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Magazin Mitbestimmung

Rede: Von der Freundschaft

Ausgabe 12/2015

Vom mondänen Bloomsbury zum gewerkschaftsnahen Hattinger Kreis. Freundschaft ist ein eigener Kosmos, der eine Bindungskraft entfaltet und Kräfte freisetzt, die alle Beteiligten bereichert und ihr psychisches Wohlergehen belebt. Ohne Freundschaften kein „gutes Leben“. Von Walther Müller-Jentsch

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Wenn ich hier einige Gedanken über das Phänomen der Freundschaft äußern darf, dann in dem Bewusstsein, dass ich mit allen der hier Versammelten in einer freundschaftlichen oder kollegialen Beziehung stehe. 

Aber jeder weiß, dass Freundschaft nur metaphorisch – wie bei Schiller –  „die ganze Welt“ umfassen kann. Ihren wahren Nährboden findet die Freundschaft in kleineren Kreisen, sie lebt und gedeiht im Umkreis persönlicher Begegnungen und Beziehungen, gemeinsamer Erfahrungen und Unternehmungen. Wobei die Freundschaft im brieflichen Verkehr oft ihre beredtsten und ausdrucksstärksten Bekundungen findet. 

Was wäre die Geistes- und Literaturgeschichte ohne die zahlreich hinterlassenen Freundschaftsbriefe! 

Was aber macht Freundschaft aus? Kann die Psychoanalyse, die uns so unendlich Tiefes über die Liebe sagen kann, auch unsere Neugier über das gleichsam benachbarte Phänomen der Freundschaft befriedigen?   

Zunächst erfahren wir von ihr, dass Freundschaft eine Objektbeziehung ist, von der Art der Identifizierung. Sie wird bestimmt durch zielabgelenkte und zielgehemmte Triebregungen, zumeist zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern. Sie entsteht „auf der Grundlage einer nur in geringem Maße beeinfluss- und steuerbaren Sympathie und dem Gefühl der Vertraulichkeit“ (Eichler 1999: 222). Sie ist eine besondere Form der Empathie, der Anteilnahme an der Person des anderen.

Soweit sich Freundschaft der Sprache der Liebe bedient, dann in einem entsexualisierten Kontext, wenngleich nicht selten latente homoerotische Motive die Freundschaftsbande festigen. Auch scheint uns Heutigen, dass im Zeitalter der Empfindsamkeit Liebe und Freundschaft häufig miteinander verquickt waren. Nicht nur die Anreden – „liebster“, gar „allerliebster Freund“ – , auch die vielen vergossenen Tränen und ausgetauschten Küsse mit dem an den Busen gedrückten Freund sowie die emotional aufgeladenen Freundschaftsbriefe, die oft Liebesbriefen ähneln, zeugen von einem wahren Freundschaftskult, der das 18. Jahrhundert als ein „Saeculum der Freundschaft“ erscheinen lässt.  

Freundschaftsbande werden – anders als Familienbande, die uns durch die Zufälle der Geburt fesseln – freiwillig und mit reziproker Wertschätzung geknüpft. Und dies vornehmlich in der Adoleszenz. Die Gelegenheiten dazu bieten jene Orte, an denen Jugendliche in großer Zahl zusammentreffen: in der Schule und Universität, im Sportklub und in Jugendgruppen oder beim Militär. Für Jugendliche erfüllt die Freundschaft in Peergruppen stabilisierende Funktionen. Sie erleichtert die Ablösung von den Eltern, trägt zur Identitätsbildung bei und bietet emotionale Geborgenheit.

Indes, Freundschaft ist ein Langzeitprojekt, sie überdauert häufig die Adoleszenz. Sie dauert länger als die Liebe und endet häufig erst mit dem Tod. Sie ist Beziehungsarbeit im besten Sinne, bedarf der Hege und Pflege auf beiden Seiten. „Fremdgehen“ gibt es in der Freundschaft nicht, wohl aber den Freundschaftsverrat. „Verrat trennt alle Bande“, heißt es bei Schiller; daher verjährt ein Treuebruch in der Freundschaft auch nicht. 

