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Magazin Mitbestimmung

: Vom Internet ins Stahlwerk

Ausgabe 03/2008

MITBESTIMMUNG Mit E-Learning und Betriebsbesichtigungen will die Hans-Böckler-Stiftung Schüler mit den Mechanismen der Interessenvertretung bekannt. Höhepunkt war der Besuch bei ArcelorMittal.

Von JÖRN BREIHOLZ, Journalist in Berlin

Draußen ist die Dämmerung noch nicht vorbei, und drinnen sind die Gesichter noch müde. Ein Dezembermorgen in der zwölften Klasse des Wirtschaftsgymnasiums H7 in der City Nord in Hamburg, Grundkurs Gemeinschaftskunde, das Thema: Mitbestimmung. Langsam trudeln die Schüler ein, der Geräuschpegel ist trotz der noch müden Gesichter bereits beachtlich. Erst als Uwe Leps den Schalter an der Wand drückt und damit die PCs hier im Computerraum freischaltet, hat er das ewig gleiche Gepose im Klassenraum gleich mit ausgeknipst.

Computer, Bildschirm, Internet - selbst die jungen Frauen, die eben noch mit ihren Fingernägeln beschäftigt waren, sind bald verstummt. Stattdessen wenden sie sich den Bildschirmen zu. Sie wissen: Wer mit dem PC nichts anfangen kann, braucht gar nicht erst ins Leben zu starten. Und am Bildschirm macht den 16- bis 25-Jährigen selbst ein Grundkurs in Gemeinschaftskunde Spaß, auch wenn er nicht zu den entscheidenden Scheinen auf dem Weg zum Abitur zählt.

Uwe Leps ist 55 Jahre alt und Geografie- und Gemeinschaftskundelehrer der Klasse. Jeans, Freizeithemd, Schnauzer, er ist schnell als 68er zu identifizieren. Ein Lehrer, der seinen Job als Auftrag versteht und auch abseits ausgetretener Pfade und nach mehr als zwei Jahrzehnten Berufserfahrung neue Wege zu gehen versucht. Sein Kollege Marko Golder ist es gewesen, der im Internet auf die von der Hans-Böckler-Stiftung entwickelten Unterrichtsmaterialien "Mitbestimmung im Zeichen der Globalisierung" gestoßen ist. Als langjährigem GEW-Mitglied sind Leps Gewerkschaftsthemen wichtig.

Also ließ er sich gern auf die Unterrichtseinheit ein. Nach einer Schulung gemeinsam mit weiteren Lehrern aus der Bundesrepublik haben die beiden Hamburger Gemeinschaftskundelehrer die Unterrichtseinheit im ersten Halbjahr des laufenden Schuljahres in zwei Parallelklassen unterrichtet. Neben dem virtuellen Schulraum, in dem die Schüler Materialien und Aufgaben finden, aber auch chatten können, stellt die Hans-Böckler-Stiftung den Klassen auch ein aufwändig produziertes Themenheft für die Sekundarstufe II mit Interviews, Hintergrundtexten und Rollenspielen in Klassenstärke zur Verfügung.

Entstanden ist die Idee für solche Schulprojekte auch, weil die Arbeitgeber längst entdeckt haben, dass sich Lehrer und Schüler für die Arbeitswelt interessieren und auch begeistern lassen. "Die Arbeitgeberverbände publizieren erstklassige Unterrichtsmaterialien. Es wäre nicht klug, ihnen das Feld alleine zu überlassen", sagt Herbert Petry, der in der Abteilung Studienförderung der Hans-Böckler-Stiftung für die Arbeitsbereiche Lehramt und Pädagogik zuständig ist und das Unterrichtsmaterial mit entwickelt hat. Dabei können sich die Arbeitgeberverbände vieler Themen bemächtigen. "Die Hans-Böckler-Stiftung muss sich im Rahmen ihrer Aufgabenstellung auf das Thema Mitbestimmung konzentrieren", sagt Petry.

ERFOLG BRAUCHT GUTE ARGUMENTE_ Über mehrere Wochen hinweg sollen die angehenden Abiturienten lernen, was Mitbestimmung überhaupt ist und wie sie funktioniert. Vermittelt wird das Thema am Beispiel einer der spektakulärsten Fusionen der jüngeren Geschichte: dem Zusammenschluss der beiden bis dato größten Stahlkonzerne der Welt - Mittal Steel aus Indien und der Arcelor S.A. aus Luxemburg - zu ArcelorMittal. Eine Giga-Veranstaltung auf einem der derzeit wichtigsten Märkte der Welt. Stahl findet sich fast überall, vom Messer bis zum Auto. 350 000 Mitarbeiter in 61 Werken hat der fusionierte Konzern heute bei einem Umsatz von über 70 Milliarden Euro pro Jahr.

