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Magazin Mitbestimmung

: Verschiedene Welten

Ausgabe 05/2004

Noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg schwankte das Verhältnis der Gewerkschaften zur Wissenschaft zwischen Skepsis und kritiklosem Vernunftglauben. Erst in den 70er Jahren entstand eine offenere, an inhaltlichen Fragen orientierte Kooperation.

Von Gerhard Leminsky
Dr. Leminsky war von 1980 bis 1993 Geschäftsführer der Hans-Böckler-Stiftung.

Am 4. Januar 1960 kam ich als frisch gebackener Volkswirt von der Universität Hamburg in die Düsseldorfer Außenstelle des Wirtschaftswissenschaftlichen Institutes (WWI) des DGB. Meine Aufgabe war, an einem Forschungsprojekt mitzuarbeiten, das verschiedene Ideologiesysteme - den Neoliberalismus, die katholische Soziallehre, die evangelische Sozialethik, den freiheitlichen Sozialismus und den Neomarxismus auf ihre Bedeutung für den Meinungsstreit um die Mitbestimmung untersuchte. Es wurde von der Stiftung Mitbestimmung gefördert, wenn es auch nicht von ihr initiiert war, und sollte auf viele Jahre ihr größter Forschungsauftrag bleiben. Verantwortlich für das Projekt war Otto Kunze, der Justitiar des Gewerkschaftsbundes und ein enger Vertrauter des DGB-Vorsitzenden Willi Richter. Ein Beraterkreis, der überwiegend mit Hochschulprofessoren besetzt war, betreute es.

Newcomer hatten es im WWI nicht leicht - es gab keine Einarbeitungszeit oder Orientierungshilfen. Wer für einen bestimmten Bereich zuständig war, der musste ihn sofort nach innen und außen vertreten. Andererseits bot die Arbeit aber auch Möglichkeiten für eigene Initiativen. Schon als Praktikant konnte ich an Veranstaltungen teilnehmen, die Vertreter von Unternehmen nur auf Beschluss des Vorstandes besuchen durften. Diese Freiheit endete allerdings bei tagespolitischen Fragen, etwa bei Tarifbewegungen. An harschen Telefonanrufen merkte man dann sehr schnell, wo die Grenze zwischen wissenschaftlichen Diskussionen und politischen Auseinandersetzungen verlief. Vor allem die IG Metall war da sehr empfindlich.

Die Gewerkschaften dachten noch stark in den Kategorien ihrer Organisation, weniger in denen einer Bewegung. Mitte der 60er Jahre hatte ich einen Aufsatz zur überbetrieblichen Mitbestimmung veröffentlicht, in dem ich vorsichtige Kritik am Konzept der Wirtschafts- und Sozialräte - überbetrieblichen Mitbestimmungsorganen - übte. Danach bekam ich einen Anruf aus dem Sekretariat Wilhelm Haferkamps, der beim DGB für Wirtschaftspolitik zuständig war, mit der Bitte, mich zu einem bestimmten Termin bei ihm einzufinden. Nach einiger Wartezeit empfing er mich mit den Worten: "Du hast einen Artikel gegen die Wirtschafts- und Sozialräte veröffentlicht, das ist mein Zuständigkeitsbereich. Was hast du gegen mich?” An einer inhaltlichen Diskussion war er nicht interessiert. Dabei war sein Verhalten nicht außergewöhnlich - es war typisch für die Kultur, die damals im DGB herrschte.

Wissenschaft - eine Frage der Vernunft?

Zur Wissenschaft hatte man ein ambivalentes Verhältnis, denn aus ihrer Fachsprache konnte man oft nicht herauslesen, was ihre Ergebnisse praktisch bedeuten konnten. So mancher hielt daher misstrauisch Abstand. Neben dieser Skepsis traf man aber auch auf das genaue Gegenteil - auf ein kritikloses, fast unbegrenztes Vertrauen in die Wissenschaft. Als ich Mitte der 60er Jahre als junger Wissenschaftler in den Diensten des WWI stand, hat es mich tief berührt, wie stolz ergraute Funktionäre und Betriebsräte darauf waren, dass einer der Ihrigen ein Studium absolviert hatte und sie nun beraten würde. Endlich konnte man, wie sie hofften, den Verbänden oder den Arbeitgebern einen Experten präsentieren, den sie bei Fachfragen nicht mehr über den Tisch ziehen konnten. "Wissen ist Macht” - dieser Gedanke war ein Gedanke der Zeit - dabei legte man durchaus auch großen Wert auf die äußere Form. Mehrfach beklagten sich Betriebsräte freundschaftlich bei mir, weil ich ohne Schlips bei ihnen erschienen war: "Sollen wir dir einen schenken?” Und wenn ich einmal mit der Straßenbahn oder mit dem Taxi zu ihnen kam, hieß es: "Unsere Leute sollen sich genauso einen Wagen leisten können wie die Experten der Arbeitgeberseite.”

