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Magazin Mitbestimmung

: Verblüffend robust

Ausgabe 03/2010

INDUSTRIELLE BEZIEHUNGEN Nach Jahren der Schuldzuweisungen hat die Krise Arbeitgeber und Gewerkschaften zusammengeschweißt. Ist die Sozialpartnerschaft wieder im Kommen? Von Jonas Viering

JONAS VIERING ist Journalist in Berlin

So viel Lob ist ungewohnt. "Verantwortungsvoll" hätten sich die Gewerkschaften in der Wirtschaftskrise gezeigt, verkündete Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt schon vor Monaten. "Sehr vernünftig" hätten sich die Arbeitnehmervertreter in diesen schweren Zeiten verhalten, so pries sie auch der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Zeitarbeit, obwohl Gewerkschaften bekanntlich nicht die größten Freunde der Leiharbeit sind. Als "eindrucksvolles Zeichen gemeinsamen Krisenmanagements" bezeichnete Gesamtmetall-Chef Martin Kannegiesser den Tarifabschluss mit der IG Metall Ende Februar. Und sagte: "Das hat es so noch nie gegeben." Es sind bemerkenswerte Töne.

Tatsächlich waren die Tarifparteien der Metallindustrie schon früh Hand in Hand angetreten, um für das Job rettende Kurzarbeitergeld zu werben. Derzeit machen sie heftig Stimmung für einen weiteren öffentlichen Zuschuss; er soll eine Arbeitszeitverkürzung mit Teillohnausgleich im Rahmen des Tarifvertrags möglich machen, gleichsam ein tarifliches Kurzarbeitergeld. Zugleich hatte IG-Metall-Vorsitzender Berthold Huber sehr früh angekündigt, in der nun beginnenden Tarifrunde werde es nicht um großartige Lohnerhöhungen gehen können - im Mittelpunkt stehe die Sicherung von Arbeitsplätzen. Diese Linie hatte Erfolg. Dass Beschäftigung der Schwerpunkt sein soll, hat auch die IG BCE beschlossen. Nullrunden bedeutet das alles ausdrücklich nicht. Bei den Metallern gibt es Einmalzahlungen und ab April 2011 auch wieder Lohnprozente. Dennoch: Auch diese Ansagen lassen aufmerken.

Zeigt sich hier ein neuer Schulterschluss zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern? Jahrelang gab es öffentlichen Spott über das vermeintlich hoffnungslos altmodische System der deutschen Sozial- und Tarifpartnerschaft. In Zeiten der Globalisierung habe es keine Zukunft. Der Vorsitzende des Bundesverbandes der deutschen Industrie wollte 2003 am liebsten alle Tarifverträge in einem großen Lagerfeuer verbrennen. Nun erweist sich das deutsche System industrieller Beziehungen im weltweiten Wirtschaftskollaps als verblüffend robust. Was passiert da?

ES GEHT UM DIE SUBSTANZ_ Manche kleine Tabelle enthält eine große Botschaft. Umsatz minus 21,6 Prozent steht da, Beschäftigte minus 3,0 Prozent. Das sind die "Veränderungen zum Vorjahr" in der Metallindustrie, "Stand 11/2009". Solche Tabellen schicken heute Gewerkschafter rum, nicht Arbeitgeber. Die Zahlen schwanken, aber die Botschaft ist klar: Bis zu 700 000 Beschäftigte sind in Gefahr. Die bedrohten Arbeitsplätze wurden bislang trotz der Krise erhalten, von beiden Tarifparteien gemeinsam. Das ist es, worum es geht. "Ich würde das nicht Schulterschluss nennen - sondern Zweckgemeinschaft", zeigt sich Peter Donath, Abteilungsleiter Betriebspolitik der IG Metall, lieber vorsichtig. Tatsächlich haben in der Krise beide Seiten, Arbeitgeber wie Gewerkschafter, ein Interesse am Erhalt der Stammbelegschaften in ihren Kernindustrien. Die IG Metall will ihren Mitgliedern die Jobs retten - und die Arbeitgeber wollen das hoch qualifizierte Humankapital nicht von Bord gehen lassen, um gerüstet zu sein für die Zeit nach der Rezession. Eigennutz und Gemeinwohl passen hier einmal erfreulich gut zusammen.

