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Sitzen ohne Stuhl: Der Flugzeugbauer Airbus testet und entwickelt verschiedene Typen von Arm- und Bein-Exoskeletten. Magazin Mitbestimmung

Von JOACHIM F. TORNAU: Wearables: Neue Einheit von Mensch und Maschine

Ausgabe 10/2018

Thema Ob Medizin, Militär oder Industrie – alle Welt forscht an technischen Hilfsmitteln, die am Körper getragen werden. Exoskelette, Cyberbrillen – was in Firmen an sogenannten Wearables ausprobiert wird, birgt für Beschäftigte Chancen und Risiken zugleich. Worauf müssen Betriebsräte achten?

Von JOACHIM F. TORNAU

Cyberbrillen, die uns zeigen, was wir als Nächstes zu tun haben. Arbeitshandschuhe, die sich brummend beschweren, wenn ein falscher Handgriff droht. Datenchips in der Arbeitskleidung, die beim Betreten der Werkshalle dafür sorgen, dass sich der Arbeitsplatz individuell einstellt. Intelligente Arm- oder Beinschienen, die unsere Muskelkraft ins Übermenschliche steigern. Glaubt man den Zukunftsszenarien, die von den Marketingabteilungen der Digitalisierungsindustrie verbreitet werden, dann muss man sich den Fabrikarbeiter der Zukunft als eine Art Cyborg vorstellen, als Mischwesen aus Mensch und Maschine.

Die Zauberformel heißt: Wearable Computing. Etwas prosaischer lässt sich das als „tragbare Datenverarbeitung“ übersetzen und bezeichnet Computertechnik, die am Körper getragen wird und dank Sensoren auf Körperfunktionen und Verhalten des Trägers reagieren kann. Was für viele Menschen in Form von Fitnessarmbändern oder Virtual-Reality-Brillen fürs Gaming bereits zum privaten Alltag gehört, hat mittlerweile auch Einzug in die Werkshallen gehalten. Aber welche Rolle spielen Wearables in der Arbeitswelt tatsächlich? Welche Chancen und Risiken stecken in den neuen Technologien? Und wie gehen Betriebsräte damit um?

Die meisten Firmen sind in der Ausprobierphase

Marc Schietinger betreut in der Hans-Böckler-Stiftung den Forschungsverbund „Digitalisierung im Betrieb“, der in verschiedenen Projekten die Realität hinter dem allgegenwärtigen Schlagwort Industrie 4.0 ausleuchtet. „Wearables sind noch eher randständig“, sagt er. „Mein Eindruck ist, dass darüber mehr geredet wird, als es tatsächlich zum Einsatz kommt.“ Zahlen zur Verbreitung gibt es keine, doch Schietingers Wahrnehmung wird von den Gewerkschaften geteilt.

Auch Martin Krzywdzinski, Arbeitssoziologe am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), sieht bislang keine Revolution der Wearables in den Unternehmen. „Es ist noch keine in der Breite etablierte Technologie“, bilanziert der Wissenschaftler, der sich in einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Projekt mit der Nutzung von Datenbrillen und Co. in der Arbeitswelt auseinandersetzt. „Es geht noch sehr stark ums Ausprobieren.“

Nicht selten, sagt Krzywdzinski, sei dabei nach einem Pilotversuch gleich wieder Schluss – zum Beispiel, weil sich in der praktischen Anwendung ergonomische Probleme offenbarten. So sei es vorgekommen, dass Datenbrillen etwa das Sichtfeld einschränkten oder schlicht zu schwer waren. „Solche ganz banalen Fragen verhindern in erheblichem Maße eine stärkere Verbreitung dieser Technologie“, erklärt der Wissenschaftler. „Außerdem sind noch nicht überall die Effizienzgewinne groß genug, damit sich die Investition in die Technik am Ende lohnt.“ Und manchmal erweist sich eine weniger spektaku­läre Lösung auch schlicht als die bessere.

So wollte der Logistikdienstleister Schnellecke an seinem Standort im sächsischen Glauchau, der das VW-Werk in Zwickau in Echtzeit mit Autoteilen beliefert, eigentlich die papierenen Packlisten in der Kommissionierung durch Datenbrillen ersetzen. Das klang nach einer guten Idee: Die Beschäftigten mussten die benötigten Teile nicht mehr vom Kommissionierzettel ablesen, sondern bekamen sie von der Brille angezeigt. Das sollte die Zahl der Fehlgriffe verringern und die bis dahin nötige doppelte Kontrolle ersparen – eine echte Arbeitserleichterung.