Die hohen Erwartungen an die Wissenschaft habe ich stets als große und schwer zu tragende Verantwortung wahrgenommen - sie trugen die Gefahr der Überschätzung in sich. Ich erinnere mich an einen Ausspruch des DGB-Justitiars, der bei den Beratungen über eine neue Unternehmensverfassung in seinem Juristendeutsch zu uns sagte: "Meine Herren, wir müssen ein Konzept entwickeln, das wissenschaftlich so tragfähig ist, dass kein billig und gerecht Denkender es ablehnen kann.” Die Gegenseite ausschließlich mit Vernunftargumenten zu überzeugen - das freilich war eine Position, die von den realen politischen Machtverhältnissen vollkommen absah. Tatsächlich lebte man ganz gut mit dem Nebeneinander einer scharfen und grundsätzlichen Ablehnung des Systems einerseits und einer in weiten Bereichen pragmatischen und erfolgreichen Politik andererseits.

Die Hauptlinien dieser Politik waren seit Mitte der 50er Jahre vorgezeichnet. Ein führender Gewerkschafter sagte einmal zur mir: "Wir haben doch eine gute Arbeitsteilung. Der DGB ist für die Mai-Reden und die Programmatik zuständig, und wir machen die praktische Politik!” Ein anderer Kollege, den ich darauf ansprach, wie gut man mit den konkreten Ergebnissen der Mitbestimmung bei Stahl und Kohle doch Werbung für den Gedanken der Beteiligung auch außerhalb der Montanindustrie machen könne, lächelte nur vielsagend: "Mit der Mitbestimmung ist es wie mit der Liebe, man macht sie, aber man redet nicht darüber.” Diese Politik war kurzfristig sehr erfolgreich, doch sie führte dazu, dass die Mitglieder für eine Ausweitung der Mitbestimmung nicht wirklich kämpfen wollten, wie es wenige Jahre zuvor noch der Fall gewesen war.

Drei Institutionen, drei Kulturen

Das WWI, die Hans-Böckler-Gesellschaft und die Stiftung Mitbestimmung waren von ganz verschiedenen Kulturen geprägt. Das WWI, das organisatorisch und finanziell dem DGB zugeordnet war, war Anfang der 60er Jahre noch eine Ansammlung meist älterer, stets korrekt gekleideter Wissenschaftler, die sorgfältig auf die Abgrenzung ihrer Arbeitsbereiche achteten. Mehrere von ihnen waren ehemalige Verfolgte des Nazi-Regimes gewesen. Es gebe, so sagte man mir, eine informelle Hierarchie, die sich an den gegenseitigen Anredeformen ablesen lasse: Herr, Herr Kollege, Kollege und Nachname und Anrede mit Vornamen. Die weiblichen Mitarbeiter wurden durchweg gesiezt und mit "Frau” angesprochen. Die Umbenennung des WWI, das bis dahin vor allem mit ökonomisch-statistischen und konjunkturpolitischen Arbeiten befasst war, zum "Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut” (WSI) im Jahre 1971 war nicht nur eine formelle Veränderung. Die ältere Generation trat in den Ruhestand. Junge Leute rückten nach, neue sozialwissenschaftliche und rechtspolitische Fragestellungen gewannen an Bedeutung. Der Umgangston wurde lockerer. Die 68er lehnten die alten hierarchischen Umgangsformen ab, und einige Kolleginnen wehrten sich in ihrem praktischen Verständnis von Emanzipation dagegen, für ihre Referatsleiter weiterhin Kaffee zu kochen.

Informell hatten die WSI-Referenten, vor allem die Juristen, immer gute Kontakte zur Hans-Böckler-Gesellschaft, die vor allem für die praktische Umsetzung der Mitbestimmung - damals gleichbedeutend mit der Montanmitbestimmung - zuständig war. Sie waren auf Informationsveranstaltungen oder bei Beratungen für die Gesellschaft tätig oder publizierten - wie ich selbst - im "Mitbestimmungsgespräch”, der Zeitschrift der Gesellschaft. Die Stiftung Mitbestimmung, Mitte der 50er Jahre gegründet, hatte wiederum einen anderen Charakter. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, aus den Abführungen von "Mitbestimmungsträgern”, also Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsräten und Arbeitsdirektoren aus den Montanunternehmen, Stipendien für Kinder von Arbeitnehmern zu gewähren, die sonst nicht hätten studieren können. Die Stiftung sollte nach ihrer Satzung auch die Untersuchung der rechtlichen und praktischen Probleme der Mitbestimmung fördern. Doch in der Anfangsphase fehlten dafür die Mittel. Erst mit der Übernahme eines Teils der Stipendienzahlungen durch die öffentliche Hand und durch die Ausweitung der Mitbestimmung auf alle Großunternehmen im Jahr 1976 wurde eine breiter angelegte Forschungsförderung möglich.