"Die Unternehmen haben aus der Vergangenheit gelernt. Denn sie hatten nach dem letzten großen Personalabbau 2002/2003 im darauffolgenden Aufschwung große Personalprobleme", sagt Donath. Zweitens "schonen Entlassungen nicht unbedingt die Liquidität, weil sie zunächst mal Abfindungen kosten". Ein dritter Faktor sei die Demografie: Das Schrumpfen und Altern der Erwerbsbevölkerung lässt auf Dauer Fachkräftemangel entstehen, weshalb der Erhalt von Lehrstellen und die Übernahme von Azubis wichtig sei - auch aus Sicht der Unternehmen.

Viele Betriebe geraten jetzt aber an ihre Grenzen, räumt der Gewerkschafter Donath offen ein. "Manche Unternehmen haben zwar die Fertigungskosten gut nach unten angepasst, aber die Overheadkosten bleiben und können Firmen erdrücken." Das Abzahlen von Krediten für neue Maschinen, die Kosten für die Gebäude - das alles lastet auf den Betrieben. Etwa im Textilmaschinenbau hatten die Unternehmen schon vor der Krise oft nur vier Prozent Rendite. "Bei einem Auftragsrückgang um die Hälfte sind Reserven rasch aufgezehrt", erklärt Donath. Würde hier die Arbeitszeit weiter verkürzt, sagte er noch vor dem Tarifabschluss, könnten die Einkommensverluste weder allein von den Beschäftigten getragen noch allein von den Arbeitgebern ausgeglichen werden. "Da müssen wir die Schmerzen teilen."

DAS UNTERNEHMERISCH RICHTIGE_ Die Arbeitgeber betonen das Einende. In der Einschätzung der Lage sei man nicht weit auseinander, erklärt Ulrich Brocker, Hauptgeschäftsführer bei Gesamtmetall. Gemeinsam bekomme man Lösungen hin, "die wir sonst nicht hinbekämen", in den Betrieben und gegenüber der Politik. Auch Brocker macht nicht auf Harmonie: "Unternehmen versuchen nicht aus Nettigkeit, ihre Beschäftigten zu halten, sondern weil es unternehmerisch richtig ist." Ein offener Satz, und diese Offenheit zeichnet auf beiden Seiten die neue Gemeinsamkeit aus. Dabei geht es um Krisenmanagement - und um mehr als das. Wenn Gewerkschaften und Arbeitgeber in der Not Gestaltungsfähigkeit zeigen, sagt Brocker, dann beweisen sie, "dass die Tarifpartnerschaft keine Schönwetterveranstaltung ist". So festigen beide Seiten ihre ins Bröckeln geratene politische Legitimität. Brocker jedenfalls beobachtet einen Umschwung: "Es gibt im Land vielleicht eine neue Wertschätzung der Tarifpartner und ihrer Regelungsfähigkeit." Das findet er gut.