Von Georg Simmel stammt der Begriff der „differenzierten Freundschaft“, die er für die immer differenzierter werdenden Gesellschaften für typisch hält. Er besagt, dass in modernen Gesellschaften Freunde nicht mehr ihre ganze Persönlichkeit in die Freundschaft einbringen, wie es etwa Aristoteles für eine perfekte Freundschaft postulierte, sondern nur einen bestimmten Teil – was freilich nicht bedeutet, dass dieser Teil auf einem engen, zweckbestimmten Verhaltensausschnitt begrenzt bliebe. Nein, auch die differenzierte Freundschaft kommt – wie Simmel schreibt – aus dem „Zentrum der ganzen Persönlichkeit“ und führt „in dieselbe Gemütstiefe und zu derselben Opferwilligkeit“ wie im antiken Freundschaftsbegriff.      

Was in der Liebe, wenn es sich denn um Liebe im emphatischen Sinne handelt, schwierig ist, mehrere Personen zugleich zu lieben, ist in der Freundschaft gang und gäbe. Zwar gibt es den „Busenfreund“, aber häufiger blüht die Freundschaft in einer Runde, einem Freundeskreis auf. Sie beruht auf einer Fülle gemeinsamer Erfahrungen und bleibender Erinnerungen, einem wechselseitigen Vertrauen und auf der Anteilnahme und Achtung voreinander.

Während die Liebe uns in Fieberhitze versetzt, schreibt Montaigne in seinem Essay „Über die Freundschaft“, zeichnet sich die Freundschaft durch gemäßigte Wärme aus, ich zitiere: „die anhält und nicht verfliegt; durchgängig lieblich und sanft schmelzend, die nichts Brennendes und Stechendes bei sich führt“. Damit wären wir beim bekannten Sprichwort angelangt: „Freundschaft ist Liebe mit Verstand“.

Auf den ersten Blick genügen Freundschaften sich selbst, sie stellten gewissermaßen ein geschlossenes Kommunikationssystem dar. Aus der Beobachterperspektive lässt sich indessen fragen, was macht Freundschaft aus den Beteiligten und was hinterlässt der Freundeskreis als spezifische Lebensform der Um- und Nachwelt? Gibt es einen gesellschaftlichen „Mehrwert“, der den Binnenwert der Freundschaft übersteigt? 

Bei Aristoteles findet sich der Hinweis, dass Freundschaften zu den notwendigsten und schönsten Tugenden gehören. Sie sind ihm nicht nur Voraussetzungen eines gelungenen Lebens – „der Mensch, der glücklich sein soll, braucht wertvolle Freunde“ – , sie halten auch das Gemeinwesen, die Polis, zusammen“. Ein Gedanke, der von dem Soziologen Friedrich Tenbruck aufgegriffen wurde, der in der Freundschaft ein Mittel der sozialen Verstrebung erkennt, welche die einzelnen Gesellschaftsbereiche miteinander vernetzt.  

Ist von Freundschaft die Rede, sollten wir tunlichst zwischen zwei Formen unterscheiden  – zwischen Freundespaaren und Freundeskreisen.

Es gibt einige berühmte Freundespaare, die uns vornehmlich durch ihren Briefwechsel überliefert sind. Dazu zählen die Freundschaften zwischen Goethe und Schiller, Marx und Engels, Franz Kafka und Max Brod, Sigmund Freud und Wilhelm Fließ, zwischen Klee und Kandinsky, Horkheimer und Adorno. 

Doch halt … beim letzten Freundespaar drängen sich ein paar Fragen auf: Schließen wir nicht  aus der gemeinsamen Autorschaft an der „Dialektik der Aufklärung“ auf ein Freundespaar Horkheimer - Adorno? War die Beziehung Horkheimer – Pollock nicht die engere, war Pollock nicht der eigentliche Busenfreund Horkheimers? Aber ja.

Die Freundschaft zwischen Horkheimer und Pollock ging auf ihre Schülerzeit in Stuttgart zurück. Durch einen lebenslänglichen Freundschaftspakt, geschlossen in frühen Jahren, und engstes Zusammenleben in Wohn-Gemeinschaft und späterer Wohn-Nachbarschaft lebten sie Seite an Seite bis ans Lebensende. Während der Studienzeit bewohnten sie ein gemeinsames Haus in Kronberg/Ts.; im kalifornischen Exil – und nach der Rückkehr – im schweizerischen Montagnola/Tessin wohnten Sie Haus an Haus in unmittelbarer Nachbarschaft.

Adorno hingegen hatte zu Horkheimer immer ein – ja man ist versucht zu sagen – serviles Verhältnis. Kaum nachvollziehbar ist, dass beide während der gemeinsamen Arbeit an der „Dialektik der Aufklärung“ weiterhin am ‚Sie‘ festhielten. Freilich ist es das „Hamburger Sie‘‘. In der Briefanrede heißt es „lieber Max“ und „lieber Teddy“. Erst in den 1960er Jahren, als Adorno die Institutsleitung übernahm, gingen sie zum Du über.

