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Magazin Mitbestimmung

Organizig: Vorteil: Beteiligung

Ausgabe 12/2013

Parteien, Kirchen – viele politische Akteure setzen heute auf eine Beteiligungstrategie. Dabei könnten die Gewerkschaften ihren direkten Kontakt zur Lebenswelt der Beschäftigten noch stärker ausspielen. Von der Politikwissenschaftlerin Britta Rehder

Nach Angaben des DGB taten es im Jahr 2011 täglich 864 Personen in Deutschland: Sie wurden Mitglied in einer Gewerkschaft. Der Mitgliederschwund scheint abzuebben. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die Gewerkschaft der Polizei und die IG Metall verbuchten sogar ein Mitgliederplus. Gerade auch bei jungen Leuten unter 27 Jahren zeichnet sich eine positive Entwicklung ab. Es scheint für die Gewerkschaften also lohnend, intensiv um neue Mitglieder zu werben. Was sollten sie auch sonst tun? Eine Aktivstrategie zu haben ist allemal besser, als keine zu haben und stattdessen in bürokratischer Organisationsstarre auf sein Schicksal zu warten. Allein dadurch schon rechtfertigt sich die Debatte um das Für und Wider des Organizing. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich auch, über die Perspektiven der Mitgliederrekrutierung und -mobilisierung in stürmischen Zeiten nachzudenken. Wie so oft gibt es dabei Licht und Schatten. Dazu hier nun drei Thesen zur Diskussion.

1. Die derzeit in vielen westlichen Industrienationen zu beobachtende Sparpolitik kann für die Gewerkschaften organisationspolitisch eine Ressource sein, sofern es ihnen gelingt, politische Apathie in Mobilisierung umzulenken.

Im Zuge von nationaler und europäischer Austeritätspolitik wird auf nicht absehbare Zeit der finanzielle Handlungsspielraum des Staats weiter beschränkt werden – und zwar auf allen Ebenen. Mit der Austerität als fiskalpolitischem Regime wird derzeit in vielen westlichen Industrienationen die Logik des politischen Handelns darauf ausgerichtet, eine strikte staatliche Sparpolitik durchzusetzen, einen ausgeglichenen Staatshaushalt zu erzielen oder zumindest in deutlichem Umfang Schulden abzubauen. Beschlossen wurde dies in Deutschland 2009 mit der Schuldenbremse, die Bund und Ländern verbindliche Vorgaben zur Reduzierung des Haushaltsdefizits macht. Auch auf europäischer Ebene regiert das Austeritätsdenken, wenn man sich die Sparauflagen vor Augen hält, die die EU-Kommission den Krisenländern Südeuropas auferlegt.

Was die Folgen dieser Sparpolitik betrifft, stehen wir noch ganz am Anfang eines Prozesses, von dem mehr oder weniger der gesamte öffentliche Sektor betroffen sein wird: die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst, der Bereich öffentlicher Investitionen sowie die wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme. Alle Bürgerinnen und Bürger spüren es, wenn Brücken wegen Einsturzgefahr gesperrt, Museen geschlossen oder die Öffnungszeiten von Behörden verkürzt werden. Dessen ungeachtet gilt jedoch: Die Folgen abnehmender staatlicher Handlungsfähigkeit werden in der Gesellschaft asymmetrisch verteilt sein. Diejenigen, die den Staat am meisten brauchen, weil er zum Beispiel ihre Niedriglöhne aufstockt, werden ihn auch am schmerzvollsten vermissen. Am Beispiel des US-amerikanischen „Government Shutdown“ ließ sich dies in zugespitzter Form beobachten. Skurrilerweise berichteten die deutschen Medien vor allem darüber, dass Nationalparks geschlossen werden und Lady Liberty das Licht ausmacht. Dramatischer hingegen war, dass Gehälter nicht ausgezahlt und Lebensmittelmarken verspätet verteilt wurden.