Aber ist das alles wirklich neu? Ja und nein, sagen die Wissenschaftler. In der Krise trete ein altbekanntes Phänomen bloß deutlicher hervor, meint der Industriesoziologe Walther Müller-Jentsch: "Das Verhältnis von Arbeitgebern und Gewerkschaft als Konfliktpartnerschaft." Beide Seiten eint das Interesse an stabilen Regelungsverfahren, über den Inhalt der Regelungen aber wird gestritten. Durchaus neu jedoch ist die Einigkeit auf beiden Seiten, dass die Stammbelegschaft "um fast jeden Preis gehalten werden soll", sagt Arbeitsforscher Hartmut Seifert, bis Anfang 2009 Leiter des WSI der Hans-Böckler-Stiftung. Dies unterscheidet die aktuelle Krise von jener vor zehn Jahren. "‚Die Arbeitskosten sind das Problem‘, behaupteten damals Unternehmen und nicht wenige Politiker und Wissenschaftler", erklärt Seifert. Heute ist klar, dass die unzureichend regulierten Finanzmärkte das Desaster ausgelöst haben. "Die Ursachen der Krise werden anders erklärt, und deshalb wird auch mit den Folgen anders umgegangen", so Seifert. Dabei sei die Verringerung der Arbeitszeit "zum beschäftigungspolitischen Retter geworden". Das sähen auch viele Unternehmer so, "die noch vor wenigen Jahren jedwede Arbeitszeitverkürzung für schädlich hielten".

Der deutsche Arbeitsmarkt beweist, dass er flexibler ist als sein Ruf. Aufseiten der Beschäftigten - aber nicht nur dort. "Etwa bei Daimler werden die Arbeitszeitkonten teils bis ins Minus gezogen", berichtet Seifert. Das Unternehmen tritt in Vorleistung und zahlt mehr, als es der erbrachten Arbeit entspricht.

"Eine neue Form des Pragmatismus" macht Arbeitsrechtler Volker Rieble bei der IG Metall aus - er leitet das ZAAR an der Uni München, das von Arbeitgeberverbänden mitfinanziert wird. Beide Tarifpartner agieren derzeit sehr vorsichtig, hat Rieble beobachtet. Denn ein überhöhter Tarifabschluss könnte "überproportional viele Arbeitsplätze kosten, wenn die Unternehmen das Gefühl bekommen, dass ihre Vorleistung nicht anerkannt wird - und dann frustrierte Entscheidungen treffen". Zugleich "denkt die kluge IG Metall nicht mit Quartalshorizont" - denn wenn sie viele Jobs, und damit Vollbeitragszahler, durch die Krise hindurch rettet, steht sie danach stärker da. Die IG Metall, sagt Rieble, bleibe "machtbewusst wie eh und je".

Was vereinzelt als Kuschelkurs verspottet wird, ist von harten Interessen getrieben. Die aber sind im Zweifel verlässlicher als hehre Werte. Der Schulterschluss hat gute Gründe.

ZULASTEN VON DRITTEN?_ Wenn zwei sich zusammentun, um bei einem Dritten Geld abzuholen, so kann das Argwohn wecken. Ist es eine Interessendurchsetzung zulasten des Staates, wenn IG Metall und Gesamtmetall gemeinsam Unterstützung fordern beim Kurzarbeitergeld wie nun auch bei einer Verkürzung der Arbeitszeit im Rahmen des Tarifvertrags zur Beschäftigungssicherung? Nein, sagt Markus Promberger vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg. "Das lohnt sich - kurzfristig für den Arbeitnehmer, der seinen Job behält, langfristig für den Betrieb und auch die Sozialkassen." Massenarbeitslosigkeit sei auf Dauer die teuerste Lösung. Und sie bedroht den Zusammenhalt der Gesellschaft, betont der Soziologe Müller-Jentsch. Auch deshalb habe der Staat hier ein Interesse an Stabilisierung, selbst wenn die viel kostet.

Doch das schöne Bild vom Schulterschluss gilt nicht überall. Als die IG Metall vor ihrer Tarifrunde 2010 die Parole ausgab, es gehe vor allem um Beschäftigungssicherung, äußerte ver.di-Chef Frank Bsirske sich deutlich anders. Lohnverzicht sei der falsche Weg, betonte er. Einen solchen hatten zwar auch die Metaller nicht angekündigt, dennoch war klar: Die Standpunkte unterscheiden sich.