Die erste Fassung der „Philosophischen Fragmente“, so der ursprüngliche Titel der DdA, enthielt die Widmung: „Friedrich Pollock zum 50. Geburtstag“. Pikant war dies deshalb, weil nach der ursprünglichen Planung Horkheimer und Adorno die philosophischen, Pollock und Felix Weil die ökonomischen Teile schreiben sollten, die aber nicht zustande kamen. 

Horkheimer schrieb 1942 in einem Brief an Felix Weil: „Sie (das geplante Buchvorhaben) muß mit historischem und ökonomischem Material bis zum Platzen gefüllt sein, sonst wirkt sie als Raisonnement.“ (Horkheimer 17: 275) Nun, die ökonomischen und historischen Teile, die in Horkheimers Verständnis die „prinzipielleren Partien“ sein sollten, wurden nie geschrieben, die „Dialektik der Aufklärung“ blieb somit das „Raisonnement“ Horkheimers und Adornos.

Auch bei der Künstlerfreundschaft zwischen Goethe und Schiller ist genauer hinzusehen. Sie waren Rivalen und Bundesgenossen, aber intime Freunde: wohl kaum. Im Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe finden sich zwar Wendungen wie „mein geliebter, mein verehrter Freund“ (Schiller an Goethe) und „liebster Freund“ (Goethe an Schiller), ohne dass sie in den über Tausend Briefen jemals zum Du übergingen.

Auch in seinen Aufzeichnungen schrieb Goethe nur „Schiller“ oder „Hofrat Schiller“. Erstaunlich an ihrem Briefwechsel. Nur die beiden ersten Briefe, die die Korrespondenz eröffnen, enthalten förmliche Anreden. Schiller an Goethe „Hochwohlgeborener Herr, Hochverehrender Geheimer Rat“.  Goethe an Schiller: „Ew. (= Euer) Wohlgeboren“. 

Alle weiteren Briefe gehen ohne förmliche Anrede, gleich in medias res. Selten ein eingefügtes „wertester Freund“, „bester Freund“, „mein Bester“. Auch die anfänglich von Schiller verwendete Schlussfloskel „Ihr gehorsamster Diener“ fällt schnell weg. Wenn überhaupt eine Schlussfloskel benutzt wird, ist es meistens ein „Leben Sie recht wohl“. Goethe wie Schiller waren mit jeweils anderen in intimerer Freundschaft verbunden. 

Goethes engster Freund war Karl Ludwig von Knebel. Im Briefwechsel mit ihm geht’s gleich zum Du über, so auch etwas später in der Korrespondenz mit  dem Komponisten Karl Friedrich Zelter. Schiller seinerseits fand im Körner-Kreis (dazu gleich mehr), seine Intimfreunde. In diesem Kreis galt das Du als selbstverständliche Anrede. 

Ich möchte an einigen – scheinbar willkürlich herausgegriffenen – Beispielen aufscheinen lassen, wie sich Freundschaft gestaltet, was sie für die Beteiligten bedeutet, wie sie ihre Umwelt beschenkt. Das erste Beispiel ist der Freundeskreis um den Schriftsteller und Juristen Christian Gottlieb Körner in Leipzig. Von ihm wurde Schiller vor seiner Weimarer Zeit finanziell unterstützt und eingeladen. 

Dem Freundeskreis gehörten neben Körner der Schriftsteller Ludwig Ferdinand Huber, der Maler Johann Christian Reinhart und der Verleger Göschen, sowie Körners Braut Minna und deren Schwester Dora, Hubers Verlobte, und andere an. Schiller verbrachte mit ihnen einen langen Sommer und den frühen Herbst des Jahres 1785.  Während der Sommermonate lebten und trafen sich die Freunde auf dem Lande, in dem nahe Leipzig gelegenen Dorf Gohlis. Schiller war mit Huber und den beiden Schwestern bereits Mitte Mai nach Gohlis gezogen, wo er in einem Bauernhaus eine Dachstube mit einer kleinen Schlafkammer bezog. Körner war noch beruflich in Dresden gebunden und kam nur besuchsweise nach Gohlis. 

