


"Partner für Innovationen"
Das Projekt "Produzentenstolz als Innovationsressource im Dienstleistungsbereich" ist eine von ver.di initiierte Pionieraktivität im Rahmen des Impulskreises Dienstleistungen der Initiative "Partner für Innovation". Die Initiative wurde 2004 von der rot-grünen Bundesregierung ins Leben gerufen.

Neben ver.di ist unter anderem das Fraunhofer IAO beteiligt. Ziel ist es, das öffentliche Bewusstsein für die Zusammenhänge von Innovation, Wertschöpfung und Wertschätzung von Dienstleistungsarbeit zu schärfen und Anregungen für die öffentlich geförderte Dienstleistungsforschung zu liefern. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) wird demnächst entsprechende Forschungsaufträge vergeben.
www.innovationen-fuer-deutschland.de
www.innovationsinitiative-deutschland.de




Zum Weiterlesen
Gerhard Bosch: Bildung und Beruflichkeit in der Dienstleistungsgesellschaft. In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 1/2003

Jürgen Howaldt: Die plurale Arbeitswelt der Zukunft als Herausforderung für die sozialwissenschaftliche Arbeitswissenschaft. In: Arbeit, Heft 4, 2003

Uday Karmarkar: Will You Survive the Service Revolution?
In: Harvard Business Review, 6/2004

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