Dies hat durchaus ökonomische Gründe. Zum einen hat der Reallohnverzicht der vergangenen Jahre vor allem in den Dienstleistungsjobs stattgefunden. Nicht nur die Entwicklung der Entgelte war hier im Durchschnitt schlechter, sondern diese sind auch in Euro und Cent deutlich geringer. Was bedeutet: Hier ist einfach weniger Masse vorhanden als in der Metallindustrie, wovon sich noch etwas abzwacken ließe, und sei es zur Beschäftigungssicherung. Zum anderen ist die Wirtschaftskrise vor allem eine Krise der Industrie. Die exportorientierten Unternehmen des Maschinenbaus und der Automobilindustrie sind besonders hart getroffen. Weshalb hier die Beschäftigungssicherung weit drängender ist als in den Dienstleistungsbranchen.

Reinigungskräfte oder Wachschützer sind, das ist ein weiterer Faktor, meist schlecht ausgebildet. Auch im Einzelhandel wächst der Anteil Angelernter. "Die Gewinnspannen sind klein, die Bereitschaft zu Investitionen ins Personal ist gering", sagt Seifert. In aller Härte: Das Humankapital ist weniger wert. Während ein Maschinenbauer auf die über Jahre hinweg aufgebaute Qualifikation seiner Mitarbeiter angewiesen ist, sind für so manche Dienstleistungsfirma die Beschäftigten austauschbar. "Das macht Verhandlungen auf gleicher Augenhöhe schwierig", erklärt Wolfgang Uellenberg, Bereichsleiter Politik und Planung in der ver.di-Bundesverwaltung. Zudem hat ver.di es mit einer Vielzahl von Branchen zu tun und innerhalb dieser teils auch noch mit einer zersplitterten Szene von Arbeitgebern. "Im Handel reicht das von Rewe, wo ein Mindestlohn befürwortet wird, bis zu Ausbeuterkonzernen wie Schlecker", sagt Uellenberg. "Das macht den großen Schulterschluss von vornherein unmöglich."

Auch die Arbeitgeber sehen noch kein Zusammenrücken. "Die Gesprächskultur ist nicht in der Form entwickelt" wie in der Industrie, bedauert Heribert Jöris, Geschäftsführer des Hauptverbandes des deutschen Einzelhandels. Verhandlungen im Handel würden dezentral geführt, das mache die Sache nicht einfacher. Immerhin finde jetzt "ein Entwicklungsprozess hin zu einer Verbesserung des Dialoges statt", etwa zur gemeinsamen Reform der Tarifverträge. Und bis zum Frühjahr will der Verband einen Branchenmindestlohn mit der Gewerkschaft aushandeln. Von daher wäre es zu begrüßen, meint Jöris ausdrücklich, wenn trotz aller Streitpunkte beide Tarifparteien "irgendwann einmal gemeinsam" die Interessen der Branche "formulieren und gegenüber der Politik durchsetzen". So wie die Metaller und die Chemiebranche es tun.

Im Moment sind viele Arbeitgeber und Arbeitnehmer auch vereint im Ärger über die Banken, die bei der Bewältigung der von ihnen ausgelösten Krise mit Krediten knausern. Doch was wird danach sein? Das ist so offen wie die Stimmenvielfalt groß ist. Kann der Schulterschluss von Dauer sein? "Ja, aber wenn die wirtschaftliche Situation sich bessert, wird auch der Ruf nach deutlich höheren Löhnen wieder laut", antwortet Müller-Jentsch. "Unsere Verhandlungsbeziehung ist auf Dauer angelegt", betont Brocker vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall.

"Wenn die Konjunktur anzieht, findet die Zweckgemeinschaft vermutlich ihr natürliches Ende", meint der Gewerkschafter Donath. "Es kann sich Vertrauen über den Tag hinaus entwickeln, wenn beide Seiten merken, dass sie aus der Kooperation mehr Nutzen ziehen als aus der Konfrontation", sagt der arbeitgebernahe Rechtswissenschaftler Rieble. Mit Betonung auf dem "Wenn".

 

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