Man traf sich zu weinseligen Geselligkeiten, bei denen Schiller die Freundschaft als „ein Elysium gelungenen Lebens“ erfuhr, wie Rüdiger Safranski in seiner Schiller-Biographie schreibt. In dieser Atmosphäre enthusiastischer Freundschaft verfasste Schiller auch seine „Ode an die Freude“. In ihr heißt es: 

„Wem der große Wurf gelungen, / Eines Freundes Freund zu sein. / Wer ein holdes Weib errungen, / Mische seinen Jubel ein! / Ja – wer auch nur eine Seele / Sein nennt auf dem Erdenrund.“

In einem Brief an Körner spricht Schiller von „heiliger Freundschaft“, der allein es vorbehalten sei, „uns groß und gut und glücklich zu machen. … Unsere künftig erreichte Vollkommenheit soll und darf auf keinem anderen Pfeiler als unserer Freundschaft ruhen.“ (3. Juli 1785)  Im Körner-Kreis herrschte, wie schon erwähnt, das Du als selbstverständliche Anrede vor. 

Freundschaften wie diese strahlen auch auf die Umwelt aus. Sie zeitigen Erträge auch für jene, die außerhalb der Freundeskreise stehen. In diesem Falle verdankt ihm die Nachwelt den „Don Carlos“, an dem Schiller in dieser Zeit schrieb und die unsterbliche „Ode an die Freude“, die bekanntlich die Textgrundlage der Europa-Hymne bildet.    

Mein zweites Bespiel ist die künstlerische Lebensgemeinschaft des Bloomsbury-Kreises, zu deren bekanntesten Personen Virginia Woolf und John Maynard Keynes gehörten. Der Kreis von englischen Künstlern und Wissenschaftlern bildete eine vernetzte und mobile Gemeinschaft, eine Mischung aus Freundeskreis, unkonventionellem Salon und libertärer Kommune. Er praktizierte die Freundschaft in lebensgemeinschaftlicher Gesellung, eine dem viktorianischen Normenkanon, Lebensstil und Geschmack zuwiderlaufende Art zu leben, zu denken und künstlerisch zu arbeiten.

Die Mitglieder der Gruppe lebten und liebten innerhalb eines nur scheinbaren lockeren Arrangements, tatsächlich aber in einem recht engmaschigen Netz von Beziehungen, das auch eine Reihe von Dreierbeziehungen zuließ. Während ihrer Treffen schuf die Gruppe den Rahmen für Diskussionen, gemeinsame Lektüre, Ausstellungen und private Veranstaltungen. Ihren Kern bildeten die beiden Schwestern Vanessa Bell, eine Malerin, und die jüngere Virginia Woolf, eine Schriftstellerin.

Die Gruppe traf sich regelmäßig in mehreren Häusern im Londoner Stadtteil Bloomsbury zu unkonventionellen Abendgesellschaften, um über Literatur und Philosophie zu debattieren. Sie fanden sich ab etwa zehn Uhr abends ein und blieben in anregender Konversation bis gegen zwei oder drei Uhr morgens. 

Gemeinsam besuchte und organisierte man Ausstellungen und behauptete sich in der Londoner Kunstszene. Auch gingen die Freunde gemeinsam auf Reisen, „nach Griechenland, in die Türkei, später immer wieder nach Spanien, Frankreich und auch … nach Deutschland“ (Frick-Gerke 2003: 10). Insbesondere den Frauen, denen die Universitäten verschlossen waren, boten die offenen Diskussionen im Freundeskreis anregende Erfahrungen. Virginia Woolf genoss den Ausbruch aus dem eingeengten Leben der viktorianischen Ära und fühlte sich hier verstanden (ebd.: 26, 118). Für Prüderie und Puritanismus gab es in der Bloomsbury-Gruppe keinen Platz; die Sexualität fand hier ihre verbale und praktische Befreiung; sah sie doch in der „individuellen Liebe“ und nicht in der „Institution der Ehe“ die Voraussetzung für intime Beziehungen (ebd.: 25)

Viele Mitglieder der Bloomsbury Gruppe hatten schon früh zwei Standorte, einen in der Stadt und einen auf dem Lande. Die Aktivitäten dieser Gruppe kritischer Intellektueller fielen in die Jahrzehnte von 1905 bis zum Zweiten Weltkrieg. Sie gehörten der oberen englischen Mittelschicht an und hätten „nicht im Traum an ein Dasein ohne Dienerschaft gedacht“ (Todd 2002: 104). Der „begüterte, intellektuelle Hintergrund war die Voraussetzung für ihre liberalen Ideen“ (Frick-Gerke 2003: 75), 