So zynisch es klingen mag: Für alle gewerkschaftlichen Organisierungsbemühungen können die Austeritätspolitik und ihre asymmetrischen Verteilungseffekte eine Ressource sein, weil sie einen Mobilisierungsschub und neue politische Koalitionen mit anderen gesellschaftlichen Gruppen ermöglichen. In einigen südeuropäischen Krisenländern findet dies ja statt. Gleichwohl gilt: Politische Mobilisierung ist kein selbstverständliches Resultat der Krise. Denkbar ist auch die Zunahme politischer Apathie. Dies ist in den USA seit Langem zu beobachten, und zwar bis weit in die Mittelschicht hinein. Auch Deutschland kann davon ein Lied singen. Die Wahlbeteiligung ist hierzulande tendenziell rückläufig. An dieser Grundtendenz ändert sich auch dadurch nichts, dass sie bei der jüngsten Bundestagwahl tendenziell höher lag als zuvor. Und viel wichtiger noch: Die Nichtwähler bzw. die Nichtwählerinnen verteilen sich nicht gleichmäßig über alle gesellschaftlichen Gruppen und Schichten. Vielmehr konzentrieren sie sich am ärmeren sozialen Rand. Die Selbstinszenierung einiger Intellektueller vor der Bundestagswahl als wahlmüde hat zwar eine gesellschaftliche Debatte entfacht; repräsentativ für das Phänomen des Nichtwählens sind die Herren Sloterdijk oder Precht hingegen nicht.

Es stellt sich die Frage, ob, unter welchen Bedingungen und mit welchen Instrumenten die Gewerkschaften drohende politische Apathie verhindern und in soziale Mobilisierung umlenken können. Diese Frage bereitet auch den politischen Parteien links der Mitte Kopfzerbrechen. Trotz der Erfahrungen aus der Finanzkrise und der Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt, die zuletzt nicht einmal mehr vom „mitfühlenden Liberalismus“ geleugnet wurden, dümpelt die Sozialdemokratie regelmäßig bei 20 bis 25 Prozent herum. Und die Partei „Die Linke“ zelebriert sich nach der Bundestagswahl zwar lautstark als drittgrößte Fraktion. Ihre Stärke resultiert allerdings vor allem aus der Schwäche der Grünen und der Nahtoderfahrung der FDP. Die Gewerkschaften stehen also nicht allein vor dieser Herausforderung, kleiner wird sie dadurch allerdings nicht.

2. Auch viele andere politische Akteure setzen heute auf eine Beteiligungsstrategie. Die Gewerkschaften verfügen über den großen Vorteil, dass sie durch ihre betrieb­liche Verankerung einen direkten Kontakt zur Lebenswelt der Beschäftigten haben, den viele poli­tische Parteien nicht mehr herstellen können.

Die Gewerkschaften, die von der Partizipationsstrategie Gebrauch machen, schwimmen auf einer Beteiligungswelle mit, die heute an vielen Orten des politischen Systems eine wachsende Rolle spielt: Die Verwaltungen lassen Bürgerhaushalte aufstellen und darüber abstimmen; im Deutschen Bundestag hat die erste Enquetekommission mit Online-Bürgerbeteiligung gearbeitet; die Zahl der Volksentscheide auf lokaler und föderaler Ebene wächst rasant; die Parteien befragen ihre Mitglieder zu ihrem Spitzenpersonal und die SPD jetzt auch zum Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU.

„Mitschwimmen“ ist dabei positiv besetzt: Es ist besser, auf einer Welle mitzuschwimmen und sie dadurch zu gestalten, als sie zu verschlafen und an sich vorbeirauschen zu lassen. Gegenüber den politischen Parteien haben die Gewerkschaften einen entscheidenden Vorteil: Über die Betriebsräte haben sie in vielen Bereichen der Wirtschaft (noch) eine relativ große Nähe zu den Betrieben und damit zu einer zentralen Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger. Gerade eine beteiligungsorientierte Organizing-Strategie kann und muss mit diesem Pfund wuchern. Die Niedriglöhnerin trifft in ihrem Leben wahrscheinlich eher einen Gewerkschafts- als einen Parteifunktionär. So sollte es bei einem beteiligungsorientierten Arbeitnehmerverband jedenfalls sein.