Uwe Leps holt die benoteten Aufgaben der letzten Unterrichtseinheit heraus. Bei Sven Krisch (21), Tim Cramer (18) und Sven Schlicht (19) hat es zu einer Note im Dreierbereich gereicht, mehr nicht. Die drei haben sich für das Projekt als Team zusammengefunden und sitzen gemeinsam vor einem Bildschirm. Sie bearbeiten die nächste Aufgabe, die sie sich aus dem virtuellen Klassenzimmer von der Internetplattform heruntergeladen haben: "Die Position der anderen" heißt die Aufgabe für heute. Jedes Team soll sich dazu das Positionspapier eines anderen Teams herunterladen, das sich für eine andere Meinung entschieden hat, und es argumentativ auseinandernehmen.

Die drei Schüler haben sich gegen die Fusion entschieden und die Position des Betriebsrates von Arcelor in Bremen eingenommen. Nach kurzem Suchen finden sie das Positionspapier von Nadine (18), Susi (17) und Adilah (18), die gleich neben ihnen sitzen. Sie sind in die Position der Konzernspitze von Mittal Steel geschlüpft und haben sich somit die Drahtzieher der Fusion und letztendlichen Gewinner der Stahlfusion ausgesucht. Drei Jungs gegen drei Mädchen. Nach ersten einführenden Unterrichtseinheiten vollziehen die Schüler die Fusion nun in einem Rollenspiel nach. Ziel des Rollenspiels ist es auch, sich für eine Position zu entscheiden und zu lernen, eine schlüssige Argumentation zu entwickeln, die es durchzuhalten gilt.

Tim und die beiden Svens haben sichtlich Freude daran, gemeinsam einen Brief an die Konzernspitze des Angreifers Mittal Steel zu schreiben und die Fusion abzulehnen. Später, als der Pausengong ertönt, feilen sie immer noch an dem Brief. "Wir sind der Meinung, dass die Fusion nicht notwendig ist, da zwei gesunde Unternehmen mit sicheren Arbeitsplätzen und ausreichend Gewinnen vorhanden sind", heißt es da. Oder: "Des Weiteren stimmen wir nicht mit dem Punkt überein, dass durch eine Fusion ein höheres Produktionsvolumen erreicht wird, da dies nur erreicht werden kann, wenn die wenigen Arbeitnehmer, die dann noch vorhanden sind, mehr Stunden für den gleichen Lohn arbeiten."

INTERESSE FÜR ARBEITNEHMERFRAGEN_ Sven Krisch ist der älteste der drei und nimmt mit einem Zivildienstleistenden am Unterricht teil, der ihn als Rollstuhlfahrer durch die Schule begleitet. Er will später politische Wissenschaften studieren und in den Auswärtigen Dienst gehen. Der angehende Abiturient sagt, dass sich die Dinge in diesem Land in eine "ganz falsche Richtung" entwickeln würden. "Daher finde ich es wichtig, die Interessen der Arbeitnehmer zu wahren." Also hat er sich bei diesem Projekt auch für die Arbeitnehmerseite entschieden.

"Ich will Sprachrohr für die Arbeitnehmer sein", sagt er. Susi hingegen sieht die Angelegenheit nüchterner. Sie findet, dass es mehr Argumente für eine Fusion gibt. "Und am Ende wird es auch mehr Arbeitsplätze geben, weil der Konzern sich als größter Stahlproduzent noch besser durchsetzen kann", glaubt sie. Gemeinsam mit ihren beiden Mitstreiterinnen hat Susi bei der letzten Aufgabe, Argumente für die eigene Position zu suchen, wie gefordert zehn Argumente gefunden, auch wenn das letzte einfach nur "größere Erfolge" heißt. "Die drei Jungs haben es aber nur auf sieben Argumente gebracht", lacht sie, bevor es zur Pause klingelt.

AUS DEM PLANSPIEL WIRD REALITÄT_ Ein paar Wochen nach der Unterrichtsstunde fährt vor der Schule ein Bus ab: Klassenfahrt zu ArcelorMittal nach Bremen. Erst als von hinten laut "Halt!" gerufen worden ist, ist bald auch Uschi eingestiegen, die gleich danach schon wieder den mp3-Player auf den Ohren hat. Die Lehrer hatten die Idee, die Betriebsbesichtigung in das Programm einzubeziehen. Eigentlich, sagt Uwe Leps, wäre es aber klüger gewesen, die Werksbesichtigung an den Anfang der Unterrichtseinheit zu stellen: "Die Schüler sind dann natürlich motivierter."

