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Magazin Mitbestimmung

Das Gespräch führte ANNETTE JENSEN: Thema Digitalisierung: „Sorgen mache ich mir um die Mitbestimmung“

Ausgabe 10/2016

Interview Die Soziologin Sabine Pfeiffer warnt davor, dass Softwareentwickler und Algorithmen die Arbeitsprozesse gestalten und nicht die Arbeitnehmer.

Das Gespräch führte ANNETTE JENSEN

Sabine Pfeiffer, erwarten Sie, dass die Digitalisierung unsere Arbeit grundlegend verändert – oder setzt sie bestehende Trends nur fort?

Mobiles Arbeiten und Entgrenzung von Arbeit sind Phänomene, die in der Arbeitssoziologie seit 15 bis 20 Jahren beobachtet werden. Das Ganze bekommt jetzt einen neuen starken Schub, weil Geräte mobiler geworden sind und die Infrastruktur es ermöglicht, sich von außen in interne Unternehmensnetze einzuklinken. So kommt zur Flexibilität der Arbeitszeit zunehmend die Flexibilität des Arbeitsortes hinzu – was an manchen Stellen neue Freiheiten bringt, aber keineswegs eine Garantie ist für eine bessere Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf bedeutet.

Wie beurteilen Sie die neuen Kontrollmöglichkeiten?

Da sehe ich ganz neue Dimensionen. Bis jetzt hat der Betriebsrat bei Einführung einer neuen Technik darauf geachtet, ob personenbezogene Daten aufgezeichnet werden – und wenn ja, wie deren Nutzung technisch ausgeschlossen werden kann. So einfach wird es in Zukunft nicht mehr sein. Unter dem Stichwort Internet der Dinge fallen in der Produktion, im Einzelhandel oder in der Logistik große Mengen an Daten an, die den Informations- und Materialfluss koordinieren sollen. Sie werden erst einmal nicht dazu generiert, um die dort arbeitenden Personen zu kontrollieren.

Worin sehen Sie dann die Risiken?

Im Verpackungsbereich wird es beispielsweise kleine Roboter geben, die nah an die Menschen im Arbeitsprozess heranrücken und deshalb mit viel Sensorik ausgestattet sein müssen. Das heißt aber auch, dass vieles automatisch aufgezeichnet wird über die Person, die zuarbeitet. Die Maschinen benötigen diese Daten, um zu funktionieren – und zugleich lassen sie Rückschlüsse über die Beschäftigten zu. Auch digitale, körpernahe Werkzeuge werden sich ausbreiten. Etwa intelligente Arbeitshandschuhe, die dafür entwickelt wurden, komplexe Montagetätigkeiten zu unterstützen und die signalisieren, wenn jemand in die falsche Schraubenkiste greift. Es ist aber ein Leichtes und kostet fast nichts, wenn man mit diesem Handschuh auch die Pulsfrequenz aufzeichnet.

Warum kann ein Betriebsrat nicht wie bisher dafür sorgen, dass die Daten nicht zur Kontrolle der Beschäftigten missbraucht werden?

Wenn es einen Betriebsrat gibt, kann er oder sie dafür sorgen, dass das ausgeschlossen ist. Aber es gibt nicht überall Betriebsräte, und es geht künftig auch nicht mehr nur um die Verhinderung des Missbrauchs von personalisierten Daten. Da entstehen auch Metadaten. Wenn beispielsweise in einem Krankenhaus mit Dreischichtsystem solche Handschuhe zum Desinfizieren eingesetzt werden, lassen sich nach drei Monaten anhand der Pulsdaten und der Schichtzusammensetzung Muster erkennen. Da entstehen ganz neue Möglichkeiten für Arbeitgeber, aber auch für Dienstleistungsanbieter. Ich fürchte, dass wir auf Zeiten zusteuern, in denen sich so etwas betrieblich nur noch bedingt kontrollieren lässt.

Wo liegt dann der politische Hebel?