Der Vorteil der Gewerkschaften liegt darin, dass sie über eine betriebsnahe Ausgestaltung der Beteiligungsorientierung potenziell auch solche Bevölkerungsgruppen erreichen, die sich ansonsten eher selten an direktdemokratischen und partizipativen Entscheidungsverfahren beteiligen, also z.B. die erwähnte Niedriglöhnerin. Denn üblicherweise gelten auch hier die gleichen Asymmetrien wie beim Wählen. Wer nicht wählt, liest wahrscheinlich nicht nur nicht Peter Sloterdijk, sondern er oder sie geht wahrscheinlich auch nicht zum Volksentscheid und organisiert sich erst recht nicht in einer Bürgerinitiative. Hier könnten die Gewerkschaften über echte und ernst gemeinte Beteiligungsverfahren jenseits der Mitgliederrekrutierung einen wichtigen Beitrag zur Integration politikabstinenter Bürgerinnen und Bürger leisten.

Gleichwohl gilt auch: Beteiligungsversprechen werden ganz schnell enttäuscht. Und es ist ja kein Zufall, dass die Bürgerbeteiligung ausgerechnet in den Zeiten gefördert wird, in denen es vor allem darum geht, Mängel zu verwalten und über finanzielle Kürzungsmaßnahmen zu entscheiden. Da stellt sich schon die Frage, ob nach mehr Beteiligung gerufen wird, weil und wenn die Organisationsspitzen ihre internen Konflikte und Legitimationskrisen nicht mehr aushalten können und wollen. Dieses Motiv ist keineswegs illegitim, im Gegenteil. Gerade, wenn die Entscheidungen besonders wehtun, kann Partizipation als Legitimationsgrundlage unverzichtbar sein. Aber am Ende wird auch etwas dabei herumkommen müssen. Wenn Beteiligung immer nur bedeutet, zwischen Pest und Cholera auszuwählen, und wenn Mobilisierung immer nur bedeutet, vergeblich gegen extern gesetzte Strukturen anzurennen, erschöpft sich diese Ressource schnell. Auch das kann man in Südeuropa derzeit beobachten.

3. Jede Beteiligungsstrategie wird damit umgehen müssen, dass Solidar­beziehungen kleinräumiger werden. Im Zuge dessen können die auf Par­tizipation angelegten Revitalisierungsbemühungen auch beinhalten, dass antieuropäische und rechts­populis­tische Stimmen lauter werden.

Beteiligungsorientierte Strategien funktionieren am besten, wenn sie kleinteilig organisiert sind: in der Kommune, in der lokalen Protestinitiative, am Produktionsstandort. Auch die ökonomische Theorie geht davon aus, dass kollektives Handeln in kleinen Gruppen leichter ist als in großen Gruppen. Jeder sieht die unmittelbaren Vor- und Nachteile. Außerdem diszipliniert der Mechanismus der sozialen Kontrolle, Trittbrettfahrer werden leichter sanktioniert. Die Vorteile der kleinen Gruppe liegen auch darin, dass komplizierte Beratungs- und Abstimmungsverfahren effizient organisiert werden können. Die Mitgliedschaftslogik einer Beteiligungsgewerkschaft entwickelt dadurch eine gewisse Tendenz zur Kleinräumigkeit. Das Spannungsfeld aus lokaler (betrieblicher) und globaler (überbetrieblicher) Rationalität war für die Gewerkschaften immer schon ein Problem. Dieses wird indessen nicht kleiner, wenn die Solidarbeziehungen enger und die Herausforderungen größer werden. Wie soll eine beteiligungsorientierte Gewerkschaft z.B. auf die Krise Europas reagieren? Die deutschen Arbeitnehmerverbände waren immer ausgesprochen integrationsfreundlich. Ob die Hoffnungen auf ein soziales Europa nun als realistisch betrachtet werden können oder nicht, ist an dieser Stelle unerheblich. An vielen Orten Europas erleben wir indessen antieuropäische, nationalistische, separatistische und rechtspopulistische Strömungen. Auch diese machen vor Deutschland nicht halt, wenn „wir mal wieder für die Griechen bezahlen“ sollen. Der Erfolg der neu gegründeten Alternative für Deutschland (AfD) spricht Bände und hat seinen Zenit wahrscheinlich noch nicht erreicht. Eine beteiligungsorientierte Gewerkschaft wird wohl damit rechnen müssen, dass im Zuge ihrer Revitalisierungsbemühungen auch solche Stimmen lauter werden – ob in den Betrieben oder auf der Straße. Und sie wird einen Weg finden müssen, diese Stimmen zu kanalisieren. Aber vielleicht ist auch dafür der partizipative Weg der bessere Weg.

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