Der erfahrene Lehrer weiß, wie stark er täglich mit den unzähligen Medienangeboten um die Aufmerksamkeit der Schüler konkurriert. "Trotzdem - auch E-Learning, bei dem die Schüler im Internet recherchieren können, ist in der Schule immer willkommen." In Bremen angekommen, nimmt sich der Betriebsratsvorsitzende Michael Breidbach Zeit für die Schüler. Per Powerpoint-Präsentation erklärt er ihnen zusammen mit dem Betriebsratsangestellten Daniel Tech, wie ArcelorMittal funktioniert.

Beispielsweise, dass hier zwar immer noch mehr als 3600 Mitarbeiter plus Fremdfirmen beschäftigt sind, aber in den vergangenen Jahren auch 1100 gehen mussten, über Altersteilzeit und Abfindungen. "Ursprünglich sollten 1700 entlassen werden", sagt Breidbach, "aber der Branche geht es derzeit einfach gut." Als es um die 25 freigestellten Betriebsratsmitglieder geht, will Tim Cramer, der aufgrund des Rollenspiels nun mit Breidbach praktisch sein Alter Ego vor sich hat, wissen, was denn das sei: "freigestellt"?

Sven Krisch, der Rollstuhlfahrer, ist einer der wenigen, die sich schon mehrere Firmen angeschaut haben. Arbeitskleidung anziehen, Helm und Schutzbrille - ab hier beginnt ein Bereich, den die meisten gar nicht kennen. Auch wenn viele der Schüler nebenbei jobben, ist es für die meisten die erste Besichtigung eines Industriebetriebes. Von 1300 Grad heißen Sintern und Hochöfen ist die Rede, von Material, das aus vielen Ländern der Welt direkt per Schiff in dem kleinen Hafen für das Stahlwerk angelandet wird, und von Fremdfirmenarbeitern, die man schon an ihrer Kleidung erkennt.

Spätestens als Gerhard Wloka, Vorarbeiter und seit 23 Jahren auf der Hütte, wie es auch hier im Bremischen heißt, einen Teil der Schüler abseits des Busses und der befestigten Wege direkt über das Gelände führt, staunen die Schüler nicht schlecht. Wie viele Betriebsunfälle es denn gäbe, will die 19-jährige Tatjana Klegin wissen. Sie ist vor ein paar Jahren mit ihrer Familie aus Russland nach Hamburg übergesiedelt und bringt heute als Zimmermädchen neben der Schule schon 400 Euro nach Hause. Ein anderer möchte die verschiedenen Farben der Helme erklärt haben.

Später haben die Schüler Gelegenheit, mit Mitgliedern des Betriebsrats zu reden. Einer will wissen, wie ArcelorMittal zum Mindestlohn stehe. Ein anderer, wie sich die Konflikte vor der Fusion hier im Betrieb entwickelt hätten. Der Betriebsrat sei gegen die Fusion gewesen, sagt Michael Breidbach: "Schließlich geht es bei Fusionen immer um Synergien und damit auch meist um Arbeitsplatzabbau." Und natürlich darf auch die Frage nicht fehlen, was man denn hier bei ArcelorMittal verdient - auch als Betriebsrat.

"Am Anfang habe ich das Thema und den Kurs eher langweilig gefunden", sagt Tuna Almaz - aber die Gruppenarbeit und die Internetrecherche hätten ihr Spaß gemacht. Und erst recht der Ausflug: "Der war super spannend", sagt die 18-Jährige, deren Ballerina-Schühchen nicht recht zum Stahlwerk passen wollen. "Egal", lacht Tatjana aus Russland, deren weiße Turnschuhe auch schon eher schamottfarben sind, "jetzt habe ich wenigstens einen Grund, mir neue Schuhe zu kaufen."


MEHR INFORMATIONEN

Für das Projekt MITBESTIMMUNG IN DER SCHULE hat die Hans-Böckler-Stiftung Schulmaterialien entwickelt. Erschienen sind zwei Broschüren, eine 2006 zur -"Mitbestimmung in Europa" am Beispiel von Opel/GM, die zweite Mitte 2007 über "Mitbestimmung im -Zeichen der Globalisierung" (zu bestellen bei mail@setzkasten.de). Im ersten Kurs haben sich rund 500 Schüler der Sekundarstufe I mit Opel auseinandergesetzt, im zweiten Kurs stand die Stahlbranche im Mittelpunkt, der dritte Kurs wird sich an Berufsschüler wenden. Für jede Lerneinheit steht ein eigener, virtueller Lernraum zur Verfügung, der nach Abschluss der jeweiligen Unterrichtseinheit allgemein zugänglich ist. Infos im Internet unter: http://www.schule-und-mitbestimmung.de/; http://mitbestimmung.meine-lernwelt.de/

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