Beeinflusst waren sie vom Cambridger Philosophen George E. Moore, dessen “Principia Ethica“ lehrten, dass die Freuden zwischenmenschlicher Beziehungen und die Wertschätzung des Schönen in der  Kunst und Natur als die bei weitem größten Güter anzusehen seien. Die meisten hatten „eine progressive, wenn nicht revolutionäre Einstellung zu politischen, sittlichen, künstlerischen Problemen“ (Wiggershaus 1987: 25). Sexuelle Tabus waren ihnen fremd, praktizierte Homo- und Bisexualität eher die Regel. Aus pazifistischer Gesinnung lehnten sie den Wehrdienst im Ersten Weltkrieg ab. Aufgrund der pazifistischen Grundhaltung der Gruppe ließ sich selbst Maynard Keynes, der im Finanzministerium beschäftigt war, als Kriegsdienstverweigerer registrieren. Die Frauenbewegung fand besonders bei Virginia Woolf eine positive Resonanz und aktive Unterstützung. 

In einer kritischen Rückschau beschrieb Keynes das Lebensgefühl dieses Kreises als – ich zitiere - „Wasserläufer, die anmutig über der Oberfläche des Stromes gleiten, so schwerelos und rational wie Luft, ohne das geringste von den Strömungen und Wirbeln tief unter ihnen zu ahnen.“

Was der externe Beobachter an diesem Freundeskreis mit Begeisterung feststellen kann, ist die wohltuende Wirkung dieser Lebensform – sowohl nach innen wie nach außen: Sie bot den Beteiligten ein anregendes, befriedigendes Konvivium und wirkte als Katalysator in die Gesellschaft hinein. Stephen Spender bescheinigte dem Kreis, dass er den „konstruktivsten und kreativsten Einfluss auf den englischen Geschmack zwischen den beiden Kriegen hatte“ (zit. n. Frick-Gerke: 76). 

Eine Miniatur über Männerfreundschaft, mein drittes Beispiel, liefert uns Kurt Tucholsky mit der Skizze einer Wanderung zu dritt in seinem Prosastück „Das Wirtshaus im Spessart“. Das Männertrio – neben Tucholsky Jakopp (mit Doppel-P) und Karlchen – durchstreift 1927 Unterfranken und den Spessart. Auf den ersten Blick bietet uns der launisch geschriebene Text eine Männergesellschaft, die mit Wandern, Blödeln und Saufen ihre gemeinsame Zeit verbringt. Er ist jedoch zugleich ein verhaltenes Loblied auf die Freundschaft (verhalten, weil Tucholsky das Pathos überhaupt nicht liegt). Höhere Töne findet er hingegen für den fränkischen Wein: Bedauert er doch, „dass man einen Wein nicht streicheln kann“! 

Die beiden Wanderfreunde hatte Tucholsky bei der Feld-Polizei während der letzten Monate des Krieges kennengelernt und waren seine einzigen wirklichen persönlichen Freunde in seinem Leben. Sie übten völlig unterschiedliche Berufe aus, der eine war im Hamburger Wasserwerk, der andere im Polizeipräsidium tätig. Zwei Jahre später unternahm Tucholsky mit ihnen noch eine Moselreise von Trier über Bernkastel und Traben-Trabach nach Koblenz. Auch hier saufen sie sich „langsam den  Fluss hinab“, wie er dem Prosastück „Denkmal am deutschen Eck“ anvertraut (Hosfeld 214: 222).

Pure Freundschaft kennzeichnet die durch den Wein stimulierte Stimmung. „Wir freuen uns nur, dass wir beisammen sind“, heißt es einmal so en passant im „Wirtshaus im Spessart“. Aber Anwandlungen von Gefühlen werden „in einem kalten Guß bunter Schimpfwörter erstickt“. Anlässlich eines Besuchs von Karlchen in Schweden spricht Tucholsky in „Schloß Gripsholm“ von zwei Männern, auf die er sich unbedingt verlassen kann, auch wenn er sie nachts weckte, weil er nach Amerika reisen muss. Seinem unterkühltem Tonfall über das Glück der Freundschaft entschlüpft dabei das sentimentale Wort: „Freundschaft, das ist wie Heimat“. 

Auch dieser Freundschaft verdanken wir einen „Mehrwert“. Er besteht, schlicht gesagt, aus der reizvollen Geschichte, die uns ein aufgeräumter Tucholsky von seinem „Wirtshaus im Spessart“ hinterlassen hat. Und wer das Wirtshaus in der abgelegenen Lichtenau einmal besucht hat, wird unvermeidlich auch auf die dort ausgelegte Broschüre dieser Geschichte gestoßen sein.   