Eine neue Qualität der Politikberatung

Anfang der 60er Jahre verwalteten der DGB und die Einzelgewerkschaften gewissermaßen ihre programmatischen Besitzstände. Zwar hatte der DGB Gutachten zur undemokratischen Struktur der Industrie- und Handelskammern in Auftrag gegeben, die Ansatzpunkte für politisches Handeln hätten bieten können. Aber diese Ansätze versandeten. Doch als dem 7. Bundeskongress des DGB im Jahre 1966 eine Gruppe von WWI- und DGB-Autoren einen Beitrag über die Diskussion der qualifizierten Mitbestimmung der Arbeitnehmer vorlegte, da wurde dieser Beitrag danach aktualisiert und in vielen Auflagen unter dem Titel "Mitbestimmung - eine Forderung unserer Zeit” veröffentlicht. Der DGB-Vorsitzende Ludwig Rosenberg weist in seinem Vorwort darauf hin, dass damit erstmals die Vorstellungen der Gewerkschaften zur Mitbestimmung auf Unternehmensebene geschlossen dargestellt und begründet wurden. Zur Konkretisierung seiner Vorschläge hat dann der DGB im Jahre 1968 einen Gesetzentwurf über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Großunternehmen und Großkonzernen veröffentlicht. Das WWI war an beiden Ausarbeitungen maßgeblich beteiligt - auch wenn das heute niemand mehr weiß.

In den 70er Jahren beschäftigte uns im Institut die Frage, wie man die Mitbestimmung in der Wirtschaft konkreter gestalten und auf der Ebene des einzelnen Arbeitsplatzes verankern konnte - "Humanisierung der Arbeit” wurde diese Forderung genannt. Erfahrungen in Skandinavien und in England hatten gezeigt, dass sich durch Arbeitsgruppen mehr Selbstbestimmung und zugleich mehr ökonomische Effizienz erreichen ließ. Was heute eine Binsenweisheit ist, war damals höchst umstritten: Die Arbeitgeber und vor allem das mittlere Management lehnten partizipative Konzepte weitgehend ab, und viele Funktionäre und Betriebsräte sahen die Gefahr, dass eine in Arbeitsgruppen zersplitterte Belegschaft die Solidarität der Interessenvertretung schwächen würde. Für sie war das Geld entscheidend - Tarifpolitik musste aus ihrer Sicht "quantifizierbar, kontrollierbar und mobilisierbar” sein - alles andere war in ihren Augen Sozialromantik.

Doch als Hans Matthöfer, damals Forschungsminister im Kabinett Schmidt, ein konkretes Programm zur Humanisierung der Arbeit in der Bundesregierung durchsetzte, gewann er die Gewerkschaften trotz ihrer Vorbehalte zur Mitarbeit. Hier zeigte sich die staatsorientierte Haltung der Gewerkschaften: Nachdem die Regierung beschlossen hatte, ein Programm aufzulegen, fühlten sie sich verpflichtet, kritisch aber konstruktiv an der Sache mitzuarbeiten. Die Restrukturierungsprojekte wurden großenteils in Betrieben der Elektroindustrie durchgeführt und von Arbeits- und Sozialwissenschaftlern umgesetzt. Die Gewerkschaften, vor allem die IG Metall, in deren Organisationsbereich die meisten Projekte fielen, mussten eine Struktur für Information, Kommunikation und für die Abstimmung zwischen den Betriebsräten der betroffenen Betriebe und den im Vorstand zuständigen Abteilungen wie Tarifpolitik, Betriebsverfassung, Arbeitsrecht, Unternehmensmitbestimmung aufbauen. Das WSI hat an der Lösung der konzeptionellen und praktischen Fragen, die dabei auftraten, tatkräftig mitgearbeitet. Nie wieder habe ich mehr Betriebskontakte gehabt als in jener Zeit, die einer ganzen Generation von jungen Sozialwissenschaftlern den Zugang zur empirischen Sozialforschung eröffnete.

Damals hat sich erst eine wirklich moderne und auf inhaltliche Fragen bezogene Kooperation zwischen Wissenschaft und Gewerkschaften entwickelt. In den späteren Jahren ist dann der Ansatz der "Humanisierung der Arbeit” um seinen humanen Teil gekürzt worden: Die Arbeitgeber wollten nur noch Rationalisierung, und die Gewerkschaften setzten vor allem auf die klassische Tarifpolitik. So gerieten die Chancen für eine wirkliche Mitbestimmung am Arbeitsplatz wieder aus dem Blickfeld.

Und doch zeigt die damals geleistete Arbeit, wie wichtig es für die gewerkschaftliche Forschungsförderung ist, Projekte zu unterstützen, die eine mittel- und längerfristige Substanz enthalten. Das WSI hat dazu einen außerordentlich bedeutenden Beitrag geleistet. Leider neigen die Gewerkschaften oft zum umgekehrten Vorgehen: Sie sind auf Einzelfragen ihres Organisationsbereichs fixiert, auf aktuelle und kurzfristige Lösungen, die dann oft in der Tagespolitik untergehen und keine nachhaltigen Wirkungen erzielen.

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