Die EU lässt zu, dass Daten verkauft und zu ganz anderen Zwecken benutzt werden können. Schon heute höre ich von vielen Betriebsräten, dass sie kaum noch hinterherkommen, weil bei jedem Update neue Funktionen und damit auch mögliche Hintertüren entstehen. Wenn man sich vorstellt, dass bald jede Lampe, jede Tür und jede Schublade Daten sendet und empfängt – und darauf steuern wir ja zu – wie soll da ein Betriebsrat technisch und juristisch alles noch nachvollziehen können?

In welchen Branchen sehen Sie die größten Gefahren für die Arbeitsplätze?

In Deutschland ist die Industrie-Produktion schon hochgradig automatisiert; beschäftigungsmäßig erwarte ich da keine großen Einbrüche. Wegfallen werden dagegen vor allem einfache Bürotätigkeiten, menschliche Tätigkeiten werden durch Algorithmen ersetzt. Zum Beispiel bei Haftpflichtfällen in Versicherungen: Die Abläufe sind heute schon hoch standardisiert, aber einige Daten müssen die Beschäftigten noch manuell eingegeben, und an bestimmten Stellen haben sie auch noch Entscheidungsspielräume. Noch entscheiden Menschen, ob eine Versicherungsprämie ausgezahlt oder ob ein Gutachter eingeschaltet wird. In Zukunft werden Algorithmen solche Entscheidungen anbahnen oder sogar treffen. Das hat nichts mit künstlicher Intelligenz zu tun, sondern aus den Daten der Versicherungsfälle der vergangenen zehn Jahre wird das naheliegendste Vorgehen abgeleitet und dann autonom die Entscheidung gefällt.

Müssen wir uns auf erhebliche Jobverluste einstellen?

Viele Arbeitsplätze werden von solchen Entwicklungen betroffen sein. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass alle Personen aus diesem Bereich in der Arbeitslosigkeit landen. Die Unternehmen werden einen hochkomplexen Organisationswandel erleben, und dabei entstehen mit Sicherheit auch neue Tätigkeitsfelder.

Wo sehen die größten Gefahren für die Arbeitnehmerseite?

Am meisten Sorgen mache ich mir darüber, dass es in frühen Entwicklungsphasen keine Mitbestimmungsprozesse gibt, da aber werden die Weichen gestellt. Irgendwelche Softwareentwickler kreieren Algorithmen nach welchen Kriterien auch immer – und der Anbieter dieser Software wird sie nie preisgeben, weil sein Geschäft auf diesem Betriebsgeheimnis basiert. Wenn nun ein Unternehmen diese Technik  einkauft, kann dessen Betriebsrat zwar dafür sorgen, dass bestimmte Funktionen nicht freigeschaltet werden – wenn es denn einen Betriebsrat gibt. Aber wie der Algorithmus funktioniert, weiß er nicht, geschweige denn, dass er daran etwas ändern kann.

Da sind Machtbeziehungen einprogrammiert – manchmal gezielt, manchmal als Nebeneffekt – aber sie legen Prozesse und Nutzungsweisen fest. Wir bräuchten für so etwas eigentlich Transparenz und gesellschaftliche Mitbestimmung. Wenn das alles Open Source wäre, hätten wir diese Probleme nicht.

Wie wirken sich solche einprogrammierten Machtbeziehungen konkret aus?

Im Kreditgewerbe lässt sich das bereits klar sehen. Die Schufa ist ein privatwirtschaftliches Unternehmen – keine Behörde – und entscheidet auf Grundlage nur ihr bekannter Algorithmen darüber, wie kreditwürdig jemand ist. Allein die Tatsache, in welcher Straße ich wohne, kann von zentraler Bedeutung sein. Solche Strukturen werden sich ausweiten. Wir haben keine Modelle dafür, wie wir hier demokratische Mitsprache und betriebliche Mitbestimmung organisieren können.

Abgesehen von mehr Flexi bei Arbeitszeit und –ort: welche Chancen sehen Sie für Beschäftigte und wie können Gewerkschaften die befördern?