Nun mein letztes Beispiel. Hierbei handelt es sich um einen lockeren Freundeskreis von Gewerkschaftern und Wissenschaftlern, der sich nach seinem häufigsten Treffpunkt, dem Sitz der Bundesjugendschule des DGB, „Hattinger Kreis“ nannte. Zu ihren Gründungsmitgliedern gehörten Hinrich Oetjen, Reiner Hoffmann, Eberhard Schmidt und Ulrich Mückenberger. Viele Vertrauensdozenten der Hans-Böckler-Stiftung und Gewerkschafter kamen hinzu. Es gab ständige und sporadische Teilnehmer. 

Der Kreis hatte sich die Aufgabe gestellt, die traditionellen gewerkschaftlichen Politikmuster kritisch unter die Lupe zu nehmen und Alternativen zu erarbeiten, die den Anforderungen der Zeit entsprachen. Zukunftsfähig wollten seine Teilnehmer den DGB machen. 

Er sollte die eingetretene Individualisierung der Lebensbedingungen mit der Globalisierung der kapitalistischen Markt- und Produktionsbeziehungen in seiner Politik und Praxis zusammenzwingen. Die Stichworte waren: Flexibilisierung und individuelles Zeitmanagement, Krise des Normalarbeitsverhältnisses, Mitgliederbeteiligung, Organisationslernen, Organisationsentwicklung.

In zahleichen Workshops und Projekten wurden Gutachten und Papiere diskutiert und erarbeitet. Am Anfang stand das als Buch publizierte und viel diskutierte Gutachten  „Jenseits der Beschlusslage“. Workshops über Beteiligung der Mitglieder, Europäisierung und Modernisierung der Gewerkschaften schlossen sich an. 

Neben den gemeinsamen Projekten entstanden kleinere Zirkel, die spezielle und teilweise regional konzentrierte Projekte bearbeiteten. Über das umfangreiche Arbeitsprogramm haben Ulrich Mückenberger und Eberhard Schmidt andernorts detailliert Rechenschaft abgelegt. Mich interessiert hier, dass diese über 20jährige Projektarbeit in einem Netzwerk von Freundeskreisen und geselligen Zirkeln eingebettet war.  

Freundschaften und Geselligkeit bildeten das konstitutive Ferment dieses Kreises. Gemeinsame Wanderungen, kulturelle Unternehmungen, Saunabesuche, abendliche Feiern, Bildungsreisen befeuerten seine Kreativität. Selbst nachdem der Hattinger Kreis sein formales Ende gefunden hat, bestehen die Freundeskreise fort.

Auch hier wäre nach dem Mehrwert für die Gesellschaft zu fragen. Ich zögere nicht, diesem Kreis einen nicht unerheblichen Beitrag zur Modernisierung des DGB und seiner Gewerkschaften zuzuschreiben, wie nicht zuletzt in der Wahl eines prominenten Mitglieds des Kreises zum Ersten Vorsitzenden des DGB offensichtlich wurde. Ihr habt seine, unsere innovativen Ideen für die Zukunft gewerkschaftlicher Arbeit soeben vernommen.

Freundschaft, und damit komme ich zum Schluss, ist ein eigener Kosmos, der eine eigentümliche Bindungskraft entfaltet und Kräfte freisetzt, die alle Beteiligten bereichert und ihr psychisches Wohlergehen belebt. Ohne Freundschaften kein „gutes Leben“. Sie ist, das sei ohne Pathos gesagt, ein Geschenk und bleibt unersetzbar, wenn sie verlorengeht. Mit den Worten der amerikanischen Philosophin Marilyn Friedman ist Freundschaft „in unserer Kultur die unumstrittenste, beständigste und befriedigendste aller engen persönlichen Beziehungen“. 

Aber auch das Gemeinwesen wäre ohne Freundschaftsbeziehungen um Vieles ärmer. Die durch Freundschaft freigesetzten und entfalteten Talente kommen ihm zugute. Ohne Freundschaft blieben wir als Individuen bedauernswerte Monaden in einer kalten Welt.

Nicht anders als mit einem Wort dessen, von dem man es am wenigsten erwartet hätte, nämlich des großen Spötters Kurt Tucholsky will ich schließen:

„Freundschaft, das ist wie Heimat“. 

Walther Müller-Jentsch hielt die Rede auf der Hans-Böckler-Tagung „Konfliktpartnerschaft“,  am 20. 11. 2015 in Bochum.

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