Beteiligung macht den Unterschied

„Ohne Betriebsratsbeteiligung wäre das vom Arbeitgeber wohl einfach so eingeführt worden“, berichtet Betriebsrat Jörg Richter. Die Arbeitnehmervertretung aber bestand auf einer mehrwöchigen Testphase, in der die Kollegen per Fragebogen um ihre Meinung zum Trage- und Bedienkomfort gebeten wurden. Das Ergebnis: Bei mehr als der Hälfte der Befragten fielen die Brillen durch. Deshalb gibt es stattdessen jetzt Tablets an den Kommissionierwagen, die via Blue­tooth mit Scannern verbunden sind. Das System leiste dasselbe wie die Datenbrillen, treffe aber auf deutlich mehr Akzeptanz, sagt Betriebsrat Richter. „Für die Beschäftigten bedeutet es eine Belastungsminderung und für das Unternehmen eine Produktivitätssteigerung.“

Detlef Gerst, Leiter des Ressorts „Zukunft der Arbeit“ beim Vorstand der IG Metall, empfiehlt die frühzeitige Einbindung der Beschäftigten als Königsweg. Wer zu wirklich gebrauchstauglichen Assistenzsystemen kommen wolle, sollte erst einmal diejenigen fragen, die am besten wissen, wo denn im Arbeitsalltag die Probleme liegen, welche Informationen oder Vernetzungen fehlen – und dann nach der geeignetsten Lösung suchen. „Die Regel ist das in den Betrieben aber nicht“, beklagt Gerst. „Meist sind die Veränderungen technikgetrieben.“ Die Beteiligung müsse man dann „zäh erringen“.

Wobei Beteiligung keineswegs mit Blockade zu verwechseln ist. „Wir sind da nicht die Verweigerer“, betont Karl-Heinz Brandl, Bereichsleiter Innovation und Gute Arbeit bei ver.di. Wearables können je nach Einsatzgebiet und Rahmenbedingungen durchaus Vorteile für die Beschäftigten bringen.

Die heißen Themen sind Datenschutz und Gesundheit

Wer eine Datenbrille trägt, hat die Hände frei und muss nicht mehr – ergonomisch unschön – auf einen externen Bildschirm starren. Vormals rein akustische Informationen oder Warnsignale können über die Brille sichtbar gemacht und damit Barrieren für hörgeschädigte Arbeitnehmer beseitigt werden. Körperlich anstrengende Tätigkeiten wie das Über-Kopf-Arbeiten in der Montage können durch tragbare Roboterunterstützung, sogenannte Exoskelette, erleichtert werden. Eine Chance auch für die Gestaltung alternsgerechter Arbeitsplätze.

Aber die schöne neue Arbeitswelt hat eben auch Nachteile. Wie bei jeder Digitaltechnologie fallen bei Wearables Daten an, die zur Überwachung der Arbeitnehmer missbraucht werden können. Wozu das führen kann, demonstrierte schon vor einigen Jahren der Internethändler Amazon, als er in seinen deutschen Versandzentren die Daten von Handscannern auslas und Beschäftigte bereits bei wenigen Minuten der „Inaktivität“ zur Rede stellte. „Das zeigt, was möglich ist, wenn vor der Einführung neuer Technologien keine Betriebsvereinbarung abgeschlossen wird, die den Datenschutz regelt und jede Verhaltens- und Leistungskontrolle ausschließt“, sagt Brandl.

Noch weitgehend ungeklärt ist dagegen, welchen zusätzlichen Gesundheitsbelastungen Arbeitnehmer durch Wearables ausgesetzt sein könnten – auch das ja ein Thema für den Betriebsrat. Der Kontraktlogistiker Fiege will an seinem Standort in Worms künftig jeden der rund 100 Kommissionierer dauerhaft und ausschließlich mit einer Datenbrille arbeiten lassen. Als der Einsatz Anfang 2017 als Pilotprojekt begann, war die Euphorie bei den Beschäftigten groß.Mittlerweile aber wächst die Skepsis. „Wir haben einige Beschwerden von Kollegen, die über Kopfschmerzen klagen“, sagt der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Umut Uygut. „Doch uns fehlen Informationen zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Datenbrillen, das macht es schwierig.“

Rolf Ellegast, stellvertretender Direktor des Instituts für Arbeitsschutz (IFA) der gesetzlichen Unfallversicherung, bestätigt das. „Die Forschung steht noch am Anfang“, sagt er. „Es gibt zwar Erfahrungen – aber noch kann niemand sicher sagen, ob es beispielsweise ein Problem ist, dass der Prozessor so nah am Kopf ist. Oder ab welcher Tragedauer die Sehschärfe beeinträchtigt werden kann.“ Datenbrillen könnten einerseits zwar physisch entlasten, weil alle Informationen bei normaler Kopfhaltung im Blickfeld sind, andererseits jedoch auch neue Zwangshaltungen erzeugen. „Man muss das immer kontext- und tätigkeitsbezogen bewerten“, meint der Arbeitsschutzexperte. „So macht es vielleicht keinen Sinn, acht Stunden lang ununterbrochen eine Datenbrille zu tragen, aber möglicherweise bei bestimmten Aufgaben.“ Möglicherweise. Vielleicht.