Bisher läuft die Debatte viel zu technikzentriert. Vielleicht sollte man sich stärker auf positive Visionen und Gestaltungsmöglichkeiten fokussieren. Bei neuen digitalen Geschäftsmodellen stehen immer die Konsumenten im Zentrum, und es gibt viele kreative Methoden um herauszufinden, was sie gerne hätten. Warum nicht diese Methoden auch für die ganz normalen Beschäftigten in den Fabriken oder Pflegestationen nutzbar machen?

Wie stellen Sie sich das konkret vor?

Wir wissen aus medizinischen Daten, dass Menschen, die lange schichtarbeiten, früher krank und multimorbid werden – und das nehmen wir leider in Kauf. Warum nicht mal den 23-jährigen gut verdienenden Nerd mit einer 50-jährigen Montagearbeiterin oder dem Pfleger zusammenbringen, der seit Jahren Schicht arbeitet und einen kaputten Rücken hat? Vielleicht könnten die gemeinsam in innovativen Prozessen überlegen, wie man die ganze tolle Technik zur Gestaltung guter Arbeit einsetzen kann. Um so einen Diskurs in Gang zu bringen, sind Gewerkschaften sehr wichtig. Derartige Ansätze könnten vielleicht sogar viele junge Menschen für Gewerkschaften begeistern, die bisher eher genervt sind, wenn jemand dafür sorgen will, dass sie ihr Smartphone mal ausschalten. Klar ist aber auch: Solche partizipativeren Ansätze können Mitbestimmung ergänzen – nicht ersetzen.

Ist unser System der betrieblichen und schulischen Berufsausbildung ein Auslaufmodell?

Ganz im Gegenteil. In Deutschland werden die meisten hochkomplexen Produkte hergestellt. Für die dafür notwendigen Innovationsprozesse sind produktionstechnologisches Theoriewissen wie auch praktisches Erfahrungswissen unerlässlich. Deshalb wäre es falsch, Akademisierung und berufliche Bildung gegeneinander auszuspielen – beides wird gebraucht. Das staatlich geordnete, sozialpartnerschaftlich ausgehandelte System der Berufsausbildung ist nicht trotz, sondern wegen seiner dreigliedrigen Struktur hochdynamisch und bedarfsorientiert, wie auch internationale Studien belegen.

Nennen Sie uns ein Beispiel?

Nehmen Sie den Beruf des Produktionstechnologen. Die Ausbildungsordnung von 2009 liest sich wie die für eine Fachkraft für Industrie 4.0. Solche neuen Berufsbilder reagieren nicht nur auf technische Anforderungen, sondern auch auf die zunehmend wichtige Selbstorganisation von Arbeitsteams. Gebraucht wird dafür ein komplexes Bündel an informellen und habituellen Fähigkeiten – und Betriebe sind ein fruchtbares Umfeld, um genau solche Fähigkeiten zu entwickeln.

Fotos: Maik Rositzki

WEITERE INFORMATIONEN

Zur Person

Die gelernte Werkzeugmacherin Sabine Pfeiffer (Jahrgang 1966) ist heute Professorin für Soziologie an der Universität Hohenheim. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Zusammenhang Mensch, Arbeit, Technik und Organisation. Die ehemalige HBS-Stipendiatin Pfeiffer ist Vertrauensdozentin und war an mehreren HBS-Projekten beteiligt, so an „Betrieb lernen“ und „Arbeit 2.0 – Neue Anforderungen an Beschäftigte und ihre Interessenvertretungen im Umgang mit Social Media”

Mehr Informationen finden sich auf ihrer Website.

Digitalisierungskongress in Berlin: Arbeit und Gesellschaft 4.0: Mitbestimmen, Mitgestalten!

Referentinnen und Referenten aus Wissenschaft, Politik, Betrieben, Verwaltungen und der Netzcommunity diskutierten gemeinsam Fragen wie: „Wie kann die Digitalisierung für gute Arbeit und gute Dienstleistungen genutzt werden?“

Den Kongress veranstaltete die Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di). Die Dokumentation der Veranstaltung findet sich hier.

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