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Welche Gesellschaft öffnen wir? Magazin Mitbestimmung

Kultur: "Welche Gesellschaft öffnen wir?"

Ausgabe 02/2021

Vor einem Jahr musste Olaf Kröck, Intendant der Ruhrfestspiele, das Festival absagen. In diesem Jahr soll es stattfinden – so oder so. Ein Gespräch über Öffnungen und Schließungen und was das über die Gesellschaft sagt. Das Gespräch führte Fabienne Melzer Anfang März

Wie ist es den Kulturschaffenden in den vergangenen zwölf Monaten ergangen?

Es war eine dramatische Achterbahnfahrt mit vielen Hängepartien und Ungewissheiten. Die Livekunst ist weltweit um fast 90 Prozent eingebrochen. Das ist ein harter Schlag. Ich kenne eine Reihe von Leuten, die jetzt in Gesundheitsämtern Nachverfolgung machen oder im Baumarkt Regale auffüllen. Sie tun es in erster Linie, um Geld zu verdienen, aber auch, damit sie überhaupt eine Beschäftigung haben. Auch wenn es wirklich gute Hilfsprogramme gab, bei allen haben sie leider nicht gegriffen.

Wie viel Verständnis haben die Kulturschaffenden?

Die überwältigende Mehrheit unterstützt die Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung. Gewisse Entscheidungen sind allerdings nicht mehr nachvollziehbar. Die Theater und Opernhäuser haben dezidierte Hygienekonzepte entwickelt. Eine Vielzahl von Studien belegen, wie sicher die Innenräume dieser Kultureinrichtungen sind, weil sie sehr gute Lüftungsanlagen und ein Bewegungskonzept für das Publikum haben, das sehr viel strukturierter ist, als wir es in jedem Supermarkt finden. Eine Studie der Technischen Universität Berlin hat gezeigt, dass der mit Abstand sicherste Ort ein Theater mit 30 Prozent Belegung ist. Trotzdem waren wir bisher immer die Letzten, die wieder öffnen durften.

Liegt das an mangelnder Wertschätzung?

Nein, es ist Ignoranz. Nicht von unserer Kulturstaatsministerin und auch nicht von den Kultusministerinnen und -ministern der Bundesländer. Man merkt aber, wer in den Kabinetten Vorfahrt erhält – eben nicht die Kultur- und Bildungsakteure. Mit dem Öffnen kommen aber Freiheiten zurück. Wenn Kultur da immer an letzter Stelle steht, finde ich das zweifelhaft. Ich vermisse die Frage: Welche Gesellschaft wollen wir öffnen? Eine Konsumgesellschaft oder eine Kultur-, Wissens- und Bildungsgesellschaft? Unsere Gesellschaft muss noch mehr drängende Fragen als die Pandemie meistern. Fragen nach einer diversen Demokratie oder die Herausforderungen des Klimawandels, all das können wir nicht der Wirtschafts- und Finanzpolitik allein überlassen. Im Moment ist Kreativität gefragt. Die vielen Stolpersteine in der Pandemiebewältigung haben uns recht schonungslos gezeigt, dass wir als Krisenbewältiger leider sehr viel schlechter agieren, als wir es von uns selbst gedacht haben. Kunst und Kultur sind Teil von kreativen Lösungen. Wir servieren nicht das schon Gedachte, sondern versuchen, das Neue zu denken.

Was planen Sie in diesem Jahr?

Wir planen vor allem, dass die 75. Ruhrfestspiele 2021 stattfinden. Was auch immer möglich ist – nur 50, nur 250 Zuschauer, nur draußen. Wir wollen live Theater spielen. Aber wir denken auch über Alternativen nach. Wir planen Streamings, mit und ohne Bezahlzugang.

Vergangenes Jahr waren Sie gegenüber digitalem Theater noch sehr skeptisch.

Nehmen Sie das als meinen Lernprozess. Im vergangenen Jahr sind wir einfach ausgefallen und hatten die Vorstellung, dass wir, wenn alle geimpft sind, wieder Theater spielen wie vorher. Wir haben jetzt gelernt, dass es ein Zurück zum Zustand vor Corona zumindest eine Zeit lang nicht geben wird. Inzwischen nutzen alle Generationen die neuen Medien viel selbstverständlicher. Diesen digitalen Begegnungsort können wir jetzt füllen.

Wir werden die Ruhrfestspiele also zum Teil digital erleben?

Je mehr wir uns live sehen können, desto weniger rein digitale Formate wird es geben. Wir planen die Eröffnung am 2. Mai als Hybrid, gestreamt und mit Publikum vor Ort. Der digitale Raum eröffnet uns auch ein neues Publikum. Der australische Circa Contemporary Circus sollte beispielsweise bereits im vergangenen Jahr seine Deutschlandpremiere bei uns feiern. Australien hat im Moment noch so restriktive Corona-Gesetze, dass die Artisten auch in diesem Jahr nicht zu uns kommen können. Daher werden wir die Produktion digital zeigen. Der Stream macht die Ruhrfestspiele zugänglich für eine weltweite Szene, die ansonsten nicht alle nach Recklinghausen kommen würden. Es ist zum allerersten Mal überhaupt möglich, ein weltweites Publikum zu erreichen. Denn wir haben die Produktion, wir haben die Technik, und wir haben ein Publikum, das sich auf diese Form einlässt. Das hat Corona geschafft.

Aber ein Stream ist nicht dasselbe wie ein Theaterbesuch.

Natürlich nicht. Aber wenn es nicht anders geht, ist es eine Möglichkeit, die künstlerische Arbeit mehr Menschen zugänglich zu machen. Nicht wenige Theater machen gerade die Erfahrung, dass viele Menschen auch bereit sind, für Streamings zu zahlen.

Also auch ein ökonomischer Gewinn für die Künstlerinnen und Künstler?

Auch. Aber es ist nicht unser vorrangiges Interesse. Wir müssen wieder sichtbar und zugänglich sein. Kunst muss stattfinden, sonst gibt es sie nicht.

Wann wird Recklinghausen wieder der zentrale Ort des Festivals sein?

Ich gehe davon aus, dass wir schon dieses Jahr wieder alle vor Ort zusammenkommen werden. Die Politik entscheidet. Aber wir sind darauf vorbereitet. Wir haben ein 25-seitiges Hygienekonzept, wir sind ein sicherer Ort. Es wird eine eingeschränkte Begegnung sein. Aber wir brauchen Begegnung live vor Ort in Recklinghausen.

Zum 75. Mal Kunst gegen Kohle

Die Ruhrfestspiele finden in diesem Jahr zum 75. Mal statt. Ihren Anfang nahmen sie nach dem Krieg. Hamburger Schauspielerinnen und Schauspieler bedankten sich damals mit einem Auftritt in Recklinghausen für die Kohle, die die Bergleute der Zeche Ludwig ihnen im kalten Winter 1946/47 illegal auf ihre Lkw geladen hatten. Gemeinsam mit der Stadt Recklinghausen rief der Deutsche Gewerkschaftsbund die jährlichen Ruhrfestspiele ins Leben.

Auf dem Programm der diesjährigen Festspiele vom 1. Mai bis 20. Juni stehen unter anderem Klassiker wie die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht oder Don Quichote und Artisten des modernen Zirkus aus Schweden, Großbritannien und der Slowakei.

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