Bei den Exoskeletten ist man nicht viel schlauer. Welche Wirkung haben sie langfristig auf den menschlichen Körper? Schwächen sie vielleicht die Muskulatur? Und kommt ein Arbeiter, der einen sperrigen und bis zu zehn Kilogramm schweren Roboter mit sich herumträgt, im Notfall eigentlich noch schnell genug aus einer brennenden Werkshalle? Die Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik lässt in zwei gerade gestarteten Forschungsprojekten nach Antworten auf die vielen offenen Fragen beim Wearables-Einsatz suchen. Am Ende sollen Handlungshilfen für die betriebliche Gefährdungsbeurteilung stehen. Aber bis dahin werden wohl noch mehrere Jahre ins Land gehen.

Die Logistikbranche ist der Vorreiter

Bislang ist Wearable Computing in Deutschland vor allem in Logistikunternehmen verbreitet, die wie Fiege in Worms auf „Pick by vision“ setzen, wie sich das Kommissionieren per Datenbrille im Sprech der Entwickler nennt. Doch experimentiert wird auch in anderen Branchen. Der Reifenhersteller Continental möchte in seinem Werk im hessischen Korbach Virtual-Reality-Brillen zur Qualifizierung verwenden: Die Beschäftigten sollen damit neue Prozesse und Maschinen kennenlernen und virtuell ausprobieren können. Der Betriebsrat trägt das mit. „Wir finden es richtig, Probierräume zu schaffen“, erklärt Betriebsratsvorsitzender Jörg Schönfelder. „Sonst testet das Unternehmen neue Technik und neue Verfahren in ausländischen Standorten, ohne Einfluss der Mitbestimmung.“

Noch einige Nummern größer sind die Ambitionen bei Airbus. Unter dem programmatischen Projektnamen „Factory of the Future“ erprobt der Flugzeugbauer in einzelnen Produktionsbereichen seiner vier deutschen Standorte sowie im „Zentrum für angewandte Luftfahrtforschung“, das das Unternehmen gemeinsam mit öffentlichen und privaten Partnern neben seinem Werk in Hamburg betreibt, den Einsatz von Industrie-4.0-Technologien. Darunter sind auch Datenbrillen, die den Montagearbeitern mittels dreidimensionaler Projektionen anzeigen, wo sie an den Verstrebungen eines Flugzeugrumpfs die Halter für Kabelbündel anbringen sollen. Und es werden Exoskelette getestet, die auch ohne Stuhl ein Ausruhen der Beine ermöglichen sollen.

Die Spielregeln für all diese Erprobungen sind seit anderthalb Jahren in einer umfassenden Gesamtbetriebsvereinbarung festgelegt, die mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung entwickelt wurde. „Ich kenne nichts Vergleichbares in Deutschland“, sagt Gesamtbetriebsratsvorsitzender Jan-Marcus Hinz nicht ohne Stolz. Unternehmen und Arbeitnehmervertreter haben sich zu enger Zusammenarbeit und Abstimmung verpflichtet, zu Transparenz und Kommunikation. Für jedes Teilprojekt muss ein „Steckbrief“ erstellt werden, der Auskunft gibt über Ziele, Kosten und verwendete Technologien, aber auch über beschäftigungs- und datenschutzrelevante Aspekte. Außerdem wurde eine arbeitswissenschaftliche Begleitung durch die TU Dortmund vereinbart.

Und wenn Technik irgendwann vom Testobjekt zum Alltagswerkzeug werden sollte, dann greift eine entscheidende Klausel: „Wir waren uns einig, dass der erreichte Produktivitätsfortschritt nicht nur dem Unternehmen, sondern in gleichem Maße auch den Beschäftigten zugute kommen soll“, sagt Hinz. Sprich: zukunftsorientierte Gestaltung der Arbeitsplätze, Qualifizierung, Beschäftigungssicherung.

Denn wenn eine Cyberbrille, ein intelligenter Handschuh oder ein aktives Exoskelett jeden Handgriff vorgeben, braucht es für diese Tätigkeiten keine Facharbeiter mehr. Es droht die Abwertung qualifizierter Arbeit. Neben dem Daten- und Gesundheitsschutz ist das die größte Herausforderung, der sich Betriebsräte durch die Einführung von Wearables ausgesetzt sehen.

Aufmacherfoto: BMW Group/Fred Rollison

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